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Samstag, 7. Dezember 2019

Poesie als Kulturbrücke - Das DIVAN-Lesefest


Safiye Can liest
Highlights beim Lesefest "200 Jahre West-östlicher Divan": In der Internationalen Bachakademie Stuttgart machte am 29.11. den Auftakt die Lyrik-Bestsellerautorin und Else-Lasker-Schüler-Preisträgerin Safiye Can aus Offenbach am Main. Sie hat tscherkessische Eltern und kann Menschen für Poesie begeistern. Das zeigt nicht nur die einmalige Tatsache, dass sie nur durch ihre Lesungen bekannt wurde, noch bevor überhaupt ihr erstes Buch erschien. Sie ist bezeichnenderweise ebenso erfolgreich mit Gedicht-Schreibwerkstätten für Schüler aller Altersgruppen wie als Gastdozentin mehrerer Universitäten in Deutschland und in den USA. 

Safiye Can und Fan
Hardcore-Fans von Safiye Can kamen sogar eine Stunde weit angereist - trotz einer total verstopften Stuttgarter Innenstadt wegen Großdemonstrationen zum Auftakt des Welt-Klimagipfels in Madrid. Die Aktivisten der Gruppe "Kesselbambule", die nicht zum ersten Mal spontan wichtige Kreuzungen blockiert und so die ganze Stadt zur Geisel genommen haben, mag ich jetzt definitiv nicht mehr. Wer haftet eigentlich für die rund 1500 € Schaden, den sie uns damit zugefügt haben? Vom kulturellen Schaden ganz zu schweigen...


Die tunesische Lyrikerin und Fraunrechtlerin Najet Adouani aus Berlin las arabische Lyrik, die ihr Exil in Deutschland thematisiert. Sie mit ihre "deutsche Stimme" Dorothea Baltzer aus Stuttgart verstanden sich prächtig. Das waren inszenierte Gedichte mit arabischer Körpersprache und viel Humor. Auch hinterher waren die beiden ein Herz und eine Seele.


Traian Pop
Der Lyriker und Verleger Traian Pop aus Ludwigsburg ist als Rumäniendeutscher in zwei Kulturen aufgewachsen und liebt eher Rock als Goethe, ist aber ein großer Fan von Übersetzungskultur und multikulturellen Begegnungen. Er hat eine rumanische Schule besucht ("Deshalb ist auch mein Deutsch bis heute so schlecht"), und deshalb spielte Goethe in seinem Leben keine Rolle. Doch seine Gedichte und seine Biographie stehen für eine oft vergessene Facette der Ost-West-Beziehungen vor dem Niedergang des Eisernen Vorhangs, die er intensiv spüren lässt, etwa in seinem Gedicht "Schieflage" über eine Autofahrt von seiner Heimatstadt Brasov (Kronstadt) nach Deutschland.  

Der rumänische Grenzer sah mich schief an.
Der ungarische Grenzer sah mich schief an.
Der österreichische Grenzer sah mich schief an.
Der deutsche Grenzer sah mich schief an.
Was für eine Schieflage!

Am Samstag las die Autorengruppe "Literally Peace" im Globalen Klassenzimmer des Welthauses über dem Weltcafé. Die junge, autonome, deutsch-syrische Autorengruppe arbeitet mit Blogs und Lesungen an einer internationalen Verständigung (Amtssprache Englisch) und nimmt Friedensarbeit wörtlich.
Moderator Steffen Gärtner hatte eine Skype-Lifeschaltung zu einer syrischen Autorin in Beirut auf Arabisch und Englisch samt Übersetzung ins Deutsche zu bewältigen, andere Syrer und Deutsche aus dem Umgebung Stuttgarts lasen life ihre Texte in deutscher Sprache vor und erzählten (jetzt ebenfalls auf Deutsch) im Künstlergespräch von ihren verschiedenen Schreibweisen, die sich durch die Gruppe immer globaler entwickeln: Man will nicht nur für Leser in einem einzigen Land schreiben. Auch das Publikum konnte sich beteiligen und wollte vor allem wissen, wie sich die Mitglieder der Gruppe organisieren und vernetzen.

Skype-Lesung im Globalen Klassenzimmer
Mal ist die Gruppe nur poetisch aktiv, mal auch ausgesprochen politisch. Hier war beides der Fall. Neben journalistischen Formen wie der Reportage und Kurzprosa stehen gleichberechtigt Gedichte und Songs, die meist vor der Veröffentlichung einen kollektiven Prozess bei solchen Lesungen durchlaufen.

