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Donnerstag, 7. März 2024

Hybride Monstrositäten: Nicolas Novas "Bestiarium des Anthropozäns"

Nicolas Nova & Disnovation.org: "Ein Bestiarium des Athropozäns" mit zahlreichen Illustrationen, aus dem Englischen übersetzt von Dieter Fuchs, Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2023, 248 Seiten, 28 €

Es ist nicht nur der zur Jagd auf Drohnen abgerichtete Adler, es es sind viele Beispiele für hybride Mineralien, Tiere, Pflanzen, Pilze und "Gebrauchsgegenstände", die der Autor und Wissenschaftler Nicolas Nova mit dem Künstlerinnenkollektiv DISNOVA.org für den speziellen Fußabdruck der Menschheit zusammengetragen und in diesem Buch beschrieben hat. Das Anthropozän ist laut WIKIPEDIA das "Zeitalter, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist". In der Tat leben wir etwa seit dem Beginn des Industriezeitalters in einer hybriden Welt, in der Organisches und Synthetisches vielfach eine Einheit bilden. Der Einfluss des Menschen auf die Biosphäre ist allgegenwärtig, ja global, und geologisch nachweisbar. Herbert Simon schrieb 1990 in "Die Wissenschaften des Künstlichen": Ein Wald kann eine Naturerscheinung sein - ein Bauernhof ist sicherlich keine. Gerade die Spezies, von denen der Mensch in puncto Ernährung abhängt, sein Getreide und sein Vieh, sind Artefakte seiner Erfindungskraft. Ein gepflügtes Feld ist nicht in größerem Maße Teil der Natur als eine asphaltierte Straße - aber auch nicht in geringerem". Es gibt nur bisher kaum ein Bewusstsein davon.

Aus den zahllosen Beispielen für die "Fußabdrücke", mit denen der Mensch spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg die Welt prägt, versucht das "Bestiarium" eine vorsichtige Klassifizierung in vier Naturreiche: Zum Naturreich der Mineralien gehören etwa künstliche Riffe, neuerdings Häuser aus dem 3-D-Drucker, Betonbauwerke wie die Küstentetrapoden, die als Wellenbrecher dienen, oder die berühmten "Drachenzähne", die von Hitlers Westwall bis zur Ukraine Panzer aufhalten sollen. Künstliche Berge und Seen gehören ebenso dazu wie Hühnerknochen von Fleischhähnchen aus der Massentierhaltung, die sich von ihren natürlichen Verwandten derart unterscheiden, dass sie als Epochenmerkmal taugen.

Einige der spaktakulärsten Hybridformen in dieser Sammlung sind Bergwerks-Kanarienvögel und verschiedene andere Sensortiere. Vögel oder Einsiedlerkrebse gehörn dazu, die ihre Nester aus Plastik bauen, Spinnenseide, Mikroplastik in den Mägen verendeter Meerestiere sowie Spionagetiere mit Kameras und dergleichen. So tragen Albatrosse und verschiedene Zugvögel Satellitensender zur umfangreichen Sammlung wissenschaftlicher Daten über Vogelzug, Ernährungsverhalten, die Haltbarkeit von Partnerschaften etc. Geschützte Wölfe, Luchse, Elefanten und Nashörner, aber auch Raubtiere in Reservaten und Naturschutzgebieten geben auf diese Weise Auskunft über ihre Wanderungen und Reviergrößen. Das Wissen über die Natur und die Verträglichkeit von Tier und Mensch ist dank solcher Hilfsmittel schier unendlich gewachsen. Der bereits erwähnte Drohnen fangende Adler oder diverse Spürhunde gehören ebenfalls hierher. Für erfolgereiche Minen-Spürhunde, die ein Bein verloren hatten, wurden sogar schon Prothesen angefertigt. Aber auch "Rollator"-Wägelchen für gelähmte bzw. amputierte Hunde und Katzen sind relativ bekannt.

Frappierend auch, was sich im Kapitel über das Naturreich der Pflanzen findet: Würfelförmig gezüchtete Wassermelonen, die sich gut verpacken, transportieren und auf Märkten stapeln lassen, haben manche Tomatenbauern inspiriert. Kunstblumen und Kunstrasen kennt man schon lange, Stacheldraht auch. Aber gerade darum werden solche Dinge oft gar nicht mehr wahrgenommen. Dass Hecken und Plantagenwälder künstlichen Ursprungs sind, ist klar. Doch wie weit sie die Landschaft verändern, schon weniger. 

