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Sonntag, 14. Juli 2013

Rossinis "Guillaume Tell": Große Freiheitsoper in Bad Wildbad


"Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr"
Es passte aber auch wirklich alles bei der Premiere der Oper "Guillaume Tell" von Gioacchino Rossini am 13. Juli in Wildbad: Wetter, Musik, Bühnenbild, Regie, auch die politischen Kämpfe um demokratische Freiheiten in Ägypten, in der Türkei, aber auch in den Ländern des "Westens", die einen aktuellen Hintergrund bildeten.
Alles zusammen ergab am ersten großen Opernabend der Saison im Schwarzwald die Premiere einer grandiosen Freiheitsoper. Zum 25. Geburtstag des Festivals "Rossini in Wildbad" hätte es nicht besser laufen können: Das Ganze wurde zu einem musikalisch-theatralischen Rütlischwur, der das Publikum zu Beifallsstürmen hinriss. Regie führte diesmal der Intendant Jochen Schönleber persönlich, die musikalische Leitung lag in den bewährten Händen des erfahrenen Rossini-Dirigenten Antonino Fogliani, und auch sonst wurde nichts dem Zufall überlassen.
Der Camerata Bach Chor lief zu großartigen Leistungen auf, das Orchester Virtuosi Brunensis (die Musiker aus Brünn sind ebenfalls Stammgäste in Wildbad) war in glänzender Spiellaune. Robert Schrag hatte eine stilisierte Gebirgslandschaft als Bühnenbild geschaffen, das mit 20 Meter Tiefe für die Massenszenen mit Schweizer Milizionären ebenso intelligente Lösungen anbot wie für Augenblicke intimer Zweisamkeit im Hause Tell oder bei den Liebesduetten zwischen Arnold Mecthal und der designierten Regentin Mathilde von Habsburg. Die Kostüme von Claudia Möbius, die deutsch-französischen Übertitel von Reto Müller, die Choreographie von Matteo Graziano für die Balletteinlagen passten ebenfalls bis aufs i-Tüpfelchen.
Für eine Oper von über vier Stunden ist es eine enorme (und seltene) Leistung, Rossinis Auftragsarbeit Pariser Opéra überhaupt zu stemmen. Die wollte im Entstehungsjahr 1828 nicht einfach eine Oper, sondern bereits ein Gesamtkunstwerk, in dem Musik mit anspruchsvoller Literatur, Tanz und bildender Kunst zu verknüpfen sei. Diverse Komitees prüften akribisch die Balletteinlagen, die historisierenden Kostüme, bei der Inszenierung vor allem die Bewegung der gewaltigen Chöre. Es gab Vorschriften, die bis in die Besetzung hinein reichten. Daher die Länge des Werkes - und daher auch die Länge der Produktionszeit. Rossini, der sonst schon mal eine komplette Oper in ein- bis zwei Monaten auf die Bühne stellte, brauchte hier anderthalb Jahre bis zur Uraufführung des "Tell" am 3. August 1829 an der Académie Royale de Musique.
Das Ergebnis ist ein unerhörter Reichtum an musikalischen Einfällen, Chorsätzen, Arien, Duetten, Terzetten, Quartetten und Ensemblenummern. Rossinis legendäre melodiöse Vielseitigkeit und Vielstimmugkeit erreicht hier einen Höhepunkt des Schönklangs, der zugleich Schlusspunkt war. Mit seinem angekündigten Rückzug vom Opernschaffen und mit angeblichen Krankheiten hatte er seinen Marktwert so in die Höhe getrieben, dass nur noch der Ruhestand blieb, den der Komponist insgeheim längst wollte.
Der "Tell" ist in mehrfacher Hinsicht eine ungewöhnliche Oper, nicht nur durch seine Länge und musikalische Kraft. Es ist die französische Oper eines Italieners mit einem Libretto von Étienne de Jouy und Hippolyte Bis zum Gründungsmythos der Schweiz - nach dem Drama des Deutschen Friedrich Schiller: ein wahrhaft europäisches Werk also. Es war aber auch immer ein "work in progress", denn schon nach der Pariser Uraufführung floss die Aufnahme durch Presse und Publikum in immer neue Varianten ein, bei denen der Zeitgeist keine unerhebliche Rolle spielte. Es gab zahlreiche Bearbeitungen und häufige Zensureingriffe wegen der revolutionären Dynamik mit Tyrannenmord und Freiheitsrufen. Es gab aber auch Kürzungen (vor allem bei den extrem langen Tanzeinlagen) von vier auf drei Akte.
