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Donnerstag, 4. Dezember 2025

Zeitweilige Distanz in Nahaufnahme: Gedichte aus dem Krieg

Oksana Maksymchuk: "Tagebuch einer Invasion". Gedichte. Edition Lyrik bei Hanser,  München. 112 Seiten, 24  €. Deutsch von Matthias Kniep. Mit einem Nachwort von Ilya Kaminsky

Oxana Maksymchuk 
© Natalya Mykhailychenko

Noch nie habe ich Gedichte gelesen, die so nah am Krieg waren. Es sind keine Gedichte über den Krieg, es sind Gedichte aus dem Krieg. Dabei hat die Autorin weder im Schützengraben noch im Luftschutzkeller gesessen. Aber sie hat die russische Invasion im Kopf und im Herzen wie MiIlionen ihrer Landsleute, permanent. Wie kann man da noch Gedichte schreiben?

Meine Cousine schreibt
sie sei in einem Keller
mit ihrer einjährigen Tochter
ihr Mann eingezogen
...
Das Baby, früher war es verängstigt
durch Eplosionen 
jetzt singt sie es 
in den Schlaf 
...
Unsere Stadt, sie mag aussehen wie ein
Haufen Schutt,
aber sie besteht aus demselben Stoff                                                            nur die Form hat sich verändert 

Das Buch strahlt eine unterkühlte Hellsichtigkeit aus, ist auf eine gespenstische Weise distanziert und wohl gerade deshalb von geradezu durchdringender Konzentration. In der unerbittlichen Präzision und Genauigkeit der Gedichte liegen nicht nur Angst und Grauen offen, sondern auch das Gegengift: Widerstandsfähigkeit. Immer wieder zeigt sich eine Resilienz, die das Buch zu einem Leitfaden für seelisches Überleben macht. Die Natur bleibt ungerührt immer die Natur.

Keine Brücke mehr jetzt 
aber der Fluss
fließt wie zuvor 
...
er weint nicht
wenn er die Leichen wiegt
und mit den Überresten spielt
...
neutral
wie der Fluss eines Gedichts
...
reflektiert alles
ändert nichts 
 

Oksana Maksymchuk wurde 1982 in Lviv/Lemberg in der Ukraine geboren. 1997 zog sie mit ihrer Mutter nach Illinois/USA. Als promovierte Philosophin kehrte sie in ihre Heimatstadt Liv zurück, befand sich jedoch bei Kriegsausbruch im Februar 2022 mit ihrem Sohn auf einer Reise in Ungarn und lebt seitdem im Exil. Die zweisprachige Dichterin ist Autorin mehrerer Gedichtbände in ukrainischer Sprache sowie Mitherausgeberin der Anthologie "Words for War: New Poems from Ukraine".

Bilder dieser zeitweiligen Distanz in Nahaufnahme zeigen zuerst ein extremes Bemühen um Sachlichkit, Objektivität, (einen "kühlen Kopf", wenn man so will). Das Buch entstand zudem in englischer Sprache, weil, so Maksymchuk in einem Interview mit Sasha Dugale für PN Review, das Englische ihr die "Illusion einer zeitweiligen Distanzierung" gegeben habe, die es ihr erlaubte, mit "einer freieren, ausgeglicheneren Stimme" zu sprechen. Eine zusätzliche Ebene der Distanzierung entsteht noch durch die Übersetzung ins Deutsche. Leser dieser Texte sollten aber nie vergessen, dass die Dichterin auch eine gelernte Philosophin ist. 

Ich kenne aus eigener Erfahrung die Macht der Versuchung, aus einem Gedicht immer dann, wenn es besonders wichtig wird, einen Essay zu machen. Und ich verdanke Johannes Poethen die mitunter schmerzvolle Lehre: Mach kein Gedicht zum Essay, das geht schief. Da hilft nur, gnadenlos zu streichen und zu kürzen (manchmal). Das Gedicht "Ordnungen der Dringlichkeit" ist für mich zum einen die hohe Schule dieser Vermeidungslehre und zum anderen ein grandioses Plädoyer für ein poetisches Dennoch, das zu einem Akt des Überlebens und Widerstandes wird:

Vor allem anderen 
ist die Welt zuerst ein Gedicht,
das sich aus einer Öffnung heraus entfaltet 
...
Liebe ist alt wie die Zwietracht,
letzte Ursachen sind auch erste 
Sein geht aller Zeit voraus - 
also erst Ontologie,
dann Temporalität
 
Und das Gedicht, das ich verfasse 
vor deinen Augen
in genau diesem Augenblick
 
(ausgeklammert das Geräusch
meines schwergehende Atems 
während die Luftschutzsirene heult) 
 
ja, 
es ist, für einen Moment nur, dem letzten
in der Abfolge der Dinge,
 
die entstehen, 
ihren Höhepunkt erreichen, vergehen, 
sich widersetzen dem Vergessen 
 

Ansingen gegen das Vergessen: die vornehmste Aufgabe der Literatur. Das ist die reine Selbstbehauptung und Selbstermächtigung gegen Angst, Tod und Zerstörung, letztlich etwas Unzerstörbares und der Grund, warum Diktatoren Poesie und Poeten fürchten und verfolgen.

 

 

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