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Mittwoch, 26. Mai 2010

Zeitreise zu den "Mischmasch-Leuten"

Das muss das historische Vorbild für Heidelbergs berühmten Philosophenweg gewesen sein: Diese kleine Straße in Schlanders (Vinschgau), an der ich einfach nur Mittagspause im Hotel "Zur Linde" machen wollte.

Ich war wie angekündigt auf Zeitreise zu den Zimbern: einer deutschen Minderheit weit südlich der Salurner Klause in Oberitalien, die allgemein als Sprachgrenze zwischen Tirol und Italien gilt. Die Zimbern sind nicht übrig geblieben von den Cimbern und Teutonen, die um 100 vor Christus Rom in Angst und Schrecken versetzten. Es mag sein, dass sich ein paar Cimbern damals nach dem Ende ihres Kriegszuges zu den hübschen Mädels in den Bergen flüchteten. Sie hinterließen aber keine Dokumente, und sie sprachen noch kein Mittelhochdeutsch, wie man es 1000 Jahre später sprach. Damals herrschte in Bayern Hungersnot, und der Erzbischof von München-Freising vereinbarte mit seinem Kollegen von Venedig die Auswanderung von tüchtigen Bayern in diese Berge, die Venedig gehörten (Veneto) und von denen noch heute ein Teil der Gegend ihren Provinznamen hat.

Die bayerischen Bauern waren schwere Holzarbeit in steilen Bergwäldern gewöhnt und versorgten fortan die Flotte von Venedig mit dem Holz für ihre Schiffe. Außerdem verhütten sie Kupfer, das in den umliegenden Tälern gefördert wurde. Sie hatten das Brennholz und beherrschten die Technik. Das machte sie wohlhabend und unabhängig - seit dem Entstehen des Nationalstaates Italien aber auch zur Zielscheibe diverser Phasen von Unterdrückung und Benachteiligung. Die begabten Zimmerleute bzw. Zimbern sprechen bis heute ein ziemlich reines Mittelhochdeutsch aus Bayern. Sie sprechen es nicht mehr alle, und sie sprechen es unterschiedlich in verschiedenen Dörfern ihrer weit verstreuten Gemeinschaft auf den zerklüfteten Hochebenen im Dreieck zwischen den Städten Vicenza, Verona und Trient. Sie gerieten im Ersten Weltkrieg zwischen die Fronten und im Zweiten Weltkrieg wieder. Und als Tiroler Widerstandskämpfer gegen die italienische Besatzung schon längst aufgehört hatten, Bomben zu legen, war die Region Trient von den finanziellen und politischen Segnungen eines Autonomiestatus noch weit entfernt.
 
Straßen, die Lebensadern für den Kontakt mit dem Rest der Welt, waren im Land der Zimbern noch lange in einem miserablen Zustand. Wer eine höhere Schule besuchen oder studieren und gar etwas werden wollte, musste auswandern. Das änderte sich erst in den letzten 20 Jahren. Die Brücke von Roana ist typisch für die spät Erschließung dieser einst sterk isolierten Dörfer. Deren Einwohner leben heute vom Tourismus (vor allem im Winter ist die Gegend ein beliebes Skigebiet), aber auch von Landwirtschaft. Weithin berühmt ist der Käse von Asiago.