Eher Exoten finden sich im "Naturreich der Sonstigen" (wie ich finde, ein ziemlich einfallsloser Titel): Aus radioaktiven Pilzen, die in der Region Tschernobyl wachsen, kann man eine Creme herstellen, die Krebspatienten, Arbeiter in Atomkraftwerken oder Astronauten vor Radioaktivität schützt. Antibiotikaresistente Bakterien gäbe es nicht ohne den massenhaften Einsatz von Antibiotika durch Tierzüchter nicht. Das Corona-Virus Sars Cov 2 wäre ohne menschlichen Einfluss nicht entstanden. Legionellen kommen in der Natur vor, besiedeln aber in gefährlichen Konzentrationen nur von Menschen geschaffene Warmwasserleitungen (Duschköpfe), Speicher, Wasserhähne, Kühltürme von Kraftwerken oder Abflussrohre. "Geimpfte" Wolken und Kunstschnee sind Produkte zur Imitation von fehlendem Regen der Schneefall. Genutzt werden sie von Landwirtshaft und der Tourismus-Industrie in Skigebieten.

Ein abschließendes Kapitel ist grundsätzlichen Betrachtungen gewidmet. Da kann man Essays über Klassifizierung lesen, über Künstlichkeit, rekombinante Gemeingüter oder "anthopogene Landschaften". Das liest sich nicht immer einfach - auch schon rein optisch. Eine kleine Schrift in silbergrau auf schwarzem Papier ist anstrengend für die Augen. Vielleicht sollten Viel- und Schnell-Leser dadurch gebremst werden? Jedenfalls sind Pausen nicht dumm. Das "Bestiarium des Anthropozäns" ist ein kluges, lehrreiches Buch für Naturfreunde und Technikbegeisterte gleichermaßen. Es gibt eine Vorstellung davon, wonach zu suchen und was zu finden wäre, wenn in einer fernen Zukunft einmal Ausgrabungen durch Außerirdische  auf der Erde stattfinden sollten.


Sonntag, 21. Januar 2024

Musikalische Farbenspiele: Bach Schönberg und Bruckner beim SWR Symphonikeorchester

Martin Honeck beim Schlussapplaus
 
Manfred Honeck (geboren 1958 im österreichischen Nenzing), ist in Stuttgart kein Unbekannter. Der gelernte Bratschist begann seine Dirigenten-Karriere 1989 als Assistent von Claudio Abbado in Wien, war von 2007 bis 2011 Generalmusikdirektor der Stuttgarter Oper und ist heute Chefdirigent in Pittsburgh. Dieser Mann, der beim Schlussapplaus zwischen den "langen Kerls" mit den Geigen eher klein wirkt, gehört in der klassischen Musik zu den Großen. Am 18. und 19. Januar dirigierte er in der Liederhalle Stuttgart ein großartiges Abonnement-Konzert mit dem SWR Symphonieorchester.

Den Anfang machte Johann Sebastian Bachs Präludium und Fuge für Orgel BWV 552 in einer Bearbeitung von Arnold Schönberg für großes Orchester und die Sinfonie Nr. 7 E-Dur von Anton Bruckner. Schönbergs Bach-Bearbeitung zeigt nicht nur, wie gut Schönberg auch Wohlklang konnte und die rhythmischen Stärken bei Bach unterstrich. Das 17-Minuten-Stück ist zudem eine eindrucksolle Studie der Instrumentierung, bei der jedes Motiv Bachs durch die verschiedenen Instrumentengruppen wandert und dabei immer neue Klangfarben erzeugt. Die melodisch singende, immer wieder Motive der Volksmusik (etwa Alphörner) aufgreifende siebte Sinfonie Bruckners ist ein Meisterwerk der dynamischen Entwicklung zu monumentalen Crescendi von großer dramatischer Wucht. Hier hört man gut die Herkunft und Nähe des Kirchenorganisten Bruckner zum sakralen Pathos. Er war wie sein evangelischer Kollege Bach triefgläubig und zog gern auch als Symphoniker "alle Register", was mit einem Klangkörper aus über 100 Musikern dramaturgisch gut umsetzbar ist. Das Orchester erwies sich einmal mehr als ebenso routinuert wie souverän - aber durchaus nicht in dickköpfiger Verweigerung des Dirigentenwillens, sondern mit technischer Brillanz, Disziplin und Empathie für die harmoniesüchtige Spätromantik.

