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Freitag, 1. Juni 2007

Karl-Markus Gauß, ein Großer Journal-Essayist

Lektüre nebenbei

Während der Korrekturen an einer SWR2-Zeitschrift, die unregelmäßig eintreffen, lese ich mit zunehmender Faszination Karl-Markus Gauß: "Zu früh, zu spät", ein essayistisches Journal der Jahre 2003 und 2004 (Zsolnay Verlag, 409 Seiten, 24,90 €). Da schreibt ein Seelenverwandter - und schreibt so gut, so frech, so herzerfrischend zornig, dass man neidisch werden könnte.
Karl-Markus Gauß, geboren 1954 in Salzburg, ist Herausgeber der Zeitschrift "Literatur und Kritik"beim Otto-Müller-Verlag.
Bei meinem Besuch in Salzburg (bei Arno Kleibel, einem Enkel des Verlagsgründers Otto Müller) hatte ich ihn nicht angetroffen und stattdessen ein Buch von ihm geschenkt bekommen: "Wirtshausgespräche in der Erweiterungszone", mit Fotos von Kurt Kaindl, mit dem er öfter in Osteuropa unterwegs ist. Gauß stammt von Eltern aus der ungarisch-serbischen Batschka ab und hat daher eine (auch sprachliche) Bildung, die seine Augen für den Osten weit öffnete. An diesen "Wirtshausgesprächen" gefiel mir bloß nicht die Kürze - da hätte es noch so viel zu erzählen gegeben, das wusste ich schon durch meine wenigen Reisen nach Ungarn, Polen, Teschechien und Litauen. Die DDR habe ich besser kennen gelernt, weil meine Frau aus Magdeburg kommt. Trotzdem erkannte ich so viel wieder und schienen mir die Gedanken von Gauß über die EU-"Erweiterungszone" Ost- und Mitteleuropa so menschlich, so kompetent, dass ich mir mehr wünschte. Jetzt habe ich es.
"Zu früh, zu spät" als Titel sagt mir nichts, auch die Titel vieler Essays seltsamerweise wenig. Doch kaum habe ich zu lesen begonnen, sagt mir fast jeder Satz eine Menge. Da ist die Rede vom Krieg im Irak, von der neuen Glaubens-Irrelehre der neoliberalen (was für ein Unwort!) Globalisierung, von seinen Reisen in die Problemgebiete und zu den Menschen der nun neuen EU-Länder im Osten, aber auch von Kindheits-Stadt Salzburg, über die ich eben einen Radio-Essay "Salzburg als Literaturstadt" geschrieben habe. Und wie es so ist: Kaum hat meine Arbeit das Haus verlassen und ist dem Regisseur zur radiogerechten technischen Produktion übergeben, finde ich bei Gauß Bestätigung und Ergänzung meiner Gedanken, die nur leider im Zeitkorsett einer Stundensendung gefangen sind. Da darf keine Minute nachgereicht werden, auch wenn ich´s noch so gern täte.
Mein Radioessay trägt als Titel die Gedichtzeile von Georg Trakl: "Dich sing ich, wilde Zerklüftung", die der große Salzburger Lyriker durchaus programmatisch auf seine Heimatstadt bezog. In Salzburg war das Verhältnis zwischen Dichtern (Künstlern, Intellektuellen) und Bürgern immer zwiespältig, eine seltsame Hassliebe. Der versuche ich nachzugehen und komme am Ende auf den Gedanken: "Bürger und Bürgerschreck, Kultur und Geschäft, Kunst und Kommerz stören und verstören sich hier auf exemplarische Weise gegenseitig. Aber, und das ist schon ein wenig unheimlich, sie befruchten sich auch. Der Bürger braucht den Bürgerschreck als Feindbild, von dem er sich wohltuend abheben kann, als schlechtes Beispiel für die Kinder. Und der Bürgerschreck braucht schließlich den Bürger; wen sollte er sonst erschrecken?"

Gauß, der Philosoph, wäre nicht der, der er ist, wenn er sich nicht längst seine eigenen Gedanken darüber gemacht hätte. Und die formuliert er so: "Es haben auch beide Interesse daran, dass es so bleibe und sich endlos wiederhole: die ihr Geschäft mit dem inszenierten Skandal machen und jene, die ihnen als pflichteilig Empörte dabei helfen. Verkehrte Welt, aus dem Skandalon der Kunst in der bürgerlichen Welt wird die merkantile Kunst des Skandals, und ein durch und durch opportunistisch konzipiertes Objekt gerät zum Streitfall über Zensur. Was verbindet mich außer dem Meldezettel noch mit dieser Stadt? Ein paar Freunde. Die Erinnerungen, denn diese Stadt bleibt, wie fremd ich ihr auch geworden bin, doch der Wunderraum meiner Kindheit und der Resonanzraum meiner jugendlichen Empörung... Und was wird mich mit dieser Stadt in Zukunft verbinden? Immer mehr Tote. So wird die Verbindung immer fester werden, je weniger wir noch gemein haben, ich und meine Stadt."

Salzburg und sein Theater, Salzburg und seine Bettler, Salzburg und seine Musik, Salzburg und seine Dichter - vor allem aber: Salzburg und seine Menschen, deren Geschichten und Geschichte sind der Humus, von dem aus dieser Reisende immer wieder hinaus in die Welt zieht, der ihm Perspektive gibt auch für den Wahnsinn des G8-Gipfels in Heiligendamm, über den er sicher auch bald schreiben wird, über die Enteignung der Europäer durch die Buchhalter und Raubritter der globalisierten Wirtschaft, die sich zugleich als Totengräber der sozialen und kulturellen Wertegemeinschaft eben dieses Europa betätigen, das ihnen zum Werbelogo wird. Gauß ist ein kostbarer Zeitzeuge, der außerdem noch herrlich schimpfen und fesselnd erzählen kann.
Ich werde weiter lesen, was dieser Mann geschrieben hat. Nicht nur in diesem Buch, das ich noch nicht zu Ende lesen konnte, weil mir immer wieder die aktuellen Verpflichtungen des Brotberufs dazwischen kommen. Auch die früheren Bücher von ihm will ich lesen, zuletzt "Die versprengten Deutschen" (2005) in Litauen, in der Zips und am Schwarzen Meer sowie "Die Hundeesser von Svinia" (2004) über die Ärmsten der armen Roma in der Slowakei. Ich, der ich als nicht eben fauler Leser mit Tagebüchern und Journalen meist nicht die nötige Geduld hatte - selbst "Die Fackel" von Karl Kraus, die als Gesamtausgabe in meinem Regal steht, habe ich nur auszugsweise gelesen, wenn ein Anblass mich dazu trieb - ich also bin jetzt schon ganz hüpfelig in Vorfreude auf das Journal "Mit mir, ohne mich" (2002) von Karl-Markus Gauß und sein Jahresbuch "Von nah, von fern" (2003).


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