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Sonntag, 30. Juni 2019

Genie und Arbeit: Currentzis dirigiert Schostakowitsch 7

Fertig, aber glücklich: Currentzis beim Schlussaplaus
Am 27. und 28. Juni dirigierte Teodor Currentzis in der Stuttgarter Liederhalle mit dem SWR-Symphonieorchester die Sinfonie Nr. 7 von Dmitrij Schostakowitsch. Die "Leningrader", das längste und vielleicht größte Werk des Komponisten,  entstand 1940 bis 1942 während der Blockade und Bombardierung der Millionenstadt an der Ostsee durch die deutsche Wehrmacht. Im ersten Satz hört man das Kreischen und Donnern der Bomben und das Heulen der Sirenen während der Luftangriffe. Kaum je habe ich eine so eindrückliche und bewegende Wiedergabe des Krieges durch Musik gehört. Und doch - es ist eben großartige Musik. Als fernes Donnergrollen der Celli und Bass-Oboen wird das durchgehende Eingangsmotiv zu einem ohrenbetäubenden Crescendo mit allem, was die große Orchesterbesetzung zu bieten hat (und das ist weiß Gott nicht wenig!). Es steigert sich aber auch durch das anfangs leise, dann immer martialischere Tönen einer einzelnen Kriegstrommel, deren Rhyrhmus nach und nach alle Instrumentengruppen bis hin zu einem rasenden Furioso aufnehmen. Da hörte man auch das musklaische Erbe von Gustav Mahler, den Schostrakowitsch soi verehrt hat. Das war Musik als Widerstand und als Demonstration, dass die Kunst in der längsten Belagerung der Geschichte mit rund 16.500 Bombentoten und geschätzt einer Million Toten durch Hunger und Seuchen nicht gestorben war, sondern sehr lebendig.
Der stark sehbehinderte Schostakowitsch war nicht wehrtauglich, aber als Künstler und Lehrer am Konservatorium in der Pflicht, den Durchhaltewillen der Roten Armee und der Bewohner zu stärken. Geradezu rührend daher ein Foto im Programmheft, das es damals sogar ins New Yorker TIME Magazine schaffte: Ein gestelltes Bild des Komponisten in der Uniform eines Feuerwehrmanns mit Helm auf dem Dach des Konservatoriums. Im zweiten und dritten Satz (moderato und adagio) wechseln sich Klangbilder der Erschöpfung und der Totenklage ab, langsam und leise von einzelnen Bläser- und Streichergruppen getragen. Der vierte Satz eilt im Marschtempo (allegro non troppo) zum klangmächtigen Finale, das vom Sieg der Roten Armee kündet. Ihn vollendete Schostakowitsch nach der Evakuierung prominenter Einwohner des heutigen St. Petersburg im Frühjahr 1942.
„Ich widme meine Siebente Sinfonie unserem Kampf gegen den Faschismus, unserem unabwendbaren Sieg über den Feind, und Leningrad, meiner Heimatstadt ...“, schrieb Schostakowitsch am 29. März 1942 in der Parteizeitung "Prawda". Ein Triumphmarsch, dessen Tonart von c-Moll nach Dur wechselt. Wie sich zeigte, eroberte die Sinfonie rasch das Herz der Menschen in aller Welt. Anfang März fand die Uraufführung mit dem Orchester des Bolschoi-Theaters in Kuibyschew am Don statt. Auf Mikrofilm wurde die Partitur in die USA geschmuggelt und von Arturo Toscanini  in New York aufgeführt, am 9. August erklang es unter unbeschreiblichen Bedingungen mit überlebenden Musikern des Mariinsky-Theaters in Leningrad.
Warum ich diese Geschichte anlässlich eines Konzertes im Jahr 2019 wieder erzähle? - Weil man sie mithört. Weil das brillant aufspielende Orchester unter einem am Ende erschöpft, aber glücklich wirkenden Chefdirigenten die bildstarken Kontraste zu einer gelungenen Auseinandersetzung mit einem großen Kunstwerk machte. Weil das alles plötzlich so beängstigend aktuell wirkt. Weil die Musiker an jedem Klang geradezu physisch gearbeitet haben, um eine perfekt ausbalancierte Interpretation abzuliefern, in der jeder Takt überzeugt. Weil es einfach ein Glück ist, solche Musik zu hören. Das Publikum bedankte sich für diesen großen Abend mit Standing Ovations und anhaltenden Bravo-Rufen. Das kann kein PR-Hype, das kann nur Kunst, die sich dem Alltag ernthaft stellt und gewachsen zeigt: eine beglückende Symbiose aus genialer Begabung und harter Arbeit.

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