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Montag, 4. November 2024

Warum ein Jugendbuch zum SPIEGEL-Bestseller wurde

Amie Kaufman & Jay Kristoff: "Aurora erwacht" FISCHER Kinder-und Jugendtaschenbuch, Frankfurt / Main, 2023, 487 S., 12,00 €, aus dem amerikanischen Englisch von Nadine Püschel

Seit Jugendbuchautor und Grünen-Wirtschaftsminister Robert Habeck zum Ziel politischer Attacken wurde, ist es auch Mode geworden, Autorinnen und Autoren von Jugendbüchern generell öffentlich als unseriös und lächerlich zu diffamieren. Deshalb finde ich die Frage interessant, was der Unsinn soll und warum das ausgemachter Unsinn ist. Es kommt ja auch niemand auf die Idee, zu behaupten, Leute wie Astrid Lindgren (Pippi Langstrumpf) Cornelia Funke (Tintenherz), Otfried Preußler (Krabat, Die kleine Hexe) oder Michael Ende (Momo, Jim Knopf) seien minderbegabt. Trotzdem klebt das Etikett "Kinderkram" hartnäckig. Nicht weniger hartnäckig aber kleben rote Etiketten mit dem Aufdruck "SPIEGEL Bestseller" auf Umschlägen höchst erfolgreicher Bücher, die Autoren und Verlage reich machen und die Kassen im Buchhandel klingeln lassen. Warum ist das so? - Die Antwort ist relativ einfach: weil sie unglaublich gut sind. Das gilt auch für den vorliegenden Roman "Aurora erwacht" von zwei jungen Australiern namens Amie Kaufman und Jay Kristoff. 

Das Buch ist mit 487 Seiten ein echter Schinken (oder Ziegelstein), geeignet zur Abwehr von Einbrechern, und steht im Widerspruch zu der Mär von der kurzen Aufmerksamkeitsspanne junger Leute. Kommt erschwerend hinzu, dass auf dem Umschlag das ziemlich kitschige Bild eines jungen Mädchens mit Stupsnase, verschiedenfarbigen Augen und vollen Lippen zu sehen ist, eindeutig inspiriert vom Kindchen-Schema japanischer Manga-Comics. Das ist Aurora, sie hat 200 Jahre lang im Kryoschlaf gelegen und ist die einzige Überlebende an Bord eines havarierten Raumschiffs, mit dem Kolonisten auf einen Planeten des fernen Systems Aurora wollten. Gerettet wird sie von Tyler, einem blutjungen Absolventen der Aurora-Academy und Jahrgangsbester der Aurora-Legion. Hier darf ruhig gemeckert werden: Etwas viel Aurora-Symbolik, finde ich auch. Aurora, so hieß bei den Römern die Göttin der Morgenröte, so heißen bei uns heute Nordlichter. "Wir die Legion. Wir das Licht, das die Dunkelheit durchbricht" lautet das gern im Chor zitierte schwülstige Motto der gleichnamigen Legion, klar, das musste ja sein. Eine solche Symbolik passt aber in die Denk- und Sprachmuster von Kadettenanstalten, wo auch ein Thriller-Autor wie Tom Clancy seinen Jargon her holt, und ist damit recht realistisch, um der Wahrheit die Ehre zu geben. Als Gegengewicht gibt es jede Menge freche Dialoge.

Doch im übrigen ist der Schinken ein echter Pageturner voller Tempo, Witz, Spannung und nicht gerade wenigen Überraschungen. Die Handlung spielt im Jahr 2380. Tyler Jones hat gerade seine Ausbildung abgeschlossen und steht davor, sich sein erstes Team zusammenzustellen. "Das coolste und beste Saquad, das ein Abschlussjahrgang der Aurorea Academy je gesehen hat". Weil er in der Nacht vor der Teamauswahl nicht schlafen kann, macht er einen verbotenen Ausflug, stößt im interdimensionalen Raum auf besagtes havariertes Raumschiff und weckt die einzige Überlebende aus dem Kälteschlaf. Was er nicht ahnt: Mit dem Mädchen stimmt etwas nicht, es ist irgendwie anders. Wie sich herausstellt, hat Aurora die Gabe der Telekinese, kann also Dinge mit reiner Gedankenkraft bewegen. Ja, sorry, in der Sience Fiction ist so etwas ganz normal, genauso wie der Überschallantrieb und Wurmlöcher. Abgesehen davon, darin steckt auch ein dickes Korn Wahrheit: Es gibt schon Gelähmte, die mit reiner Gedankenkraft am PC Texte schreiben können, ein spezielles Computerprogramm macht´s möglich, und KI wird noch mehr dafür sorgen, dass wir in der Medizin Bauklötze staunen.

Um Aurora droht ein Krieg auszubrechen, und ausgerechnet Tylers Team soll das verhindern. Es besteht angeblich aus lauter Losern und Außenseitern, aber die erweisen sich als die Besten der Besten, obwohl Tyler durch die Rettung von Aurora den Auswahltermin verpasst und nicht mehr viel Auswahl hat. Die Pilotin Cat hält sowieso zu ihm, weil sie heimlich verliebt ist, seine Schwester Scarlett als diensthabende Diplomatin lässt ihn auch nicht im Stich. Der Techniker Finian ist Betrasker und nicht nur tüchtig, sondern verfügt auch über wertvolle Beziehungen zu entfernten Verwandten eines Volkes vom Planeten Trask, das wegen der starken Stürme dort überwiegend unter der Erde lebt. Kaliis, der Kämpfer, könnte zwar seine Aggressionen besser unter Kontrolle haben, kann aber allein fünf Elitelegionäre verdreschen. Er ist ein Syldrathi, ein Hüne mit spitzen Ohren, großen violetten Augen und lila Blut. Der Alien ist ein besonders wilder Vertreter eines ohnehin kriegrischen Volkes, mit dem die Terraner erst vor zwei Jahren einen Friedensvertrag geschlossen haben. Die Wissenschaftlerin und Ärztin Zila sieht aus wie eine normale Afroamerikanerin, hat aber Probleme im angemessenen Umgang mit Menschen. 