Mit der Isolation verloren die Dörfer der Zimbern aber auch Teile ihrer Kultur, die eher in Museen, Büchern und Chören lebt und bei denen viele der zugezogenen Italiener sich mit den integrierten Zimbern gemeinsam engagieren. Die Mischehe ist längst die Regel und nicht mehr die Ausnahme. Viele Kinder sprechen flüssig Italienisch, etwas Zimbrisch und ein wenig Deutsch.
"Mischm(o)asch-Leute" lautet der zimbrische Ausdruck dafür, und sie sind stolze Europäer. Ein wenig wie die Schweizer: mehrsprachig, in den Bergen zu Hause, naturfromm und nur scheinbar schroff, geschäftstüchtig und fleißig. Das Klima, in dem mich vorne die Sonne verbrennt und mir hinten im Schatten der Arsch abfriert, hat sie abgehärtet.
Sie sind etwas eigenwillig und stolz: auf ihre Leistungen, auf ihr kulturelles Erbe, auf ihren guten Wein und ihr süffiges "Forst"-Bier (auch wenn´s in Meran gebraut wird, also in Südtirol). Sie essen mehr Polenta als Pasta, aber das kann ich als Deutscher mit einer großen Dichte italienischer Restaurants in meinem Land gut verkraften. Ihr Schinken, ihr Speck und ihr Schnaps sind ausgezeichnet, ihr Kaffe und ihr Brot italienisch, ihre Spätzle "wia dahaoim".

Das alles genießt man nicht gern allein. Und im "Albergo All´Amicizia" muss man das auch nicht. Inigo Rebeschini, sein Sohn Francesco und ihre Frauen sind nicht nur gute Gastgeber, sondern auch so ziemlich die letzten "reinen" Zimbern von Roana. Aber was heißt hier schon rein? Schon wie sich ihre Namen sprechen, ist Mischmasch. Auch ihre Mentalität und ihre Sprache, ihre Küche und ihre Vorlieben sind beides: Italienisch und Deutsch. Wörter wie "Bär" und "Essen" und "Berg" und Tal" sind Mittelhochdeutsch, amtliche Begriffe oder technische (wie Wahlzettel, Auto, Waschmaschine) sind Neuformungen oder italische Importe. Igino, den Kurt Kaindl so schön fotografiert hat, dass ich nun ausdrücklich darauf verzichte, ist jetzt 87 Jahre alt und nicht mehr der Gesündeteste. Er war ein beliebter Lehrer, und deshalb schauen bis heute fast täglich irgend welche Ex-Schüler in der Gaststube vorbei und fragen wie es ihm geht. Ab und zu singt er noch die alten Lieder der Zimbern, mit zittriger Stimme inzwischen und mit einem Hang zu Weihnachts- und Kirchenliedern, während es früher mehr die Trinklieder waren, die es ihm angetan hatten. Aber er kennt sie noch alle, auch die alten Sagen und Fabeln der Zimbern. Viele davon hat er ins Italienische oder Deutsche übersetzt.

Das volkreichste noch existierende Dorf der Zimbern ist Lusern. Es ist auch das isolierteste und mit einer Höhenlage von über 1300 m über dem Meer das höchstgelegene. Schon zwei Dörfer weiter konnten mir, als ich hinfuhr und wegen einer Umleitung nicht weiter wusste, Jugendliche auf der Straße nicht sagen, wie ich weiter fahren musste. Lusern hat 300 Einwohner (fast alle Zimbern und fast alle heißen mit dem einen oder anderen Zusatz Nicolussi), einen Reiterhof, zwei Hotels und sieben weitere gastronomische Betriebe (von der Bar über das Restaurant am Hauptplatz bis zur Berghütte), ein Zimbern-Museum, eine Galerie, ein Kulturinstitut und ein historisches Dokumentationszentrum. Denn Lusern war im Ersten Weltkrieg Front - nicht nur wegen einer zerschossenen Festungsanlage auf der Bergkuppe über Lusern. Die Italiener saßen direkt gegenüber auf der anderen Seite des Tales, und die Granaten trafen nicht nur das Fort auf dem Berg über Lusern. Auch das Dorf selbst wurde dem Erdboden gleich gemacht, seine Bewohner während des Krieges weit weg ins heutige Teschechien zwangsweise umgesiedelt (man sagte "evakuiert").

