"Roter Schein". Gedichte. Pop Verlag Ludwigsburg, Kaukasische Bibliothek Band Nr. 21, 82 S., 16,50 € (D)
Der Dichter und Übersetzer Nika Jorjaneli (Sprich Dschordschaneli) wurde 1978 in Tbilissi geboren. Dort hat er an der Fakultät (heute: Institut) für Westeuropäische Sprachen und Literatur der staatlichen Universität Germanistik studiert. Von 1999 bis 2008 war er Deutschlehrer an einer deutschen deutschen Schule in Tbilissi, später unterrichtete Jorjaneli Georgisch an der
Staatlichen Linguistischen Universität Moskau. In Tbilissi veröffentlichte er mehrere Gedichtbände: "Die Empfindung von Samt" (2003), "Der Atem bei der Erstickung" (2008), "Lieder für zerrissene Saiten" (2010) und "Mexican Standoff (2010). Jorjaneli wurde 2008 in Moskau mit dem mit dem internationalen Preis „Sodruschestwo debiutow“ (Gemeinschaft der Debüts) ausgezeichnet.
Der
Lyrikband "Roter Schein" besteht aus Gedichten, die man als Kette allegorischer Darstellungen des
menschlichen Lebens nennen könnte. Schon der erste Text ("Vöglein") beginnt mit einer Natur-Idylle, die das lyrische Ich jäh zerstört: Im Sommer fliegen fast täglich kleine Vögel in seine Küche, berichtet der Dichter, ein kaum hörbares Geräusch auf dem Linolumboden "und ich - weiß auch nicht warum - scheuche die Vögel nach draußen." Doch dann fragt er:
"Warum bloß stören sie mich? Mögen sie doch reinkommen,
hier sein. Dies lässt mich denken,
dass wir ebenso auch unser Leben tagtäglich unbewusst
von uns wegstoßen..."
Er schreibt über die Zeit wie ein Philosoph und nennt sie unerheblich, weil vergänglich: "Das ist es, warum wir immer so gerne über die Ewigkeit debattieren." Für seine Liebeslyrik bemüht der Dichter den alten Mythos vom Sänger Orpheus, der seine Eurydike sucht, gibt jedoch der Geschichte eine originelle, ironische Wendung:
"Ich warte in allen Menschenmengen, die ich sehe, auf dich.
...
Ich aber sehe mich sicher nie um,
damit ich dich auch ja hinter mir spüre."
Lust und Last der irdischen Existenz hat für diesen Dichter immer auch ein Potenzial
zur Erlösung, selbst in den schrecklichsten Augenblicken der Aktualität. "An die Geisel, der man den Kopf abgeschnitten hat" schreibt er eine Bitte um Entschuldigung dafür, dass er sich just im Augenblick des Geiseltodes
"- unwissentlich -
Hals und Gesicht mit Wasser kühlte.
Vergib mir für meine Nichthilfe,
dafür, dass ich auf meine Art
auch zu jener Realität gehöre,
die dein Schicksal bestimmt hat..."
Voraussetzung für diese kathartische Erlösung durch Poesie ist die Reflexion der Gegenwart, schonungslos, mit offenen Augen. In anderen, balladesken Erzählgedichten greifen seine Verse das Bild eines Flusses für das Leben auf. Da entsteht eine Dystopie über "Wälder voll ausgestorbener Primaten" an den Ufern. Dann kentert das Boot, und "Wir haben kaum eine Wahl: / Den Tod an den Steinen oder der Strömung zu folgen." Während menschlicher Besitz strudelnd im Fluss versinkt, treiben die Überlebenden davon. Alle Hoffnungen schluckt der Fluss, auch die Ufer haben nichts außer Hoffnungslosigkeit zu bieten, weil es keine Erlösung gibt außer der Erkenntnis: "Vielleicht ist auch die Strömung selber die Erlösung."
Wie ein Schiffbrüchiger taucht der Autor immer wieder ein in den Fluss der Geschichte und des Lebens, mal hat er den Kopf über Wasser, mal nicht. Er taucht ein in seine
innere Welt und ist ständig auf der Suche nach einem Ausweg aus einer
Leere, die nur durch kreatives Denken überwindbar zu sein scheint. Dieser Ansatz des Denkens und Schreibens ist nicht frei von Rätselhaftem. Er feiert das Dunkel geradezu.
Rätselhaft ist schon der Titel dieses Buches: "Roter Schein". Und wer so naiv ist zu glauben, er könne beim Lesen der Verse im Titelgedicht dann die Auflösung" (siehe Erlösung!) finden, muss am Ende feststellen: Lyrik ist kein Sudoku. Je weniger dieser Lichtschein beachtet wird, desto intensiver ist er:
"Seine Herkunft ist unbekannt.
Unklar ist sein Ursprung.
Bei manchen alten Cabriolets findet man Schlusslichter,
die ihm ähnlich sind.
...
Ihr könnt ihn nur sehen.
Ihr seid nur dafür da,
um auf diesen roten Schein zu schauen.
Um am Ende
auf einen roten Schein zu schauen."
Es hat etwas Hypnotisches, wie das Gedicht in zahlreichen Wiederholungen und Varianten dieses Verses ein rotes Licht im Dunkeln anstarrt. Es könnte auch einfach eine rote Ampel sein. Die Beleuchtung eines Etablissements für käuflichen Sex. Oder ein ewiges Licht der Andacht. Aber es ist kein Sudoku. Daran muss ich beim Lesen noch viele Seiten später denken bei einem Vers, der mich anspringt wie einer der Merseburger Zaubersprüche, so unmittelbar, mit einem dermaßen enormen Sog. Da ist er wieder, der Fluss: "Kehr bloß nicht in die Stadt zurück, wenn du sie mal verlassen hast." Und wer es doch tut, wird sehen, es ist alles ganz anders.
Dieser Gedichtband ist mit 82 Seiten kein dicker Wälzer, aber er hat es in sich. Poetischer Existenzialismus, würde mein Sudokuhirn vorschlagen. Aber ich bleibe skeptisch. Dieses Buch ist so viel mehr. Es ist dunkel, schön und anstrengend wie eine Liebesnacht.
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