Leider saß die "Kritikerin" der Stuttgarter Zeitung auf ihren Ohren und erfand "unpräzise Einsätze", nannte den Paukeneinsatz bei Bach "als Haudrauf-Geräusch interpretiert" und fand bei rund 70 Minuten Bruckner, es "begann schon bald zu langweilen". Man kennt das inzwischen sattsam. Das Blatt hat ein Ideologie-Problem mit dem Öffentlich-rechtlichen Rundfunk als Konkurrenz und versucht sich immer wieder in stellvertretenden Hinrichtungen von Weltklasse-Dirigenten. Die kesse Dame behauptete, Honeck habe das Orchester "von seinen Vorstellungen einfach nicht überzeugen" oder "seine Absichten nicht vermitteln" können. Das ausgesprochen fachkundige Publikum war jedenfalls anderer Meinung. Es reagierte begeistert, es gab sehr lang anhaltenden Applaus, Bravo-Rufe und Standing Ovations.

 

 

Freitag, 12. Januar 2024

Kampf gegen die Gespenster der Erinnerung

Dieter Schlesak: "Das Narbenwahre und die Kunst der Rückkehr". Roman, Pop Verlag Ludwigsburg 2021, 503 Seiten, 29 €
 

"Nichts mehr kann mir passieren, es ist ja schon passiert." Das ist einer der Schlüsselsätze in diesem Roman, der den Erzähler im Schreiben vor dem Verschwinden rettet. Der lebt als "Freigänger" in einer psychiatrischen Anstalt und heißt mit einem abgespaltenen Teil seines Ich, der früher am Leben draußen teilhatte, Michael Terplan. Das Zimmer des Erzählers ist sein Zufluchtsort: leer bis auf das weiß gestrichene Anstaltsbett, Kleiderschrank, Tisch mit dem Laptop und Stuhl. Terplan ist sein wichtigstes Gespenst "aus der Zeit, in der es mich noch gab", das Gespenst seiner Erinnerung. Die anderen sind die Stimmen der Toten, die Terplan als nahe Verwandte und Freunde auf seinem Lebensweg begleitet haben und ihm nun durch den Kopf gehen. "Sie sind da, und wenn sie nicht tot sind, kann auch die Vergangenheit nicht vergangen sein." Die schreibt er auf, jetzt steckt sie in seinem Laptop: Literatur als Selbstvergewisserung, hier wortwörtlich Erinnerungsarbeit. Dabei sucht er das Gespräch mit der Toten und versucht, sich von einem Berg aus der eigenen schmerzlichen Biografie zu befreien, ein quälendes Gewicht von Geschichte, Traditionen, Begrifflichkeiten und ideologischen Verstickungen seines Elternhauses in Krieg und Deutschtümelei unter den Siebenbürger Sachsen.

Mehr als einmal ist dem Erzähler sein Leben um die Ohren geflogen, hat er alles verloren bzw. wurde ihm alles genommen - bis hin zur Identität. Die steckt jetzt nur noch und einzig in seinem Laptop, und den nehmen sie ihm auch in der Anstalt nicht weg. Es ist schwer (und zwar mit Absicht), zwischen Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden. Er fürchtet den Tod nicht, weil er die Wiedervereinigung mit all den Toten bedeutet, die er vermisst, sozusagen die einzige Möglichkeit der Heimkehr eines Unbehausten. Er fürchtet jedoch die angekündigten Elektroschocks, die ihn seines Gedächtnisses berauben werden - dagegen schreibt er an. Daher kehren auch autobiographisch geprägte Szenen immer wieder, die seine Leser schon aus den  Romanen "Vaterlandstage" (1986) und "TranssylWAHNien" (2014) kennen.