Daher mag es kommen, dass die Luserner bis heute besonders friedliche Leute sind. Sie kamen aus der Gefangenschaft zurück, bauten ihre Häuser wieder auf und fingen von vorne an.
Die Schützengräben auf den Passhöhen sind inzwischen zugewachsen, aber noch erkennbar - wie die Narben alter Verletzungen. Die US-Army musste im Kalten Krieg ihre Cruise Missiles auf der anderen Talseite "bei den Italienern" stationieren. Hier wollte sie niemand haben.
Sie sind lieber ausgewandert als einen Job bei der Army anzunehmen. Heute fließt Geld aus der autonomen Region Trient in ihre Kulturhäuser, Konzerte und Verlagsproduktionen. In der Grundschule werden derzeit 9 Kinder unterrichtet. Damit der Bau neben der Kirche besser genutzt wird, dient er auch als Kindergarten ("Scuola Maternale").

Außer kleinen Läden, Handwerksbetrieben und Nebenerwerbs-Landwirtschaft gibt es eine Kooperative für Büroarbeiten, Bankwesen und Postdienstleistungen, die sechs Frauen beschäftigt, und eine etwas dubiose Kleintierzucht. Vielleicht kommt noch ein Autor (bzw. eine Autorin) und gründet eine Schreib-, Druck- und Radiowerkstatt mit Filmstudio, die Kurse von kreative Leute von draußen anbietet und die eigene Kulturproduktion fördert. So ein Mischmasch-Betrieb würde ganz gut hierher passen. Dann fehlen nur noch Musiker und Maler, die dem Ort etwas abgewinnen können. Sie wären sehr wahrscheinlich willkommen.
Von den Menschen, die hier leben, diesmal noch keine Bilder. Ich will erst die Tonaufnahmen bearbeiten, und das kann dauern (bei meinem Mischmasch-Job...).

Donnerstag, 6. Mai 2010

Warum Schwarm-Intelligenz Blödsinn ist

Ich schätze die Bücher von Frank Schätzing sehr, aber Schwamintelligenz ist Blödsinn. Es sei denn, wir möchten uns kulturell auf dem Niveau von Amöben etablieren. James Lovelock hat schon 1991 in seinem Buch "Gaia - The practical science of planetary medicine" nachgewiesen, dass Bakterien die Menschheit als Art in der Kunst des Überlebens, d.h. in praktischer Vernunft, um Längen schlagen. Wer also heute meint, mit Twitter oder der Verwechslung von Massengaudi und qualitativ hochwertiger, intelligenter Medienarbeit die Leute verblöden zu müssen, ist auf einem sehr holzigen Holzweg.
Menschen, die sich scharenweise vom verschnarchten öffentlich-rechtlichen Rundfunk abwenden und keine Gebühren mehr zahlen wollen, sind nicht einfach "Digital Natives", also irgend so etwas wie nackte Wilde des neuen Analphabetentums im Internet-Zeitalter. Sie sind Verführte. Sie schwimmen in Schwärmen, die sich abzocken, verarschen und manipulieren lassen. Sie merken gar nicht, wie sie damit auf medialer Ebene den Steuerzahlern gleichen, die sich von Hedgefonds, Ratingagenturen und anderen wild gewordenen Spekulanten bis aufs letzte Hemd ausziehen lassen, ohne es auch nur zu merken. Sonst würden sie ja zu einer Regulierung der momentan vergötterten Märkte ja und nicht nein sagen.

Muss ich eigens betonen, dass ich wenig Lust habe, ein derart reduziertes Amöbenleben zu führen? Zu Zeiten des "Big Deal" waren wir schon mal weiter. Kein Zufall, dass es damals auch noch nicht diese allgemeine Verwechslung von Demokratie und nackten Zahlen gab, die heute versucht, uns ihrer Medien-Diktatur zu unterwerfen. Merken wuir eigentlich nicht, dass wir damit nur die BLÖD-Zeitung, die Murdochs, Holzbrinks und andere Haie füttern - mit unseren eigenen Kindern? Merke: Wer Schwarm-Intelligenz als Modell für eine gute, gerechte und kulturell hoch stehende Gesellschaft propagiert, wird immer nur den kleinsten gemeinsamen Nenner bekommen. Und der nützt nicht vielen, sondern nur wenigen.

