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Freitag, 14. Dezember 2018

Aus Russlands Tiefen: Currentzis dirigiert Schnittke und Tschaikowsky

Teodor Currentzis hat gestern sein zweites Abonnementkonzert mit "seinem" SWR Symphonieorchester gegeben. Der große Beethovensaal der Liederhalle war bis zum letzten Platz ausverkauft, und schon vor dem Konzert war auf der Bühne und im Publikum eine ungewöhnliche Mischung aus Konzentration, Anspannung und freudiger Erwartung zu spüren. Auf dem Programm standen das Konzert für Viola und Orchester von Alfred Schnittke (geboren 1934 in Engels, Hauptstadt der einstigen Republik der Wolgadeutschen in der UdSSR, gestorben 1998 in Hamburg) und nach der Pause die Sinfonie Nr. 5 e-Moll von Peter Tschaikowsky (der 1840 in Komso-Wotkins am Ural geboren wurde und 1893 in St. Petersburg starb). Zu hören war also ein Stück geistiger Heimat des Dirigenten: Musik aus den Tiefen Russlands am Neckar, die doch so deutsch klang wie nur irgend etwas. Vielleicht, weil sie weder das eine noch das andere ist, sondern einfach zur Weltsprache Musik gehört? Vielleicht auch, weil Tschaikowski ein russischer Klassiker ist und Schnittke ein Vertreter der klassischen Moderne. Sicher aber auch wegen einer Gemeinsamkeit, die Melancholie heißt und sich in dunklen Streichergrundierungen ausdrückt.


Schnittke ist nicht mein Lieblingskomponist, aber er verstand sein Handwerk. Viele Geiger lieben ihn. Wundervolle Melodien bilden kleine Inseln in einem wilden Meer aus schrillen, stark rhythmisierten Intervallen und krachenden Tutti. Sein Konzert für Viola und Orchester findet ganz ohne Geigen statt. Ein großartiger Solist für die Kombination aus lyrischen Melodien und ebenso kraftvollen wie endlosen Stakkato-Passagen ist Antoine Tamestit, der eine Stradivari aus dem Jahr 1672 spielt. Der französische Bratschist wurde 1979 geboren und studierte in Paris bei Jean Sulem. In Yale war er Schüler bei Jesse Levine und beim Tokyo String Quartet, bevor er seine Studien bei Tabea Zimmermann in Berlin fortsetzte. Seit dem Jahr 2000 stürmt er die großen internationalen Bühnen als Solist und Kammermusiker - technisch brillant, sehr ausdrucksstark, extrem beweglich und mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht. Ein Abräumer, ein Star, ein Virtuose, der von Bach bis zur zeitgenössischen Musik alles liebt, was gut und schwer ist. Ein großer kleiner Mann, der sich mit dem schlacksigen Maestro blendend verstand.

Als Currentzis sich vor der Pause bei seinen Musikern bedankte, hatte er schon das erste Hemd durchgeschwitzt. Er gibt anscheinend immer 150 Prozent, und das animiert wohl das Orchester, ihm nachzueifern. Die Menschen lieben ihn dafür. Da entsteht also ein Kult, und die Gründe dafür sind hier offen zu besichtigen. Es ist nicht nur diese bedingungslose Hingabe an die Musik, die den Mann auszeichnet, dem der Ruf vorauseilt, ein Asket zu sein, ein Perfektionist, gar ein "Probenmonster". Es ist auch sein unverstelltes Bekenntnis zu Gefühlen, seine Unbedingtheit und seine Fähigkeit, andere zu begeistern. Er strahlt.

Ich habe schon viele Konzerte gehört, aber noch keinen Dirigenten erlebt, der sich beim Publikum dafür bedankt, dass er Musik mit ihm teilen darf - ganz unprätentiös und ohne jedes Gehabe.
So kommt es vor, dass man unversehens unbekannte Ufer betritt (kein "Betreten verboten"!) Bis jetzt hat Currentzis in jedem der drei Konzerte, in denen ich ihn erleben konnte, etwas Besonderes getan, etwas Verrücktes und Schönes. Diesmal war es als Zugabe das Streichquartett Nr. 8 von Dmitri Schostakowitsch im Silcher-Saal, der leider nur gut 300 Plätze hat und längst nicht alle Interessenten fassen konnte. Die Leute standen bei Minusgraden bis auf die Straße, um dabei zu sein (Wir sind zu alt für so ein Gedränge und haben es nicht geschafft). So lockt man die Jungen, die in Scharen kamen und das Durchschnittsalter der Stuttgarter Abonnementkonzerte drastisch gedrückt haben. Sag ich mal so ungeschützt, ganz ohne Umfrage. Von solchen Konzerterlebnissen erzählt man noch seinen Enkeln. Damit lassen sich sogar sibirische Kälte und Depressionen überwinden oder wenigstens ertragen. Sie verehren ihn wie einen Rockstar. Sie bringen ihm Blumen, wie in Russland üblich. Vielleicht will er auch bloß kein sinfonischer Messias sein - und erst recht weder ein Rattenfänger noch ein Rasputin.

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