Ruth Loosli im Zimmertheater
Am gleichen Abend ging es im ABV-Zimmertheater weiter. Die Schweizerin Ruth Loosli las ihre deutschen Sufi-Gedichte, die von Rumi und dessen "kleiner Schwester" Lallachi aus Indien inspiriert sind. Nach Ansicht anwesender Fachleute hat Loosli den Sufismus besser verstanden als viele, wenn nicht die meisten Muslime. Ihre Gedichte können tanzen. Das war zu hören und begeisterte speziell die Musiker im Publikum. Die Autoren rezitierte im Stehen und erzeugte eine dramatische Wirkung, die absolut in dieses fast intimeTheater mit seinen 50 Sitzen passte.

Yamen Hussein (l.) und Michael Speer (r.)
Yamen Hussyein aus Homs las seine Gedichte mit viel Humor und betonte im Gespräch, dass die Feinde von Demokratie und Freiheit nicht nur in Syrien sitzen, sondern überall - auch in Deutschland. Was Humor und Politik miteinander zu tun haben, illustriert ein Detail, das er aus der Geschichte seiner Heimatstadt erzählte: Als Tamerlan, der auf dem Weg von Bagdad nach Damaskus war, mit seinem Heer auf Homs zukam, zogen ihm die Bewohner entgegen und tanzten lachend und singend mit Masken und Kostümen zur Begrüßung vor dem blutrünstigen Feldherrn. Dessen Berater hielten die Bewohner für verrückt und fürchteten, sie könnten etwas Ansteckendes haben. Daraufhin zog das Mongolenheer weiter und verwüstete Damaskus. Noch heute sind die Leute aus Homs für ihren sarkastischen Humor und ihre Witze bekannt. Kann ja durchaus ansteckend sein...
Yamen Hussein lebt in Leipzig und brachte zum Essen beim Italiener (der einen prima Weißwein hat, wie Yamen meinte), einen syrischen Freund mit, der in Stuttgart arbeitet. Seine "deutsche Stimme" war Michael Speer, der vom Timing seines Parthers beim zweisprachigen Rezitieren ganz hingerissen war. 
Künstlergespräch im ABV-Zimmertheater
Die Runde war sehr glücklich über die ausgeprägte deutsche Übersetzungskultur, die viele Kulturen einander näher bringt. Trotzdem: So eine persöniche Begegnung ist durch nichts zu ersetzen. Sie setzt den Dialog zwischen Goethe und Hafis fort, die Yamen an der Schule selbstverständlich kennengelernt hat - für uns keineswegs etwas Selbstverständliches. Goethe gehört inzwischen selbst an Gymnasien nicht mehr ohne Weiteres zum Lehrplan. Einig war man sich darin, dass organisierte Religion wie Politik zwar oft Stoff für Witze und Kabarett liefert, selbst aber völlig humorlos ist. Wo Tanz, Musik und Poesie der Freiheit huldigen, wittern Fanatiker aller Coleur stets Verrat an hohen Idealen, gar an "Grundwerten" der Verfassung oder den "Heiligen Schiften". Kunst muss frei sein. Ohne Freiheit kann sie nicht atmen.


Yukiko Naito-Fendrich und Cornelia Lanz
Der Abschlussabend am Sonntag, dem 1. Dezember (und 1. Advent) im Alten Feuerwehrhaus Süd bestand aus drei Teilen. Den ersten gestaltete die Mezzosopranistin Cornelia Lanz mit ihrem Team, d.h. mit der Pianistin Yukiko Naito-Fendrich: romantische Lieder von Franz Schubert, Robert Schumann, Hugo Wolf und Richard Strauß nach Gedichten aus Goethes "Westöstlichem Divan". Um alles Süßliche fern zu halten, gab es zwischen den Blöcken Einschübe mit einem starken Kontrast: Zaher Alchihabi (Aleppo) sowie Nahida und Omar Kodaimi aus Damaskus (heute leben sie in Stuttgart) trugen uralte Texte aus dem Zweistromland auf Arabisch vor, die schon Hafiz und Goethe inspiriert haben: u.a. Teile aus dem Gilgamesch-Versepos und des Sonnengesangs von Echnaton.

Schlussapplaus für das "Team Zukunft Kultur"
Diese archaisch und urtümlich klingenden Texte der Mitglieder des Vereins "Zukunft Kultur" ergänzten Jule Hölzgen und Orlando Schenk von der Akademie für gesprochenes Wort mit den deutsche Nachdichtungen. Das ganze "Team Zukunft Kultur" trat auf wie im Theater und wurde auch gefeiert wie im Theater. Kaum zu glauben, dass die deutschen und arabischen Rezitatoren lediglich am Nachmittag des gleichen Tages eine einzige gemeinsame Probe hatten. Es saß wirklich alles, als hätte es schon 20 Aufführungen gegeben.