Donnerstag, 29. April 2010

Sprch, Dnkn, Wrklchkt: Neue Essay-Formen von Stefan M. Seydel

Dieser Mann bringt neue Formen des Essays ins Gerede: Bei seiner "Antrittslese" als neues Mitglied des PEN-Clubs Liechtenstein trat er auf die Bühne und den Beweis an: Ja, in Vaduz gibt es intellektuelle Vorreiter und nicht bloß kriminelle Banken oder Banken für Kriminelle, was ja nicht dasselbe ist, aber sich auf jeden Fall gut anhört und zum Selberdenken reizt.  Zum Selberdenken reizte am 25. April im Schlosskeller zu Vaduz auch Stefan M. Seydel, und zwar schon mit dem Titel seines knapp einstündigen und sehr kurzweiligen Essays:
"Sprch, Dnkn, Wrklchkt". Wer sie auseinander nimmt, die Bestandteile unserer guten alten Sprache, und sie neu wieder zusammen setzt, hat mehr getan als der traditionelle Mechaniker des Deutschunterrichts, manchmal sogar mehr als ein lyrischer Schöngeist mit eingetrockneten Missverständnissen im Hirn.

Sprache, Denken und Wirklichkeit haben ja oft, aber leider nicht immer miteinander zu tun. Und das zeigt sich in Vaduz immer wieder aufs Schönste. Wir sprachen (beim Essen und auf dem Heimweg durchs Dunkel des Villenviertels von Schaan oder am nächsten Morgen beim Frühstück durchaus bilateral) Da war ich jetzt nicht zum ersten Mal va-dutzt. Was für ein fröhlicher, gut gelaunter, nüchterner und sprachbesoffener Mensch voller Ideen und technischer Neugier! Kritisch, aber auch lebensfroh und intelligent ist er, und auch wenn´s weh tut: Meistens hat er Recht. Zumindest wenn er feststellt, dass die Entwicklung der Medien und der Kommunikation das Sprechen und Schreiben verändert. Jedenfalls hat er einen Internet-Sender, bloggt und berichtet von überall in Europa, wo was los ist, als Fernseher, Nahdraufgucker, Radiot und Textant und Analyst - nicht für die Börse, sondern fürs Hirn: er analysiert Wrklchkt und unseren Umgang damit.

Z.B: attestierte er mir, der ich meinen neoliberalen Bruder kritisiere wegen seiner Angriffe auf den öffentich-rechtlichen Rundfunk (sein Argument: Rundfunk ist nur zum Geldverdienen da), eine große Ähnlichkeit mit meinem bösen Bruder, weil ich meine: Rundfunk hat eine journalistische und eine Bildungsaufgabe, aber Journalismus muss bezahlt werden - auch zum Beispiel für gute Blogger. Ok, ich rede zu viel von Geld, weil ich´s nicht habe. Er hat´s und redet daher aus gutem augustinischen (Hinter)grund schlecht darüber. Ich gönne uns das von Herzen.

Stefan hat´s mit Veränderung, und dafür hat er ein gutes Auge und scharfe Ohren. Deshalb habe ich auch vorgeschlagen, seinen Essay beim Essaywettbewerb von SWR2 einzureichen, der gerade läuft. So wegwerfend, wie er seine Textblätter in Vaduz behandelte, möchte ich nämlich seine Sprachkunst nicht behandelt wissen. Da kann man noch viel lernen, da kommt noch einiges auf uns zu. Das würde ich gern exemplarisch auf größerer Bühne geehrt und gefördert wissen (auch wenn´s leider Geld dafür gibt. Das könnte er ja spenden für einen guten Zweck, etwa einen weniger privilegierten, aber doch nicht weniger begnadeten Kollegen vor Hartz IV zu bewahren).
Nein, im Ernst und auch ganz ernsthaft im Spaß: Der Mann trägt zwar Hosen wie Müllwerker, hat aber alles andere als Müll zu bieten. Als philosophisch-komödientisches Gesamtkunstwerk erinnert er mich irgendwie an die Cafeteria der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, die immerhin ein Preisträger der Biennale von Venedig eingerichtet hat: Ein cleveres Verwirrspiel, ein Vexier- und Versteckspiel mit Wahrnehmung und Ausdruck, ein unernst wirkendes Stück Gebrauchsdesign, hinter dem sich tiefere Einsichten auftun. - Voilá!

