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Dienstag, 5. September 2017

"Frei, los und ledig": Rademanns Sicht auf Bach

Hans-Christoph Rademann: emotionaler Moment in der Stiftskirche
"Sichten auf Bach III" hieß nüchtern das heutige Mittagskonzert beim Musikfest Stuttgart in der Stiftskirche. Das Datum aber war emotional: Es war auf den Tag genau ein Jahr nach dem ersten Bach-Konzert der "Gaechinger Cantorey" an gleicher Stelle. Chor und Orchester der Bachakademie hat der Dresdner Dirigent Hans-Christoph Rademann seit Beginn seiner Tätigkeit als Akademieleiter in Stuttgart neu geprägt und zu einem Chor und Barockorchster der Spitzenklasse mit Schwerpunkt Bach verkleinert und neu geformt. Doch auch seine Sicht auf Bach dreht sich um die Kantaten. Diesmal waren das die mit den Nummern 136 ("Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz") und 8 ("Liebster Gott, wenn werd ich sterben?") im Bach-Werkeverzeichnis. BWV 8 endet mit dem Choral "Dein Blut, der edle Saft", der "aus des Teufels Rachen frei, los und ledig machen" kann. Da ist die Verbindung zum Motto des Jahres ("Freiheit").
Künstlerisch teils extrem anspruchsvoll und streckensweise nah am Kunstlied war der Einstieg mit BWV 136, ungewöhnlich fröhlich die Gestaltung des klassische Vanitas-Themas ("Mich rufet Jesus, wer sollte nicht gehn? Nichts, was mir gefällt, besitzet die Welt"). Wer heute gehen muss, hat selten solche Verse und Melodien auf den Lippen: Stoff zum Nachdenken über die Frage, wie frei uns der Glaube macht. Das Ensemble zeigte sich gewohnt souverän - auch bei den wechselnden Tempi von allegro bis tänzerisch oder getragen. Die Solisten Wiebke Lehmkuhl (Alt), James Gilchrist (Tenor) und Kresimir Strazanac (Bass) meisterten ihren Part sehr stimmsicher, technisch brillant und mit viel Gefühl für den Text. Solche Leistungen zu erwarten, sollte aber nicht nur Gewohnheit sein. Sie kölnnen jedees Mal neu berühren. Das Publikum bedankte sich mit begeistertem Applaus.
Die Gaechinger Cantorey beim Schlussapplaus
Es war ein kurzes, aber darum nicht weniger wunderbares Konzert (45 Minuten). Da blieb sogar Zeit für eine Zugabe aus Bachs Kantate Nr. 22 ("Jesus nahm zu sich die Zwölfe"). Am nächsten Tag steht bei "Sichten auf Bach IV" Helmuth Rilling am Pult der Stiftskirche und dirigiert  zwei Kantaten mit dem "Jungen Bachensemble Stuttgart": ein reizvoller direkter Vergleich zweier Konzepte und zweier musikalischer Schulen. Rademann und die "alten Hasen" der Gaechinger Cantorey haben sich inzwischen bestens aufeinander eingespielt. Wie der Altmeister und Festivalgründer Rilling (84) und die Nachwuchsmusiker miteinander harmonieren, wird spannend zu beobachten sein. Bisher gilt der Stuttgarter immer noch als Graue Eminenz der Bachakademie. Die Fußstapfen dieses genialen Musikpädagogen sind sehr groß.


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