Dieter Schlesak wurde 1934 in Schäßburg/Rumänien geboren und starb 2019 im italienischen Camaiore. Nach dem Studium der Germanistik in Bukarest arbeitete er als Redakteur bei der deutschsrachigen Zeitschrift Neue Literatur und trat bald als Autor hervor. 1968 erschien sein erster Lyrikband im Bukarester Literaturverlag. 1969 emigrierte er nach Deutschland. Das Ost-West-Trauma und der Kulturschock des Wechsels vom Balkan nach Mitteleuropa beherrschten von da an sein Schreiben und Leben. Zahlreiche Auszeichnungen konnten daran nichts ändern. Um nur die wichtigsten zu erwähnen: 1980 der Andreas-Gryphius-Preis, 1993 der Nikolaus-Lenau-Preis, 2005 die Ehrendoktorwürde der Universität Bukarest.

Der Erzähler ist oft weggetreten, also in Gedanken, "also gar nicht da". Das passiert zwar den meisten, aber die Leute sagen, er sei krank. Seinen Pfleger findet er nett - ein komischer Kauz, ganz wie auch die Irrenärzte. "Ich glaube, die sind verrückter als wir." Er hat einen neuen Freund in der Anstalt namens Ritter Edler - "ein Schweizer, der aber viel in der Welt herumgekommen ist; er ist wegen einer bizarren Liebesgeschichte mit einer Lehrerin hier, er nennt sie die Weltglücksfrau, die ihm den Verstand geraubt hat, nicht aber die Vernunft und ein Wissen, das täglich in seinen lustigen Sätzen explodiert. Er ist der lebensbejahendste und positivste Mensch, den ich je kennengelernt habe. So wirkt er heilend auf mich."

An Besuchstagen kommen Terplans Frau Jann, sein Sohn Michael, sein Bruder Hannes, seine Schwester Carmen, die Nichten und Neffen, Schwäger und guten Freunde, sogar seine Exfrau Maria, Leserinnen und manchmal Kritiker. Von Schwester Erika hat er feuchte Träume, die sie nachsichtig weglächelt. Der Roman ist keine linear erzählte Geschichte, sondern ein ständiges Hin und Her der Erinnerungen. Manchmal ausgelöst durch konkrete Ereignisse wie Gespräche mit freundlichen Rumänen, die sein Elternhaus in Schäßburg bewohnen, als der Exilant nach Jahrzehnten der Abwesenheit erstmals wieder seine alte Heimat besucht, seine Auswanderung, die Grenzübertritte bei späteren Urlauben, die Besuche der heimatlos gewordenen Mutter und Ehefrau, das Heimweh der Alten. Träume. Friedhofsbesuche. Tagebücher. Behördengänge, Familienfeste. 

Mit so einem Buch wird kein Autor je ferig. Deshalb ist es posthum erschienen. Wenn Rückkehr und Heimkehr der Tod sind, dann bedeutet umgekehrt der Tod die höchste Form der Rückkehr - in die Erinnerung mit all ihren Brüchen, Narben und Wahrheiten.


Donnerstag, 23. November 2023

Das SWR Symphonieorchester Stuttgart feiert Wagner und Bruckner

Das Abonnementkonzert des SWR-Symphonieorchesters Stuttgart am 16./17. November war zwei großen Komponisten gewidmet, für die der großartige Dirigent Marek Janowski als Spezialist gilt: Richard Wagner und Anton Bruckner. Janowski (84), ein kleiner, meist ernst und stets konzentriert wirkender Mann, wurde ihn Warschau geboren und wuchs in Wuppertal bei seiner Mutter auf, wo er Klavier- und Geigenunterricht erhielt. Studiert hat er in Köln bei Wolfgang Sawallisch, und nach Stationen als Korrepetitor und Konzertmeister in Aachen, Köln, Düsseldorf und Hamburg wurde er Generalmusikdirektor in Freiburg. 1976 mit dem Deutschen Schallplattenpreis ausgezeichnet, setzte er seine Karriere in Dortmund, Köln und Berlin sowie als begehrter Gastdirigent fort. seine Gesamteinspielung von Wagners Zyklus "Der Ring des Nibelungen" mit der Staatskapelle Dresden (2004) ist wegweisend. Das Konzert begann mit Wagners Siegfried-Idyll, dem einzigen Instumentalstück des Großmeisters teutonischer Schwulst-Lyrik und Mammut-Opern. Eine prima Einstimmung, die die auch Nicht-Wagnerianer ansprechen konnte, gefühlvoll gespielt und mit sparsamer Gestik dirigiert. 