SWR-Multimediakunst: Wiegenlieder-Projekt

Im Jahr 2009 kam Dorothea Enderle, Leiterin der SWR2 Musikredaktion, mit einer Idee, die ihr ein Musiker gesteckt hatte - genauer ein Sänger: Warum tun wir als Kulturprogramm nicht etwas für das Singen mit Kindern? Das ist nämlich ganz schön aus der Mode gekommen, vor allem wenn es um deutsche Folklore geht. In diesem Bereich, der schon stark überfremdet und deformiert ist von angelsächsischen Importen (aber auch vom Umtata-Hype der Oberkrainer, Carmen Nebel oder Kastelruther Spatzen & Co.), haben es die Wiegenlieder besonders schwer. Sie sind aber auch besonders schön: Weltliteratur kam da zu Weltmusik. Gesagt getan. Unsere Programmoberen beschlossen, das bei so einem Projekt gar nichts schief gehen kann (o weh, was hätte können, sahen sie nie!). Sie gaben Erlaubnis und Geld zum Arbeiten. Und der Stuttgarter Carus Verlag, der eh schon seit Generationen Noten druckt und zum Beispiel der internationalen Bachakademie verbandelt ist, kam mit ins Boot und holte den Maler, Zeichner und Grafiker Frank Walker dazu.


Der SWR bat Sängerinnen und Sänger um einen Beitrag. Hier Julian Pregardién der Vernissage am 22. April, mit Christine Busch, Violine und Götz Payer, der ihn auch im Studio begleitet hat). Sie sangen - und entdeckten - ohne Honorar, nur für die SWR-Aktion "Herzenssache - ein Herz für Kinder" die schönsten deutschen Wiegenlieder neu.  SWR2-Kollegen organisierten zum Start eine große Gala im Stuttgarter Opernhaus, ausverkauft, versteht sich. Dann folgten professionelle Studioaufnahmen, und der Carus-Verlag begann gleichzeitig mit der CD-Produktion ein Buch herauzszugeben mit Noten und Texten der Wiegenlieder.


Auf dem Gruppenbild haben sich verewigt: links Johannes Graulich, Leiter des Carus Verlags, rechts neben ihm der Maler Frank Walka und die Musiker Christine Busch, Götz Payer sitzend und ganz rechts Julian Pregardién. Hinter dem Klavier hat sich noch ein stolzer Hörfunkdirektor Bernhard Hermann ins Erinnerungsbild gemogelt. Musik, Liedtexte und Bilder haben sich hier zusammengetan und ein Multimedia-Gesamtzkunstwerk geschaffen. Nein, sie ergeben zusammen eins, und Menschen haben es geschaffen. Das war bei der Vernissage besonders spürbar. Die Ausstellung im Heinrich-Strobel-Haus des SWR Baden-Baden ist noch bis zum  26. Juni zu sehen, Buch und CD gibt´s hoffentlich noch lange zu kaufen.

Jetzt, wo die CD und das Buch mit Noten und Liedtexten bereits ein Erfolg sind, war auch Zeit für eine Ausstellung. Frank Walkas Bilder: Illustrationen für dieses Buch (und natürlich auch der CD-Cover), aber auch andere Arbeiten, denn der Stuttgarter hat ja nicht Däumchen gedreht und gewartet, bis ihn einer fragte, ob er vielleicht für die WIEGENLIEDER was machen würde. "Der Mond ist aufgegangen" von Matthias Claudius und in über 70 Vertonungen, u.a. von  Franz Schubert - das haben wir zum Schluss tatsächlich gemeinsam gesungen, obwohl draußen noch die Sonne schien. Und keiner hat sich geschämt, denn: ist wirklich "ein schöner Lied".