Schon während der Ouvertüre verknüpfte die Regiedas Geschehen klug mit zeitgenössischen Assoziationen zur "Arabllion" und der "Blockupy"-Bewegung. Die Misshandlung von Frauen und Zivilisten, die Demütigung und Unterdrückung der Völker durch Regierungen so genannten Global Player (damals Habsburg), die sich außerhalb der Gesetze stellen und grausame Sippenhaft üben, fand ihre nonverbale Entsprechung in getanzten Sequenzen. Der Sohn Tells (Jemmy, eine fulminante, sich vom stummen Statisten zum Heldensopran steigende Hosenrolle mit Tara Stafford), der vom Opfer zum Helden des Widerstandes gegen Gessler wird, die Chöre der Frauen und Männer, die den Gessler-Hut grüßen müssen und auf Gewalt mit Gewalt reagieren: das alles steigert sich zum Volksaufstand gegen Tyrannei, dem sich sogar die designierte Regentin aus Liebe zu Arnold anschließt, dem Sohn des ermordeten alten Macthal. Die Perversion der alpinen "Kuhreigen"-Volkstänze zum demütigenden Erschöpfungs-Tanzritual zu Gesslers Ehren gerät ein wenig arg lang, aber so steht´s halt in der Partitur. Und dass im französischen Libretto Habsburg als der Erbfeind aus Deutscland erscheint: geschenkt.Zu seinem 25. Geburtstag hat Wildbad sich und dem Publikum eine vollständige Aufführung nach der kritischen Ausgabe der Partitur der "Fondazione Rossini" in Pesaro gegönnt, die als neue Referenzgröße dienen dürfte. Dafür wird schon die Aufzeichnung des SWR sorgen, die in ein- zwei Jahren als CD bei NAXOS oder SWR Classics erscheinen wird.
Andrew Foster-Williams als Tell
Rossinis Tell ist radikaler als der von Schiller, aber einen blindwütigen Fanatiker, den Intendant Schönleber hier sieht, zeigte die Aufführung eigentlich nicht. Nur einen, der sich dem Landvogt Gessler mehrfach ganz offen widersetzt und dafür auch in Ketten gelegt wird und beim Apfelschuss aus Liebe zu seinem Kind Qualen leidet, konnte man erleben: durchaus psychologisch glaubwürdig bis hin zum finalen Tyrannenmord. Motivation: zusätzlich hat Rossinis Gessler nach dem Apfelschuss auch Tells Sohn in Sippenhaft genommen und bedroht den geflüchteten Schützen rachsüchtig und wortbrüchig mit dem Tod. Andrew Foster-Williams gab ein überzeugendes Debüt als britischer Wilhelm Tell, stimmgewaltig und trittsicher.
Auch die übrigen Solisten waren sorgfältig ausgesucht. Der amerikanische Tenor Michael Spyres sang einen starken, klaren Arnold Mecthal, der trotz seiner Liebe zu Mathilde als Heerführer Rache für seinen ermordeten Vater nimmt. Er hatte seine besten Auftritte in den Liebesduetten mit Mathilde (die Britin Judith Howard, die zuletzt in Hesinki in Verdis "Don Carlo" und in Minneapolis die Titelrolle in Puccinis "Madame Butterfly" sang): ein musikalisch wie psychologisch stimmiges Paar, das die Abgründe eines zwiespältigen Weges durch beschädigte Loaylitäten zum privaten Glück souverän bewäligte.
Zu den Entdeckungen dieser Aufführung dürften zwei junge Sänger gehören, die noch am Anfang ihrer Laufbahn stehen und sich hier eindeutig für Größeres empfohlen haben: der argentinische Bass Nahuel Di Pierro, der mit großer stimmlicher Präsenz den Eidgenossen Walter Fürst sang und in famoser Maske auch den alten Vater Mecthal), sowie die bereits erwähnte Tara Stafford aus Baltimore im burschikosen Punk-Look. Ihr glockenreiner, durchsetzungsfähiger Koloratursopran begeisterte nicht nur die Zuschauer, sondern auch ihre Mitsänger. Die Bösewichte Gessler (Raffaele Facciola, Bass) und Rodolphe (Giulio Pelligra, Tenor) waren stimmlich eher farblos; aber das könnte sogar Absicht einer Besetzung gewesen sein, die strahlende Helden in den Vordergrund rückte.
Das Arrangement des Tell-Abends war in mehrfacher Hinsicht ein Experiment. Um den langen Operngenuss zu erleichtern, hatte im Hotel "Rossini" (vormals "Bären") in einer großen Pause ein Abendessen angerichtet, von dem man rechtzeitig zum 3. Akt wieder zurück bei der Aufführung in der Trinkhalle sein konnte. Ein Wermutstropfen muss trotzdem in den guten Wein dieses Abends: viereinhalb Stunden verlangen dem Sitzfleisch schon einiges ab, vor allem wenn ältere Leute mit Rückenproblemen zu kämpfen haben. Dass aber anscheinend zwei Sitzreihen mehr als bisher in die Trinkhalle gezwängt wurden, sorgte für qualvolle Enge selbst bei mittelgroßen Opernfreunden, die im Flugzeug noch Economy fliegen können, ohne ständig mit den Knien an die Lehne des Vordersitzes zu stoßen. Für ein paar verkaufte Karten mehr mussten alle leiden. Ich will nicht hoffen, dass die Standing Ovations am Ende auch mit dem Drang zu tun hatten, sich aus dieser schmerzhaften Eingeklemmtheit zu befreien.

Beim Schlussapplaus vereinigt: Gut und Böse bei Rossinis "Tell" in Bad Wildbad


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