Dann sang die bekannte deutsch-italienische Wagner-Sopranistin Anja Kampe die "Wesendonk-Lieder": ein Star ohne Star-Allüren, in jeder Lage extrem sicher bei Intonation, Textverständlichkeit und Interpretation, trotz einer leichter Erkältung, für deren mögliche Folgen sie sich vorab entschuldigen ließ. Geboren 1968 in Zella-Mehlis in der damaligen DDR, heiratete sie nach der Wende einen Italiener und begann ihre Karriere in Turin. Die "Wesendonk"-Lieder schienen für die dramatische Sopranistin mit dem charmanten Lächlen nur eine leichte Übung der Stimmbänder zu sei, so unangestrengt war ihr Vortrag. Ein Genuss, der leider nach 20 Minuten schon wieder vorüber war.

Nach der Pause dann gab es die Sinfonie Nr. 3 d-Moll von Anton Bruckners (in der endgültigen Fassung von 1889): Das war einfach wunderbar, groß und nuanciert, feinfühlig und wuchtig. Ein Schmankerl hatte das Programmheft noch zu bieten: Ein Scherenschnitt-Porträt von Wagner und Bruckner, eine Karikatur von Otto Böhler (1847 - 1913). Bruckner kannte Wagner und verehrte ihn geradezu katzbuckelnd. Er hat Wagner seine 3. Sinfonie (die mehrfach umgearbeitet wurde) gewidmet. Auf dem sorgfältig kalligraphierten Titelblatt ist zu lesen "dem unerreichbaren, weltberühmten und erhabenen Meister der Dicht- und Tonkunst in tiefer Ehrfurcht". Das Publikum erlebte ein Orchester und einen Dirigenten, die sich trotz knapper Probenzeit blind verstanden. Lang anhaltender Beifall war die Belohnung.

Mittwoch, 1. November 2023

Ein Suhrkamp-Thriller thrillt nicht wirklich

Na ja, Jonathan Moore hat einen sexy Krimi geschrieben, und wenn einem wirklich langweilig ist, mag man ihn lesen: "Poison Artist" (350 S., 16,95 €) hat viel mit Gift und wenig mit Kunst zu tun. Es werden ziemliche Mengen Absinth getrunken und es entpuppt sich eine geheinnisvolle Schöne aus den Bars von San Francisco als Giftmischerin - oder doch nicht? Das Zitat von Stephen King (der ein echt guter Autor ist) auf dem Cover ist wohl kaum mehr als ein PR-Gag. Serienmorde sind zur Zeit Mode, doch nach der dritten "Wachsleiche" konnte ich zeitweise das Gähnen kaum unterdrücken. Der Leser erfährt viel über die Arbeit eines forensischen Toxikologen und wenig über die Motive bzw. die Vorgehensweise des Killers/der Killerin. Absonderliche Rituale beim Trinken, für die man ein Spezialbesteck braucht, wirken maniriert. Es gibt unerklärte Rückblenden und die Vermutung, die schöne Emmeline könnte der Geist einer histoischen Figur sein, die in einem merkwürdigen Spukhaus (wieso untersucht das niemand?!) als Porträt an der Wand hängt, aber keine Aufklärung. Was war das für ein merkwürdiger, anscheinend nicht sexueller Missbrauch in der Geschichte dieser Frau, die mit ihrem Vater und als sein mörderisches Instrument (wie das nun?) viele Jahre lang in Papas Auto gelebt und ihr Leben in einer Haftanstalt ausgehaucht hat? Hat sich der Toxikologe am giftigen Absinth um den Verstand gesoffen? Bis auf einige künstlich erzeugte Wachsleichen gibt es kaum Handfestes, kaum einen Plot. Furcht erregen geht anders, vor allem an Halloween.
 

 

 

Samstag, 21. Oktober 2023

Welcher Zeichner will Kinderbuch draus machen?