Freitag, 16. April 2010

40 Jahre Rauriser Literaturtage

Thomas Klupp bekam den Raurisert Literaturpreis 2010 für das beste Prosadebüt des Jahres 1009, seinen Roman "Paradieso". Für SWR2 und meinen Podcast (vielleicht aber auch eines Tages einen Blog oder eine Website mit integriertem Podcast bzw. Audio-Download) sprach ich mit dem sympathischen 32jährigen Auto aus Erlangen, der bei Hans Josef Ortheil in Hildesheim praktische Literatur studiert hat.
Trotzdem möchte er auf keinen Fall ein Autor aus der Retorte sein, nicht abheben und mit seiner wachen Beobachtungsgabe wachsen und erwachsen werden. Bislang hat er mit dem Tramper Alex Böhm einen typischen Vertreter der Generation zwischen 25 und 30 ein böses, rasantes Roadmovie erdacht, das zwar Witz hat, aber den "Helden" ebenso wenig sympathisch zeigt wie dessen Opfer. Ein Hochstapler und Mitläufer, ein Blender und Schwätzer wird da vorgestellt, wie er zynischer kaum sein könnte. Aber das Buch ist keine Autobiographie. Es ist das Ergebnis scharfer Beobachung und großer Disziplin beim Abarbeiten eines dramaturgisch ausgefeilten Plans. Nicht zum Plan, weil so etwas niemals planbar ist, gehörten der Nicolas-Born-Förderpreis und der Rauriser Literaturpreis. Klupp nimmt beide Anerkennungen als Unterstützung seines Talents - nicht mehr und nicht weniger.

Der Ortsteil Bucheben liegt 9 km oberhalb des Hauptortes im Rauriser Tal, ein magischer Ort in ca. 1200 m Höhe mit einer Barockkirche, einem alten Schulhaus (im Pfarrhaus wohnen Mieter, einen Pfarrer gibt es nicht mehr), einem Gasthaus und einem alten Schulhaus, links angeschnitten. Hier beherrschrt der Sonnblick des Leben der Menschen - das Wetter und die Jahreszeiten, die Opotik (Bildmitte) und wohl auch die meisten Biographien. Plötzlich kann man verstehen, wieso der Mongolwe Galsan Tschinag sich hier sofort heimisch fühlte. Das Licht, das Klima, aber auch die "Atmosphäre" um die Alte Schule von Bucheben, wo während der Literaturtage auch Dichterlesungen oder auch Orgelkonzerte stattfinden, hat etwas von einem tibetischen Potala mit alpiner Architektur. Christliche Symbolik öffnet sich einer schamanistischen Unterströmung, ob man will oder nicht.

Arno Camenisch aus der Schweiz (hinten rechts) und der Salzburger Autor Bodo Hell (links neben ihm mit schwarzer Kappe) lasen in der Alten Schule von Bucheben aus ihren Büchern vor. Hell lebt in Salzburg, bearbeitet aber während der Sommersaison 11 (!) Hochalmen im Salzburger Land. Camenisch las aus seinen Almgeschichte zweisprachig auf Deutsch und Rätoromanisch: Eine Prosa, die poltert wie Bergschuhe und schmatzt wie der Schlamm in den Pferchen, eine ebenso musikalische wie gewalttätige, witzige und bedrohliche Sprache als Spiegel eines Lebens mit und gegen reine bedrohte und bedrohliche Natur. Landleben ist keine Idylle: Hier zeigt sich das einmal mehr, obwohl es für verzauberte Aufgenblicke / Kameraklicke so wirken mochte.

