Seiten

Dienstag, 25. Januar 2022

Groß denken: Volker Brauns "Große Fuge"

Volker Braun, geboren 1939 in Dresden, hat sich als Lyriker mit 82 Jahren mal wieder neu erfunden: Sein Gedichtband "Große Fuge" ist nur 52 Seiten schmal (Suhrkamp Verlag, 16,- €) und doch ein poetisches Schwergewicht: 

                                              ein Trampelpfad

Aus den Systemen. Das ist deine Kunst jetzt,

Allein zu sein, mit allen, und ernst

Auf dich gestellt wie der Stein, der Halm

Und mitzudenken mit den Gebirgen und Meeren.


Einerseits naheliegend, dieses Zurückgeworfensein auf sich selbst in Zeiten der Pandemie und Lockdowns, andererseits doch dieses Mitdenken der Natur im Kampf gegen Klimawandel im Kleinen (Stein, Halm) wie im Großen (Gebirge, Meere). Da ist jemand nach wie vor hellwach als Zeitgenosse und nach wie vor fähig, mit wenigen Worten Großes auszudrücken ganz ohne falsches Pathos. Brauns Sprache ist hohe Kunst, der Anspruch des Dichters universal, bei aller persönlichen Bescheidenheit. Wer, wenn nicht der Dichter, kann der unfreiwilligen Isolation in seiner Schreibklause die "Reise ins Innere" und etwas Kreatives abtrotzen. Das wussten schon die Mystiker.

Der Titel erinnert an die "Todesfuge" von Paul Celan - angesichts der Millionen von Toten durch Covid 19 weltweit ist der Vergleich mit dem Holocaust der Nationalsozialisten kein Größenwahn, auch wenn das Virus ein Virus ist und keine Verbrecherbande. Die Opferzahlen bewegen sich in Dimensionen, die Leugnung und Verharmlosung der Pandemie und den agressiven Kampf gegen staatliche Schutzmaßnahmen aus der Sphäre von Privatmeinung oder Meinungsfreiheit herausfallen lassen. 

Mit dieser Art von "Requiem" ist dieses Buch sicher eines der ersten Kunstwerke, die sich ernsthaft und nachhaltig dem Thema annähern. Doch mehr als eine vorläufige Annäherung kann es nicht sein, zu vieles ist auch für wache Zeitgenossen oder gerade für sie noch unbekannt. Und Volker Braun ist niemand, der ohne Faktenwissen auch nur eine Zeile schreibt. Jeder seiner Verse hat eine faktische Grundierung. Spekulation ist seine Sache nie gewesen, schon zu DDR-Zeiten nicht ("Training des aufrechten Gangs").

Unüberschaubar sind politischer Aufruhr und Wetterwandel, vielleicht werden sie es bleiben. Nur Lyriker wie Volker Braun beobachten weiter, wie sich die Dinge entwickeln. "Die Stadt ist ruhiggestellt wie ein Pestpatient", notiert er, "Entmenschte Straßen, wie befreit / von der Krätze der Kunden": ein Vokabular zum Fürchten für Zustände zum Fürchten. Und dann: "Die Kanzlerin rät von sozialen Kontakten ab". Wortgewaltig, scharfsinnig, tiefschürfend. Das sind Gedichte, die einen umhauen können.


Keine Kommentare: