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Samstag, 22. Mai 2021

Nur eine Bürgermeisterin? Eine Heldin!


Rita Boulos, Bürgermeisterin des palästinensisch-jüdischen Friedensdorfes Neve Shalom - Wahat al-Salam unweit von Tel AVIV
(14. Mai 2021)
Zunächst: Unsere Bildungseinrichtungen sind heute auf staatliche Anweisung hin geschlossen (s. unsere Facebook-Seite); diese Anweisung gilt für alle von den jüngsten Raketenangriffen
betroffenen Gebiete, bis zu den Vororten von Tel Aviv.
Im Dorf sind wir bislang nicht direkt betroffen. Wir haben Sirenen in benachbarten Orten gehört, doch die Sirene in unserem Dorf ist bisher nicht losgegangen, wir waren also bis jetzt noch nicht in unmittelbarer Gefahr.
Dennoch haben wir auch Angst, weil wir alle liebe Menschen an den betroffenen Orten haben. Meine Mutter und Schwester, mein Bruder und weitere Verwandte leben z. B. in der arabischjüdischen
Stadt Lydda/Lod/Lid, einer der am stärksten betroffenen Städte. In dieser Stadt hat es zivile Unruhen gegeben, in denen ein Palästinenser erschossen wurde, und in der vergangenen Nacht tötete dort eine Rakete aus dem Gazastreifen einen Vater und seine Tochter.
Neben der unmittelbaren Sorge um unsere Lieben sind wir alle im Dorf zornig und traurig über den erneuten Gewaltausbruch. Unsere gesamte Arbeit ist darauf ausgerichtet, die Hoffnung auf
eine bessere, friedlichere, sicherere Zukunft mit Gleichberechtigung für Juden und Palästinenser zu wecken, einerlei, wo sie leben. Jeder Gewaltausbruch zeigt überdeutlich, wie weit entfernt wir noch von einer solchen Zukunft sind. Jeder dieser Ausbrüche zeigt den Zorn
und die Verzweiflung von Menschen, die in einer unerträglichen Situation leben. Er zeigt den Mangel an Betroffenheit und politischem Willen der Führungspersönlichkeiten zu einem
Wandel. Er zeigt schlaglichtartig den Rassismus und den Hass, die hier vorherrschen. Wir sind entsetzt darüber, dass unschuldige Menschen, wie die Opfer in Lydda, so oft diejenigen sind, die den Preis bezahlen für diese politischen, erzieherischen und moralischen Fehlschläge.
Die voreingenommene und einseitige Weise, in der über die Ereignisse berichtet wird, verstärkt das Maß an Gewalt und Rachegelüsten noch. In der vergangenen Nacht, als wir die Explosionen hörten und von unseren Balkonen sahen, wie
die Raketen auf Lydda, Ramle und die ganze zentrale Region Israels fielen, musste ich meiner 3-jährigen Enkelin sagen, das sei nur in Feuerwerk. Die Kinder in unserer Grundschule sind zu alt
für solche Geschichten; zugleich sind sie sind zu jung, um [die Situation] zu verstehen. In der Grundschule sprachen die Lehrkräfte deshalb behutsam mit den Kindern, damit die Kinder ihre
Gefühle zum Ausdruck bringen konnten.
Unser Bezirk, zu dem auch einige palästinensisch[-israelisch]e Dörfer gehören, bat Vertreter sämtlicher Gemeinden des Bezirks um ihre Unterschrift unter eine Erklärung, die zu Ruhe zwischen den jüdischen und arabischen Einwohnern aufrief; auch wir haben die Erklärung, trotz einiger Bedenken, unterzeichnet. Im Hintergrund dieser Feuersbrunst spüren wir die Angst
davor, dass die Beziehungen zwischen den jüdischen und den palästinensischen Bürgern in Israel sich verschlechtern, wie es in Jerusalem, in Lydda und an anderen Orten zu beobachten
ist. Viel wird abhängen von der Besonnenheit nicht nur der Bürger sondern auch von der Besonnenheit der Polizei und der Sicherheitskräfte, die ihrerseits wenig sensibel und
ungeschickt agiert haben. Gestern zum Beispiel, als Menschen in Lydda zusammensaßen, um den Tod des dort erschossenen Palästinensers zu betrauern, vertrieb die Polizei die Trauernden
mit Rauchbomben und Blendgranaten.
Die gegenwärtige Gewalt ist das jüngste Ergebnis von bereits lang andauernden schwelenden Spannungen, deren Ausbruch – angesichts einer immer noch fehlenden politischen und
umfassenden Lösung – nicht überrascht. Dennoch verurteilen wir die Gewalt beider Seiten.
Unsere Freunde in aller Welt bitten wir darum, zu einem unmittelbaren Stopp der Gewalt aufzurufen. Obwohl die israelische Seite ihre Kampagne offenbar weiterführen will, muss die
internationale Gemeinschaft Druck auf alle beteiligten Parteien ausüben, um einen Waffenstillstand zustande zu bringen. Ein Waffenstillstand kann unmittelbare weitere Verluste an Leben und weiteres Leid von vielen unschuldigen Menschen verhindern. Er wird weder die nächste Gewaltwelle noch die stetige
Verschlechterung hin zu einer chronisch unhaltbaren Situation verhindern, in der weder Palästinenser noch Israelis hier in Frieden und Sicherheit leben können.
In Wahat al-Salam – Neve Shalom werden wir weiterhin unsere Aufgabe erfüllen, zum Frieden zu erziehen und ein Beispiel zu geben dafür, wie eine miteinander teilende und gleichberechtigte Gesellschaft von jüdischen und palästinensischen Bürgern zusammenleben kann.
Schließlich beten wir darum, dass die Muslime ein friedliches und gesegnetes Eid al-Fitr Fest und die Juden und die Christen ein friedliches und frohes Shavuot- und Pfingstfest begehen
können.
Rita Boulos, Bürgermeisterin von Neve Shalom/Wahat al-Salam
alle Übersetzungen: ©Ulla Philipps-Heck, Denzlingen

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