Diese Zuhörerin fand keinen Platz mehr in der ehemaligen Schulklasse und harrte eine ganze Stunde lang auf der harten Holztreppe aus, wo sie kaum etwas sehen und nur wenig hören konnte.
Nach der Lesung drängte alles diese schmale knarrende Treppe hinauf, denn unterm Dach hatten die Gastgeber Essen und Trinken bereit gestellt. Schade, dass ich mit dem Auto gekommen war: Eine ganze Batterie klarer Schnäpse von Buchebener Bauern hätte sich gefreut, wenn ich sie hätte probieren können.

Freitag, 2. April 2010

Die Seele Lateinamerikas: Eduardo Galeano

In diesem bitter kalten Winter habe ich wieder Galeano gelesen: "Die offenen Adern Lateinamerikas" waren lange vergriffen und sind nun erneut zugänglich beim Peter Hammer Verlag. Es ist ein Buch über die Geschichte Lateinamerikas, aber vor allem über seine verletzte Seele. Die Ausbeutung - einst durch die spanischen Eroberer, im 18. und 19. Jahrhundert durch die Briten, die den internationalen Sklavenhandel für die Zucker- und Baumwollplantagen Kubas und Brasiliens oder die Kautschukproduktion im Amazionasgebiet beherrschten, und seit dem 20. Jahrhundert durch Großkonzerne überwiegend der USA - diese Ausbeutung ist der blutrote Faden der Geschichte Lateinamerikas. Die offenen Adern sind nicht nur die Silberadern von Potosí, die Goldminen in Minas Gerais oder die Kumpferminenn von Cerro del Pasco in Peru, es sind die Wunden eines Kontinents und seiner Bewohner durch über 400 Jahre Plünderung, Mord, Unterdrückung und Katastrophen aller Art. Das Erdbeben, das im Januar 2010 Haiti verwüstete und über 230 000 Menschenleben kostete, ist nur das letzte Beispiel dafür: eine Naturkatastrophe, die schlimmer wird durch Korruption und Gewalt. Es ist eine Katastrophe, die zur internationalen Solidarität aufruft und durch wohl bloß wieder Einmischung und Entmündigung produzieren wird.

Hier schließt sich der Kreis, denn auf Haiti landete Kolumbus als Entdecker Amerikas. Von den Ureinwohnern lebt kein einziger mehr. Die Nachkommen der schwarzen Sklaven aber, die im 20. Jahrhundert in die Selbständigkeit "entlassen" wurden, bewohnen ein reiches Land, das heute eines der ärmsten auf dem Globus ist. Die Bäume sind für die internationale Schiffahrt und Möbelindustrie gefällt, die Preise für Zucker, Kaffee und Kakao am Arsch wegen Lidl, Aldi & Co., Investitionen in eine Tourismusindustrie wie in der benachbarten Dominikanischen Republik (auf den gleichen Insel!) wegen irrrsinnigr "Ablösesummen" an Plantagenbesitzer bei der Unabhängigkeit illusorisch,  Bildung ein Fremdwort und Selbständigkeit unter diesen Bedingungen ein purer Zynismus.
Natürlich ist Eduardo Galeano ein Linker; aber er wurde dazu, wie auch ich dazu wurde, durch Mitgefühl mit den Opfern menschlicher Ungerechtigkeit. Sein Buch ist mehr als eine Anklage, die schon der spanische Mönch Bartolomé de las Casas Anfang des 16. Jahrhunderts so scharf wie folgenlos formilierte. Es ist eine unentbehrliche Sammlung des Wissens, ohne das keine noch so edle Haltung diskussionsfest sein kann. Es ist eine enorm fleißig recherchierte und mit Herzblut geschriebene, systematische Geschichte Lateinamerikas - ein unentbehrliches Nachschlagewerk und zugleich eine kostbare Sammlung von Quellen und Aphorismen, die das Leiden Lateinamerikas auf den Punkt bringen. Aufbewahren für alle Zeit!