Ich bin promovierter Katzenretter (eigentlich Kater-Retter, wie mir jetzt auffällt): Schon als Junge habe ich in Salzburg den Nachbarkater Murrli von der Kastanie gerettet, indem ich ihn ins Hemd steckte, weil ich beide Hände für den Abstieg brauchte. Zum Dank hat er mir in Panik hübsch den Bauch zerkratzt. Viele Jahre später kletterte unser schwarzer Siam-Mischling Fiesco alias Bubu aus dem Badezimmerfenster aufs Dach und traute sich nicht zurück. Ich also im 5. Stock todesmutig aus dem Wohnzimmerfenster übers Schneegitter zu Bubu und den Ausreißer übers Kippfenster zurück  ins Bad bugsiert. Gottlob saß er darunter auf dem Gitter und kam nur nicht wieder hoch, weil seine Krallen an dem Dachschindeln abrutschten. Für die Rettungsdecke, die wir zuerst probierten, war er zu doof. Zwei Jahre später inspizierte er gerade die hohe Eiche im Garten und war ganz weit oben, als ein Gewitter aufzog. Ich weiß nicht, was ihm mehr Angst machte, die Höhe oder das Donnergrollen. Gottlob hatte der Nachbar eine lange Leiter, damit konnte ich Bubu (alias Fiesco zu Genua, der Schwarze Othello war schon anderweitig besetzt) sicher bergen. Heute kann ich leider nicht mehr so kraxeln.

Attila lebt in den hohen Bergen von Rauris im Naturpark Hohe Tauern, aber manchmal liebt er es noch einmal höher, weil es ihn irgendwie irgendwo juckt. Dann nimmt er den Apfelbaum meiner Freundin Susanne im Sturm. Doch bald bereut er seinen Drang und maunzt ziemlich jämmerlich. Aber nur manchmal. Meistens schaut er nur angeberisch nach unten, weil große Kater eben keine Angst zeigen, außer sie vergessen es mal. Dann bleibt Frauchen das Herz stehen. Glaubt mir, wenn die Kühe ihre Köpfe schütteln, hat sich Attila ganz schön hoch hinauf gewagt. Erfahrene Katzenretter haben für solche Fälle immer zweierlei bereit: ein Sprungtuch und eine Katzenpsychologin, die dem armen Kater klar machen kann, dass ein mutiger Sprung in dieses ausgebreitete Tuch keine Feigheit ist und seinen Stolz nicht verletzt. Es kann sein, dass die ganze Familie zusammenhelfen muss, damit das Tuch oder die Decke richtig verlockend ausgebeitet wird und nicht auf den Boden kracht, wenn der zarte Attila mit seinen 6 wohlgenährten Kilo Kampfgewicht plötzlich darin landet.

Welchen Illustrator hat Lust und Luft, aus diesen Geschichten ein Kinderbuch zu machen?

Sonntag, 24. September 2023

"Tritt in die Fresse"

So verroht ist also inzwischen die Sprache etablierter Feuilletons, wenn der blanke Hass regiert. Teodor Currentzis, der Chefdirigent des Stuttgarter SWR Symphonieorchesters, ist ein genialer Star, ein umjubelter und beliebter Musiker der Extraklasse. Der Grieche hat aber auch einen russischen Pass und ist politisch umstritten. Vor allem seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine wirft ihm eine kleine, aber lautstarke Gruppe vor, sich nicht ausreichend deutlich gegen Vladimir Putin zu positionieren und öffentlich von dessen Krieg zu distanzieren. Besonders respektlos und aggressiv agiert dabei Moritz Eggert, Präsident des Verbandes deutscher Komponistinnen und Komponisten. Der Mann polarisiert und polemisiert, wo er nur kann. Und zu seinem Sprachrohr hat sich die Stuttgarter Journalistin Susanne Benda gemacht, die für die "Stuttgarter Zeitung" und die "Südeutsche Zeitung" schreibt (die beide dem gleichen Verlegerkonsortium gehören). Hier ist ein spezieller, besonders infamer Populismus  zu beobachten, der immer öfter in die unterste Schublade sprachlicher Verrohung greift. Die Blaupausen dafür liefert der feine Herr Moritz Eggert. Doch niemand zwingt dazu, dessen Entgleisungen auch genüsslich zu übernehmen. Außer, die Herren Verleger wollen das so. Man kann ja über Currentzis denken, wie man will. Und einen Krieg zu verurteilen kann doch nicht schlecht sein, oder? Aber so zu reden wie Moritz Eggert, ist undiskutabel und sollte es bleiben: "Zu diesem Krieg zu schweigen, ist ein Tritt in die Fresse von Schostakowitsch, Herr Currentzis!"

"Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten" (Hanns Joachim Friedrichs). Gegen diesen Ehrenkodex ihrer Zunft verstößt Susanne Benda von der "Stuttgarter Zeitung" mit unschöner Regelmäßigkeit, wenn es um den Chefdirigenten des SWR Symphonieorchesters Stuttgart geht. Der zieht es nämlich vor, sich der Kunst zu widmen und nicht dem russophoben Geschrei von Leuten, die die um jeden Preis eine eindeutige Positionierung gegen Vladimir Putin und seinen Krieg fordern - bis hin zur Nötigung und ohne Rücksicht auf die Folgen, die sie ja nicht selbst tragen müssen. Wobei es stets Sache der selbst ernannten Moralwächter bleibt, wie viel Positionierung denn nun genug ist und welche nicht. Es ist meiner Meinung nach besonders perfide, die pöbelnde Wortwahl der untersten Schublade von Eggert als Zitat zu übernehmen, ohne sich zumindest verbal davon zu distanzieren. Ich finde, das erfüllt alle Merkmale einer politisch motivierten Hexenjagd. Denn weder schweigt Currentzis zu diesem Krieg, noch tritt er Schostakowitsch "in die Fresse". Er verehrt ihn vielmehr, das zeigen viele Konzerte der letzten Jahre mehr als deutlich. Der Gossenjargon führender Kulturvertreter gegenüber einem überragenden Künstler, der sich einfach der geforderten Unterwerfung unter bestimmte Formen des Kotau verweigert, bringt solche Leute zur Weißglut. Mit Schaum vor dem Mund lobt Frau Benda den Dirigenten Currentzis in den höchsten Tönen, um dann festzustellen: Die Schere zwischen Politik und Kunst schließt sich bei Currentzis so wenig wie bei Schostakowitsch. Auch wenn sie das gerne anders hätte, sie wird es aushalten müssen. Auch wenn es, mit Verlaub, eine Schande ist, wenn sie so ein wunderbares Konzert zum Podium für ihre Schmutzkampagne herabwürdigt.

Eine großartige Uraufführung erlebte das Publikum nämlich am 22. und 23. September beim ersten Abonnementkonzert des Stuttgarter SWR Symphonieorchesters zum Auftakt neuen Saison in der Liederhalle: "Gospodi Vozvah", eine Psalmodie für Viola und Orchester, großartig und intensiv gespielt von dem französischen Bratschisten Antoine Tamestit. Als Chefdirigent Teodor Currentzis und der Solist den serbischen Komponisten Marko Nikodijevic beim Schlussapplaus auf die Bühne holten, stand er da ein bisschen schüchtern und verloren, sichtlich war ihm so viel Lob und Aufmerksamkeit  fremd. Zur Zeit kenne ich keine ergreifendere Trauernusik auf den Zustand der geschundenen slawischen Seele im Krieg. 

Ganz anders nach der Pause die Sinfonie Nr. 13 B-Moll von Dmitrij Schostrakowitsch (Babi Jar). Die Komposition ist eine Klage über den größten Massenmord an Juden außerhalb der Vernichtungslager. Am 29. und 30. September 1941 erschossen in einer Schlucht bei Kiew deutsche Soldaten und ihre ukrainischen Helfer über 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder. Jewgeni Jewtuschenko beklagte in dem Gedichtzyklus "Babi Jar", dass wegen des latenten Antisemitismus in Russland niemand bereit war, dort auch nur eine Gedenktafel zu errichten. Noch Nikita Chruschtschow wollte diesen Massenmord totschweigen. Die Vertonung der Jewtuschenko-Gedichte durch Dmitrij Schostakowitsch und ihre Uraufführung waren daher auch 1962 noch riskant. Die Texte sangen ein hervorragend einstudierter Estnischer Nationaler Männerchor und als Solist der herausragende russische Bass Alexander Vinogradov. Ein ergreifender dramatischer Abend. Das Publikum bedankte sich mit Bravorufen, stehenden Ovationen und lang anhaltendem, begeistertem Applaus.