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Freitag, 8. September 2017

Musikfest Stuttgart: Vom Umgang mit Freiheit

Die Landtagspräsidentin in der Stiftskirche
 "Vom Umgang mit Freiheit" war der Titel der zweiten musikalischen Laienpredigt beim Musikfest Stuttgart. Erst spielte der Hamburger Johannes Fiedler Bach: Präludium und Fuge h-Moll BWV 544, die Sonata BWV 964 d-Moll (1. Grave - 3. Andante) sowie die Chomatische Fantasie d-Moll BWV 903/1 - alles in allem eine halbe Stunde meditative Kirchenmusik. Der mehrfach preisgekrönte junge Organist hat praktisch seine ganze Ausbildung in Baden-Württemberg absolviert, in Stuttgart studiert und in der Stiftskirche Herrenberg seine ersten beruflichen Schritte zum Kantor getan.
Und dann trat eine Frau ans Pult und sprach 15 Minuten  über ihre persönlichen Erfahrungen mit Freiheit und ihren Umgang damit: Muhterem Aras ist eine kurdische Alevitin aus Ostanatolien - "sehr frei" aufgewachsen, und kam mit 12 Jahren als Gastarbeiterkind nach Stuttgart. Unfreiheit lernte sie erst kennen, als sie in die Schule kam und erleben musste, dass staatlich-sunnitische Religionslehrer sie als kurdische Alevitin diskriminierten. "Wenn die eigene Musik und Sprache verboten ist, spürt man das als schweren Eingriff in die persönliche Freiheit", sagte Aras.


Muhterem Aras mit Chefdramaturg Henning Bey und Intendant Gernot Rehrl
Sie erfuhr in Deutschland als Mädchen und junge Frau, der die Eltern stets ein selbstbestimmtes Leben wünschten, wie sehr Freiheit immer mit Verantwortung verbunden ist: Sie durfte keinen Freund haben, heiratete aber mit 20 einen Deutschen, nachdem sie den Eltern klar gemacht hatte, dass sie ihre Ausbildung zur Steuerberaterin beenden und auch finanziell unabhängig sein würde. "Die Finanzierung einer türkischen Hochzeit kann richtig ins Geld gehen", schmunzelte sie.
Heute hat sie zwei Kinder, führ eine eigene Steuerberater-Kanzlei und ist eine der bekanntesten Politikerinnen bei "Bündnis 90 Die Grünen" in Baden-Württemberg. Nach den Pogromen in Hoyerswerda und Rostock war sie starr vor Angst, ging nicht mehr aus und verkroch sich eine Zeitlang. Doch dann setzte sich Entschlossenheit durch: "dieses Land, das auch mein Land ist, lasse ich mir von solchen Rechten nicht wegnehmen!" Sie engagierte sich politisch, weil sie der Gesellaschaft, die ihr so viel Freiheit ermöglicht, etwas zurückgeben will. Seit 1993 ist sie Mitglied bei den Grünen, ab 1999 im Stuttgarter Gemeinderat und seit 2011 als Landtagsabgeordnete. Sie hielt ein flammendes Plädoyer für das deutsche Grundgesetz: "Je mehr ich herumkomme in der Welt, desto mehr liebe ich dieses Land und sein Eintreten für Vielfald, Toleranz, Menschenrechte und Solidarität".
Muhterem Aras hat gelernt, dass man für die Freiheit praktisch jeden Tag kämpfen und die Freiheit der anderen auch dann respektieren muss, wenn es schwer fällt - etwa bei voll verschleierten Frauen auf der Straße. Auch hier und heute, beim Musikfest Stuttgart in der evangelischen Stiftskirche. Dass sie hier sprechen durfte, wollte nicht jedem gefallen. Einzelne Musikfreunde murrten darüber, "dass man am Ende den Beifall für Johann Sebastian Bach mit so jemandem teilen muss". Aber erstens sind auch diese Bruddler ja immerhin gekommen, und zweitens ist "so jemand" seit 2016 Stuttgarter Landtagspräsidentin, die zweithöchste Repräsentantin unseres demokratischen Rechtsstaates. Wäre ja noch schöner, in die Kirche zu gehen und dann Menschen ausgrenzen zu wollen.




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