Cornelia Lanz und Ahmet Gül
Bevor ich nach der Pause Gedichte aus meinem neuen Band "Suleikas rebellische Kinder" las, sangen Cornelia Lanz und der Esslinger Bariton Ahmet Gül das Duett "Bei Männern, welche Liebe fühlen" aus Mozarts Oper "Die Zauberflöte" zusammen. Das war einer dieser magischen Momente: eine Kulturbrücke pur. Mozart ist eine solche Brücke für den Sänger Ahmet Gül, der Sufi-Musik ebenso liebt wie Bach oder deutsche Opern. Die beiden aber gaben mit ihrem Duett ein sehr symbolisches Bild dieser Brücke ab. Das Publikum tobte.

Frierender Lyriker
Dann durfte ich aus meinem neuen Lyrikband lesen: "Suleikas rebellische Kinder". Meine Gedichte thematisieren erotische Orient-Romantik ebenso wie das Gewalttätige in der uralten Ost-West-Beziehung, den Intifada-Aufstand ebenso wie die Kinder des IS und den westlichen "Krieg gegen den Terror", der oft genug mit einer Lüge begann. Formal an Goethe und die Strucktur seines "Divans" angelehnt, sind meine Gedichte doch eine freie Fortschreibung seiner Auseinandersetzung mit islamischer Kultur bis heute. Es ist ja auch einiges geschehen seither.
Meine Texte enthalten viel Spruchdichtung, die im Orient sehr beliebt ist. Sie flektieren Begegnungen mit arabischen oder türkischen Dichtern (z.B. mit Fuad Rifka oder Hasan Özdemir), die auf unterschiedliche Weise als Brücken zwischen den Kulturen gearbeitet haben, Lektüre, Reisen (etwa nach Andalusien, von dessen arabischen Literaten Goethe noch keine Ahnung hatte, oder Marokko und die Türkei) sowie die reiche Kultur des Emirats von Córdoba, ein muslimisches Mittelalter vor unserer europäischen Haustür.
Das alles kann man heute als friedlicher Tourist besichtigen, auch in Toledo, Granada und Sevilla mit den vielen Zeugnissen friedlichen Zusammenlebens von Juden, Christen und Muslimen. Die gab es nur unter islamischer Herrschaft. Schon drei Jahre nach der Eroberung von Granada, dem Ende der "Reconquista" im Jahr 1492, brachen die ach so kaholischen Könige des vereinten Spanien ihr Versprechen von Religionsfreiheit, freier Berufsausübung, der Unantastbarkeit des Besitzes und kultureller Autonomie für die Muslime Andausiens. Im gleichen Jahr 1492 erschien die erste spanische Grammatik und entdeckte Kolumbus Amerika - unzweifelhaft von zentraler Bedeutung für die nationale Identität Spaniens. Doch auch die Eroberer Amerikas veranstalteten "im Zeichen des Kreuzes" und der Mission einen beispiellosen Raubzug, verbunden mit dem Genozid an zahlreichen indigenen Völker. Das ist ebenfalls Teil der spanischen Geschichte, wie der Holocaust zur deutschen Geschichte gehört.
Die Katholischen Könige Ferdinand und Isabella verantworten mit der Vertreibung von drei Millionen muslimischen Bürgern auf den Rat des ersten Großinquisitors Cisneros hin nicht nur eine der größten ethnischen Säuberungen der Geschichte, sondern auch das Ende der religiösen Toleranz in Spanien. Was die Rassisten aller Epochen und vor allem die der spanischen Rechten Francos gern verschweigen: Schon Cisneros phantasierte von einer biologisch unmöglichen "pureza de sangre" (Reinheit des Blutes) und "pureza de raza" (Reinrassigkeit). Hier liegt also die ideologische Wurzel des Rassenwahns, nirgends sonst! Ich liebe Spanien und seine Kultur, aber wer sich dieser Geschichte nicht stellt, hat Spaniens zwei Gesichter nicht verstanden. 1492 oder auch zur Zeit Goethes wussten es die Menschen wohl nicht besser; aber heute kann das niemand mehr für sich behaupten. So viel zum historischen Kontext meiner Gedichte an dieser Stelle.

Mein blinder Freund Ahmet leitet den türkischen Kulturverein Turkuaz e.V. Stuttgart, dessen Ensemble nach meiner Lesung ein großartiges Finale hinlegte. Chor und Orchester boten stimmungsvolle Lieder aus dem 16. und 17. Jahrhundert, aber auch zeitgenössische türkische Musik mit einem Weihnachtsbaum auf der Bühne. Ohne Ahmet, der ebenso fröhlich wie nachdenklich sein kann, hätte es das ganze Festival nicht gegeben. Herzlichen Dank an alle Mitwirkenden, die Helfer und das Publikum, nicht zu vergessen Birger Laing von der Akademie für gesprochenes Wort, der unermüdlich die Büchertische betreute, sowie die Autorenbetreuer für die fremden Gäste in der verbaustellten Stadt! Alle haben sich wohlgefühlt und das Publikum kam jedes Mal auf seine (geringen) Kosten. Das waren unvergessliche Abende.

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