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Montag, 22. Juni 2020

Frauen-Lyrik aus Georgien: Vielfalt und Niveau

Band 24 der Kaukasischen Bibliothek beim Traian Pop Verlag in Ludwigsburg präsentiert weibliche Lyrik aus einem kleinen Land (3,7 Millionen Einwohner) mit großer literarischer Tradition: 104 Seiten, 16,50 € (D). Herausgeberinnen sind Professorin Manana Tandaschwili aus Frankfurt / Main und Irma Shiolashvili, die auch die Übersetzung aus dem Georgischen besorgt hat. Nachgedichtet und mit einem Nachwort versehen hat sie Sabine Schiffer aus Bremen.

Der schmale Band enthält einen Querschnitt der zeitgenössischen Dichtung von Frauen - jeweils 2-3 Gedichte mit kurzen biographischen Porträts der Autorinnen.
Der Titel "Ich bin viele" greift einen Text von Rusudan Kaischauri auf, der sich in poetischer Brechung mit dem Multitasking-Alltag einer berufstätigen (allein erziehenden?) fünffachen Mutter auseinandersetzt. Die Autorin (auf der Umschlag-Collage die erste links in der zweiten Reihe von oben) spielt selbstironisch in der dritten Person ein Mini-Rollenspiel mit Varianten ihres Vornamens Rusudan. Die erste muss sich selbst finden, die zweite schreibt mit Herzblut Gedichte, die dritte muss Geld verdienen, die vierte Märchen erzählen, die fünfte managt ein Mutter-Kind-Unternehmen, die sechste terrorisiert als Pädagogin und Hirtin die Familie, die siebte (Rusoia) ist in ihrer Heimat ein sagenhaftes Mannweib mit frommen Anwandlungen und koketten Marotten, die achte schließlich eine schlechte Hausfrau:

Beim Waschen ist sie klein geworden
und eingegangen.
Man fragt mich immer Werbistdu?
und ich antworte mit elender Stimme:
Ich bin fünffache Mutter.

Erst am Schluss gibt die Autorin die Distanz der dritten Person auf. Nach diesem eher depressiven Auftakt folgt das Gedicht "An das Schwänzen in der Poesie". Wieder versteckt sich das lyrische Ich in der Distanz der dritten Person. Wieder wird diese dritte Person vom Leben und von der Liebe enttäuscht. Doch dann heißt es:

...dem Leben selbst warf sie
einen Kranz aus Lorbeerblättern über,
um ihm dessen Geschmack zu verleihen.
In der Poesie liebte man sie wirklich,
weil sie oft das Leben schwänzte.

Das dritte Gedicht (Ich und der Engel) gibt dann die dritte Person auf, nicht aber die Selbstironie. Das lyrische Ich darf albern sein, sogar der Engel spielt nach seinen Regeln: "Ich hatte sehr viel Glück." 
Rusudan Kaischauri (geboren 1957) ist wohl die Seniorin des Sammelbandes. Die meisten Autorinnen sind deutlich jünger. Die Stimmen sind vielfältig, die Eindrücke bei 2-3 Texten zwangsläufig oberflächlich. Doch es ist eine sympathische, professionell wirkende Vielfalt, die durchaus neugierig macht. Irma Schiolaschwili (1969 in Ostgeorgien geboren) hat eine ungewöhnliche Laufbahn eingeschlagen. Nach dem Journalismus-Studium in Tiflis und der Arbeit beim staatlichen Rundfunk ging sie 1998 nach Bonn und promovierte 2005 über deutsche und georgische Nachkriegslyrik. Sie lebt in Deutschland. Ihre Übersetzungen und die in Deutschland  publizierten Lyrikbände "Eine Brücke aus bunten Blättern" (2012) und "Kopfüber" (2018)  verschmelzen die Welt ihrer Herkunft sprachlich mit ihrer heutigen Lebenswelt.
Fast alle der vorgestellten Autorinnen haben in Tbilissi (Tiflis) studiert und gehen einem Brotberuf nach. Auch wenn Georgien ein Leseland mit vielen Poesiefans ist, kann doch keiner so viele Bücher kaufen, dass alle davon leben könnten. Umso erstaunlicher, dass all diese Dichterinnen bereits in mehrere Sprachen übersetzt wurden und an Lyrik-Festivals im In- und Ausland teilgenommen haben. Danach würde sich mancher deutsche Lyriker alle Finger lecken.
Tea Topuria (1976 geboren in Suchumi, Abchasien) schließlich möchte ich hervorheben wegen der engen Verknüpfung ihres Schreibens mit der aktuellen Geschichte Georgiens. Da wird aus Liebeslyrik eine Trauerklage um den kurz vor den Flitterwochen gefallenen Mann. "Wir hätten im Sommer nach Suchumi fahren sollen", heißt es in dem langen Gedicht "Es hätte alles ganz anders sein sollen...". Das Gedicht erzählt von Schulfreundinnen, die nach dem Abchasienkrieg, bei dem die georgische Mittelmeer-Provinz 1994 an Russland verloren ging, "Witwen für unbekannte Soldaten" waren, "die loszogen, bevor wir sie kennenlernten, / die loszogen nach Suchumi."
Ein schmaler Band, wie gesagt, aber prall gefüllt mit poetischer Frauenpower. Er schlägt bereits viele Brücken zwischen den Kulturen Deutschlands und Georgiens. Er bringt uns das Fremde, bisher so Ferne, deutlich näher.

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