Die erste Mission des Teams ist auf den ersten Blick enttäuschend: ein Versorgungsflug. Sie sollen Medikamente zu einer ehemaligen Bergbaustation voller Flüchtlinge des syldrathischen Bürgerkriegs auf einem gottverlassenen Asterioiden bringen. Kaum sind die Zielkoordinaten eingegeben, meldet sich das militärische Oberkommando der Legion und erzählt seltsame Dinge: "Vor Ihnen liegen ungeahnte Herausforderungen", sagt der Chefausbilder und väterliche Freund, der Tyler immer gefördert hat. "Aber wir haben vollstes Vertrauen in Ihre Fähigkeiten. Sie werden es schaffen. Was auch kommen mag. Bleiben Sie stark. Du darfst den Glauben nicht verlieren, Tyler". Wenn Politiker so reden, schrillen bei uns die Alarmglocken. Und die Generalissima ergänzt: "Die Fracht, die Sie transportieren, ist wertvoller, als Sie alle ahnen können". Stimmt. Nichts ist so, wie es scheint. In einer der Frachtkisten steckt nämlich Aurora als blinde Passagierin, und als sie durch einen Zufall herauspurzelt, kommt auch recht bald ihre telekinetische Fähigkeit ans Licht.

Das Raumschiff des Teams wird verfolgt von einem syldratischen Kampfkreuzer und dieser wiederum von einem Zerstörer der TDF, der Terran Defense Force voller maskierter Agenten der GIA, der Global Intelligence Agency. Die Geheimdienstler pulverisieren die Flüchtlingsstation und den syldrathischen Kreuzer und entführen Aurora, was man natürlich nicht auf sich sitzen lassen kann. Schließlich wollten die die Kommandeure der Legion das hübsche Kind mit den übersinnlichen Kräften aus der Reichweite jener GIA entfernen, die sie jetzt gekidnappt hat - unter Bruch interstellarer Abkommen und mit einem Massenmord zu dessen Vertuschung. Mit einem Husarenstück wird Aurora befreit, solange die beiden Schiffe noch angedockt haben. Die Flucht gelingt knapp, und fortan wird die gesamte Galaxis das Team jagen, das sich gewaltsam den Behörden widersetzt hat.

So weit, so gut, so weit die Inhaltsangabe der ersten Kapitel. Aber dann gibt es mehr als Action, Exotik und Spannung. Eine Kette von Abenteuern beginnt, in denen es um Kameradschaft und Freundschaft, Rassismus und Xenophobie, interkulturelle Kompetenz und Integration geht, den Unterschied zwischen Gesetz und Moral, am Ende auch um den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, Loyalität und Machtmissbrauch. Das ist kein oberflächliches Buch über Gewaltorgien, sondern ein ausgesprochen ernsthaftes über sehr ernste und aktuelle Themen.

Geheimnisvolle Einflüsse einer uralten, seit einer Millionen Jahren ausgestorbenen Zivilisation ziehen Aurora auf eine riesige Raumstation, die man als futuristische Variante eines klassischen Piratennestes bezeichnen kann. Sie kann ihre Kraft nur unter Lebensgefahr oder von einer Art Hypnose ferngesteuert einsetzen, wobei sie Worte einer unbekannten Sprache spricht. Doch auch auf dieser Insel der Gesetzlosigkeit, die ein schwer reicher und kunstsammelnder Alien-Mafiaboss beherrscht, hat der Techniker Finian Verwandte, die dem Team eine Unterkunft und Informationen besorgen. Nach Art einer "Mission Impossible" wird diesem Obergauner natürlich ein Artefakt entwendet, das Aurora weiter bringen soll: Ein so genannter "Trigger", der sich als Sternenkarte mit markierten Sperrzonen entpuppt, die der Bordcomputer natürlich als vorrangige Reiseziele empfiehlt. Gemeinsame Recherchen ergeben nach und nach, dass all diese seltsamen Dinge mit der ausgestorbenen Zivilisaion zu tun haben.

Auf der Flucht scheinen Tyler und sein Team mit Aurora eher zufällig auf genau jenem Planeten zu landen, zu dem 200 Jahre zuvor das haverierte Rumschiff Auroras mit Kolonisten unterwegs gewesen war. Der Planet existiert nach offiziellen Informationen gar nicht, weil er in einer galaktischen Sperrzone liegt - Anflug oder gar Betreten strengstens verboten. Nur dass man Leuten, die ohnehin nichts zu verlieren haben, kaum etwas verbieten kann. Was es dort zu entdecken gibt, ist eingermaßen gruselig und kostet schließlich die Pilotin Cat das Leben. Mit knapper Not gelingen Flucht und Aufbruch zu neuen Ufern. Fortsetzung folgt. Das Ganze ist nämlich nur der erste Tei einer Trilogie.


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