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Samstag, 9. Juni 2012

C(H)OEURS: Chöre, Herzen - niederschmetternd, erhebend


Probenfoto: Chris van der Burght

Bei den Ludwigs­burger Schlossfestspielen hatte gestern (08.06.) ein ungewöhnliches Musik- und Tanztheaterprojekt Deutschland-Premiere: C(H)OEURS. In dieser lautmalerischen Zusammenfüh­rung der Wörter „Chöre“ und „Herzen“ lässt der belgi­sche Choreograph Alain Platel zum ersten Mal über­haupt Opernchöre von Verdi und Wagner gleichzeitig singen und tanzen. Um es gleich zu sagen: Es war ein Experiment, und es ist großartig gelungen. Wir leben in Zeiten des Umbruchs und Aufbruchs, und kaum ein Komponist hat die Gefühle der Massen, ihre destruktive und konstruktive Kraft sowie das zwiespältige Ausgesetzsein des Individuums in solchen Verhältnissen dramatischer, wirkungsvcoller umgesetzt als Verdi und Wagner. Beide waren politisch eengagiert, und beide komponierten viele große Opernchöre im Revolutionsjahr 1848.

Mit der Wucht des "Dies irae" (Tag des Zorns) aus Verdis "Messa da Requiem" singt der Chor des Teatro Real in Madrid zum Auftakt im Dunkeln, fulminant begleitet von dessen Orchester unter der Leitung von Marc Piollet. Eine kopflose Gestalt steht reglos im Spot eines Scheinwerfers, nur Finger tentakeln tastend im Raum. Die Körpersprache des Tänzers im weißen Sterbehemd vermittelt Angst, Ausgeliefertsein, Hilf- und Machtlosigkeit im Angesicht des Todes. Die Choreographie erzählt eine Geschichte der großen Gefühle in Zeiten der Finanzkrise, der arabischen Revolution, der Occupy-Bewegung: Kampf, Revolte, Auflehnung, unglaubliche Brutalität auf der einen Seite, Menschlichkeit, Solidarität, ja Liebe auf der anderen. Dazwischen Opfermut und unschuldiges Leid. Die Revolution frisst ihre Kinder: Anrührend, wie der Chor zwei Kinder in einem zur arabischen Beerdigung umgedeuteten Crowd-Diving von der Bühne trägt. Aber ein durchdrehender Kalpitalismus frisst uns alle.
Wagners "Wacht auf" aus den Meistersingern wirkt hier ebenfalls hoch politisch und bleibt keineswegs in der Naturidylle des Librettos stecken: "Der Tag geht auf im Orient". Immer schin war die Morgenröte auch ein politisch besetztes und vereinnahmtes Bild von großer Kraft.

Probenfoto: Chris van der Burght
Zweifellos inspiriert von Stéphane Hessels Kampfschrift "Empört Euch!", lässt Platel die Solisten zunächst stumm agieren. Wie Knebel tragen sie ein Stück Wäsche im Mund. Wie in Trance winden sie sich zeitweilig auch ohne Musik zu eingespielten Herztönen oder kargen Sätzen auf Französisch und Englisch, z.B. "Das Problem ist nicht Russeau oder der Marxismus, das Problem ist, was wir daraus gemacht haben." Aber das ist kein Libretto, das ist eher ein Impulsreferat en miniature.
Die Hauptrollen spielen Musik und Tanz, die emotionalsten der menschlichen Künste. Und der Chor, die Masse - in kreativer Spannung mit den Solisten. Ohne Zweifel auch, man merkte das spätestens am Schluss bei den endlosen Bravos und den stehenden Ovationen des Publikums, war hier das das Cranko-geschulte Stuttgarter Publikum. Im Saal schien ein Konzentrat der "Wutbürger" unter sich zu sein, die eine Regierung abgewählt, die Energiewende erzwungen und dann doch eine Volksabstimmung über "Stuttgart 21" verloren haben.

Der Funke sprang über, weil die Sprache von Musik und Tanz bei CHOEURS nicht nur Aufruhr und Triumph, sondern auch die Verlorenheit der Opfer, die Katatonie der Gefolterten, die Trauer der Überlebenden vermittelt. Wie oft muss ein Deja-vu durchs Publikum gelaufen sein wie eine Welle, eine Erinnerung und ein Verstehen auch entfernter Zusammenhänge. Wagners Vorspiel zum 1. Akt des Lohengrin und ähnliche Stücke "untermalten" die stilleren Sequenzen, die von Hoffnungen und Illusionen künden und doch genug Leerstellen lassen, um beim Betrachter eigenes zuzulassen. "Patria opreessa" aus Verdis "Macbeth" oder der Gefangenenchor aus "Nabucco" erfuhren so eine Intensität und Aktualität, die anrührt.

Liebe am Ende - auch über den Opfern der Gewalt, überwindet auch in dieser Nicht-Erzählung die Grenzen von Tradition, Wahrnehmung, Geschichte und Kunstgattungen. 
Dass die Chormitglieder sogar einen Haka tanzen, jenen Imponiertanz der Maori in Neuseeland, ist eine von vielen solcher Grenzüberwindungen. Dass im Paartanz auch die Rollen wechseln wie die Kleidung, auch diese Botschaft kam an. Platel ist es gelungen, eine Einheit zu schmieden aus Chor und Solisten, aus Musik und Tanz, aus Alt und Neu: wirkmächtig, niederschmetternd, erhebend, anrührend. Ein großartiger Abend von überragender Präsenz.
Gerard Mortier, Intendant des Teatro Real in Madrid, sagte voraus: "Es wird eine Revolution werden in Deutschland, zu sehen, was ein Chor in der Lage ist zu tun". -  Z.B. sich auch mal auszuziehen. Das ist hier aber niemals Selbstzweck oder billiger Lockstoff für Voyeure, sondern Mittel äußerster Hingabe und Verletzlichkeit, etwa im gewaltfreien Protest gegen staatlich gelenkte Brutalität wie derzeit in Syrien. Der Mensch zwischen Einsamkeit, Rudelpsychose und echter Gemeinschaft: ein anspruchsvolles Thema, dem sich Chor und Orchester, Sänger und Tänzer mit letztem Einsatz stellen. Mortider behielt Recht: Es war eine Revolution auf der Bühne, aber kein Stuem im Wasserglas. Dem Beifallssturm nach zu urteilen, den sie auslöste, wird sie hachhaltig fortwirken.





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