In "Zeit die spricht" erzählt Galano, der aus Uruguay stammt und wie viele Latinos ein begeisterter Fußballfan ist, Geschichten, die er gehört oder erlebt hat - 333 kurze Prosastücke, in deren Mittelpunkt indianische Mythen ebenso oft stehen wie tagesaktuelle Beobachtungen. Galeano, in Montevideo und Buenos Aires einer der meist gelesenen Zeitungskommentatoren, führt hier die hohe Schule der Glosse vor. Das Buch verknüpft sie, die anfangs nur einzelne, lose Fäden waren, zu einem großen gemeinsamen Muster der Liebe zu den Menschen und zur Natur, aber auch des Hasses gegen jene, die beide bedrohen - und des Geschichtsbewusstseins.Wie alle Bücher Galeanos ist es erschienen im Verlag Peter Hammer, Wuppertal.

Wie es (oder besser Eduardo Galeano) dies tut, zeige ich am besten an einem Beispiel, bei dem es nicht zufällig um die kostbarste Ressource des Planten geht:


Wasser, das internationale Großkonzerne inzwischen am liebsten total privatisieren und den Menschen noch in Timbuktu teuer verkaufen würden, hat schon über Krieg und Frieden bestimmt. Inzwischen sind ganze Bücher darüber erschienen, aber Galeano sagt alles Wesentliche zum Thema in wenigen kurzen Geschichten wie hier. Sie ist nicht erfunden. Aber sie wurde geschrieben mit der Sorgfalt des Wissenschaftlers und der Sprache eines Poeten: typisch Galeano.
Die Liste teuerer Tafelwasser, die schon auf dem "Markt" sind, kann jeder im Geist aufsagen. Dabei ist jede solche Privatisierung einst öffentlichen Gutes ein Raub - das wird nur allzu leicht vergessen.


Fast 450 Seiten dick ist die Textsammlung "Fast eine Weltgeschichte", in der Galeano 2008 seine Kunst der Miniatur noch einmal auf neue Höhen schraubte: Noch kürzer die Texte, noch systematischer als Weltgeschichte im Kleinen angelegt. Das Buch ist eine Fundgrube für skurrile Nebenschauplätze der großen Geschichte, aber auch für Volksweisheiten und ebenso witzige wie kritische Kommentare zu allen Religionen und Denksystemen der Welt. Ganz ähnlich wie Helene Hegemann mit ihrem "Axolotl Roadkill" ging es ihm dabei, aber er ging mit dem geistigen Enteignungs- oder Übereignungsprozess, zu dem er gezwungen war, besser um: "Es gibt hier keine bibliographischen Quellen", schreibt er schon im Vorwort. Aber auch:  "Mir blieb nichts anderes übrig, als sie auszulassen. Früh genug wurde mir klar, dass sie mehr Raum einnehmen würden als die über vierhundert Seiten dieses Buches". Doch wo immer es geht (und das ist erstaunlich oft der Fall), baut er die Nennung der Quelle in den Text unmittelbar ein. SO MACHT MAN DAS, liebes Fräulein Hegemann!

Donnerstag, 1. April 2010

Wieder nach Rauris

Am 7. April fahre ich wieder nach Rauris: Dichter und Berge satt.
Mal sieht es hier total verschneit asus und ein andeermal grün und sonnig - da hab ich eben die Mitte gewählt.
Hier lesen zwischen dem 7. und dem 11. April zum 40. Mal Schriftsteller aus aller Welt - in Gasthöfen, Skihütten, Kindergarten und Schule, Bauernhöfen und Amtsstuben.
Mein Feature im Kulturradio SWR2 über dieses ungewöhnliche Dorf und diese ungewöhnlichen Literaturtage wurde am 26.3. gesendet und wird am 06. April um 20 Uhr noch einmal von NDR Kultur ausgestrahlt. - Sonst: Bitte einfach hinkommen. Rauris ist zauberhaft, und deshalb habe ich gerade überhaupt keine Zeit mehr.