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Donnerstag, 7. November 2024

Warum die Ukraine ist, wie sie ist

Yaroslav Hrytsak ist einer der wichtigsten ukrainischen Historiker der Gegenwart. Er bettet die Geschichte des Landes in die Geschichte Europas und ihre globalen Zusammenhänge samt ihrer vielen Wechselwirkungen ein. Sein Buch wurde in der Ukraine zum Bestseller und erklärte der angegriffenen Nation, woher sie kam, was sie geprägt hat und woran ihre Widerstandskraft gegenüber der russischen Aggression liegt. Es definierte zudem ein Ziel: die liberale Demokratie des Westens. Hrytsak ist Professor an der Katholischen Universität Lwiw und Direktor des Instituts für historische Forschungen an der Nationalen Iwan-Franko-Unversität in Lwiw. Bis 2022 war er zusammen mit Martin Schulze Wessel Sprecher der bis dahin nur in Fachkreisen bekannten deutsch-ukrainischen Historikerkommission. Sein Buch hat einen Perspektivwechsel zu bieten: Im Westen ist in den letzten Jahren viel über die Ukraine geschrieben worden, aber fast nur von westlichen oder im Westen lebenden und lehrenden Historikern. Yaroslaw Rhytsak schreibt aus einer radikal ukrainischen Position. Er ist kein Nationalist, aber ein Patriot, der die unterschiedlichen Spielarten und Gruppierungen des Nationalismus in seiner Heimat im Detail kennt und erklärt. Er seziert die Mythen der russischen Propaganda, bewahrt sich aber auch einen kritischen Blick für ukrainische Legenden und Übertreibungen, von denen manche Wasser auf die Mühlen von Putins Ideologen sind. Mit rund 40 Millionen Menschen ist die Bevölkerung der Ukraine nur halb so groß wie die Deutschlands, doch gut doppelt so differenziert. Das macht die Lage nicht übersichtlicher und die Lektüre nicht einfacher, doch es war immer schon mühsam, der Wahrheit näher zu kommen oder gar gerecht zu werden.

Wenn Staaten Pässe hätten, wäre darin 1914 als Geburtsjahr der Ukraine eingetragen, schreibt Hrytsak. Zugleich aber wäre diese moderne Staatenbildung nicht denkbar gewesen ohne die lange und blutige Geschchte der ukrainischen Nationsbildung. Daher setzt sein Buch mit der Geschichte der Rus ein und spannt den Bogen bis in die Gegenwart, wo sich die ukrainische Nation von einer ethnischen Identität zu einer zivilgesellschaftlichen Identität und schließlich Nation entwickelt hat, deren politische Kultur sich fundamental von der Russlands unterscheidet. Die Ukraine war immer Bauernland und Kornkammer, aber auch Grenzland zwischen den Einflussbereichen von Moskau, Konstantinopel (Istanbul) und Griechenland - mitsamt den entsprechenden religiösen Bekenntnissen und kulturellen Traditionen. 

Identität stiftete dort nicht so sehr die Sprache, sondern das multikulturelle Zusammenleben freiheitsliebender Kosaken, selbstbewusster Bauern, Polen und Juden, die sich immer wieder gegen kolonialistische Gelüste der Österreicher, polnisch-litauischer Bojaren, russischer Zaren oder muslimischer Sultane zur Wehr setzen mussten, die es auf die Ernten des fruchtbaren Schwarzerde-Bodens in der Steppe abgesehen hatten. Das Lande ist flach, und bis auf die galizischen Sümpfe und den Strom Dnipro gibt es keine natürlichen Hindernisse für Händler, Armeen und Migranten. Auch dies ist eine der Besonderheiten für die geopolitische Lage der Ukraine. 

Für mich neu und besonders faszinierend z.B. war die Beschreibung der klösterlichen Kulturen. Gab es bis weit ins 19. Jahrhunder hinein in der russisch-orthodoxen Welt, die auf Mündlichkeit beruhte, kaum Bücher und wenig Bildung, somit auch keine Klosterschulen, Universitäten und Bibliotheken, war dies in den griechischen und katholischen Klöstern ganz und gar undenkbar. Bildungsorte wie etwa die Klosterbibliothek von St. Gallen oder die Klosterschulen Karls des Großen machten auch den Buchdruck möglich und dadurch indirekt Reformation, Aufklärung und die Trennung von Kirche und Staat. All das fand in der russischen Orthodoxie niemals statt. 

Was bei diesem großartigen Buch fehlt, ist ein systematisches Verzeichnis der zahlreichen Abkürzungen im Anhang. Die manchmal recht kleinteilige Darstellung der vielen regionalen, sprachlichen, literarischen, ethnischen und religiösen Gruppen erschwert die Lektüre ohne solche Hilfsmittel. Dem Ukrainer sind die Schreibweisen ukrainischen (und russischer!) Namen geläufig, dem deutschen Leser nicht. Die Stadt Saporischja und das gleichnamige Kernkraftwerk, das größte Europas, haben ihren Namen von dem einst dort gelegenen Saporoger Sietsch der Kosaken, einer hölzernen Festung unterhalb der Dnipro-Stromschnellen. Interessante Details wie dieses werden nie oder unvollständig und spät erklärt, was die Lektüre nicht gerade vereinfacht. Hier wäre noch Luft nach oben für eine überarbeitete zweite Auflage.


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