Wenn Staaten Pässe hätten, wäre darin 1914 als Geburtsjahr der Ukraine eingetragen, schreibt Hrytsak. Zugleich aber wäre diese moderne Staatenbildung nicht denkbar gewesen ohne die lange und blutige Geschchte der ukrainischen Nationsbildung. Daher setzt sein Buch mit der Geschichte der Rus ein und spannt den Bogen bis in die Gegenwart, wo sich die ukrainische Nation von einer ethnischen Identität zu einer zivilgesellschaftlichen Identität und schließlich Nation entwickelt hat, deren politische Kultur sich fundamental von der Russlands unterscheidet. Die Ukraine war immer Bauernland und Kornkammer, aber auch Grenzland zwischen den Einflussbereichen von Moskau, Konstantinopel (Istanbul) und Griechenland - mitsamt den entsprechenden religiösen Bekenntnissen und kulturellen Traditionen.
Identität stiftete dort nicht so sehr die Sprache, sondern das multikulturelle Zusammenleben freiheitsliebender Kosaken, selbstbewusster Bauern, Polen und Juden, die sich immer wieder gegen kolonialistische Gelüste der Österreicher, polnisch-litauischer Bojaren, russischer Zaren oder muslimischer Sultane zur Wehr setzen mussten, die es auf die Ernten des fruchtbaren Schwarzerde-Bodens in der Steppe abgesehen hatten. Das Lande ist flach, und bis auf die galizischen Sümpfe und den Strom Dnipro gibt es keine natürlichen Hindernisse für Händler, Armeen und Migranten. Auch dies ist eine der Besonderheiten für die geopolitische Lage der Ukraine.
Für mich neu und besonders faszinierend z.B. war die Beschreibung der klösterlichen Kulturen. Gab es bis weit ins 19. Jahrhunder hinein in der russisch-orthodoxen Welt, die auf Mündlichkeit beruhte, kaum Bücher und wenig Bildung, somit auch keine Klosterschulen, Universitäten und Bibliotheken, war dies in den griechischen und katholischen Klöstern ganz und gar undenkbar. Bildungsorte wie etwa die Klosterbibliothek von St. Gallen oder die Klosterschulen Karls des Großen machten auch den Buchdruck möglich und dadurch indirekt Reformation, Aufklärung und die Trennung von Kirche und Staat. All das fand in der russischen Orthodoxie niemals statt.
Was bei diesem großartigen Buch fehlt, ist ein systematisches Verzeichnis der zahlreichen Abkürzungen im Anhang. Die manchmal recht kleinteilige Darstellung der vielen regionalen, sprachlichen, literarischen, ethnischen und religiösen Gruppen erschwert die Lektüre ohne solche Hilfsmittel. Dem Ukrainer sind die Schreibweisen ukrainischen (und russischer!) Namen geläufig, dem deutschen Leser nicht. Die Stadt Saporischja und das gleichnamige Kernkraftwerk, das größte Europas, haben ihren Namen von dem einst dort gelegenen Saporoger Sietsch der Kosaken, einer hölzernen Festung unterhalb der Dnipro-Stromschnellen. Interessante Details wie dieses werden nie oder unvollständig und spät erklärt, was die Lektüre nicht gerade vereinfacht. Hier wäre noch Luft nach oben für eine überarbeitete zweite Auflage.
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