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Mittwoch, 13. Juni 2007

Karl-Markus Gauß, das Scharnier zum Osten

"Zu früh, zu spät" - des Journals zweiter Teil vom Großen Europäer

Am besten wird Karl-Markus Gauß da, wo seine Journal-Essays autobiographisch sind. Dass Salzburg im Sommer von Bettlern freigeräumt wird, damit niemand die Optik der Festpielgäste störe; dass Salzburg im Winter und bei Schnürlregen eher den Einheimischen gehört; das "Ungefähr richtig" besser ist als "präzise falsch" - all das kann man ihm nachfühlen, wenn man selbst nur jahrelang in dieser Stadt gelebt hat, wo sein "Schreiber-Standort" ist, auf dem er nie steht, sondern von dem aus der Wanderer zwischen Ost und West auf seine Erkundungsfahrten geht.
Gauß schreibt an gegen die Selbstzufriedenheit wie eigentlich alle Autoren, die ich in Salzburg selbst zu treffen das Glück hatte. Er schreibt ebenso an gegen Vorurteil, die Wurzel der Selbstzufriedenheit sozusagen. Und er schreibt zur Selbstvergewisserung: Jeder seiner Journal-Essays deckt kommentierend einen Zeitraum von zwei Monaten ab: Zeitungslektüre, eigene Arbeiten, Begegnungen mit interessanten Menschen (Berühmtheiten, aber auch Persönlichkeiten von großer Bedeutung, die kein Mensch kennt) Bücher, Theaterbesuche, was so passiert. Und in den letzten Jahren ist eine Menge passiert.
Nach dem ersten Drittel des Buches gefallen mir auch seine Titel viel, viel besser: "In der Sprache leben bis zuletzt" ist so ein Glücksfall der vollkommenen Titelgebung, die mehrere Grundströme des beschriebenen Zeitraums und beschriebener Menschen bzw. Bücher mit eigenem Erleben und eigener Überzeugung unter einen Hut bringt. Bei "Unorte, Örtlichkeiten" liegt der Fall ähnlich: Da ist Gauß unterwegs, auf dem Balkan in Slums (Unorte), im Baltikum, und schreibt über die Anonymität der Flughäfen und Bahnhöfe (Unorte), über Jean Améry und dessen Essay-Sammlung "Örtlichkeiten". Und er lebt in diesen Büchern und an diesen Orten seine eigene Widersetzlichkeit und eine Identifikation mit den Ausgestoßenen verschiedener Zeiten und Länder. Er macht daraus Literatur und bekommt einen Publizistik-Preis, ganz wie Jean Améry seinerzeit. Zufall? Kaum. Er schreibt über Folter in Abu Ghraib und Guantanamo (Unorte auch sie) und setzt, was er hört und sieht, in Beziehung zu Améry´s Buch "Die Tortur" und zur Westerweiterung der EU.
Ich selbst lese gerade "Czernowitz - Wo Menschen und Bücher lebten", die Erinnerungen des Historikers Zwi Yavetz an seine Heimatstadt in der Bukowina, dem Land von Rose Ausländer, Manés Sperber, Paul Celan, und vermisse schmerzhaft ein Kapitel über Alfred Margul Sperber, jenen Vater der untergegangenen deutschen Literatur in jenem Teil der Welt, den heute Ukrainer als Teil ihrer eigenen Kulturgeschichte reklamieren. Gauß schreibt, wie er die "Culturbilder" von Karl Emil Franzos aus eben jener Gegend las und feststellte, was im Kern seiner eigenen Motivation als Schriftsteller lag: "Ich fürchte, als ich das erste Mal ostwärts fuhr und dabei nicht an Karl Emil Franzos oder Sperber dachte, deren Werke ich doch Jahre zuvor studiert hatte, war ich auch von dem uneingestandenen Wunsch getrieben, im Osten von der westlichen Zerrüttung der Seele geheilt zu werden: Erlösung nicht des Ostens, sondern aus dem Osten."
Gauß fragt sich und den Leser, wieso fünf mal so viele Bücher ins Neugriechische übersetzt werden wie ins Arabische, warum zudem drei Viertel aller Bücher, die in arabischen Ländern überhaupt gedruckt werden, religiöse Inhalte haben (Fach- und Schulbücher nicht gerechnet). Er fragt das vor dem Hintergrund der Anschläge islamistischer Fanatiker auf den Antocha-Bahnhof in Madrid, bei denen fast 200 Spanier starben. Seine brillante Analyse:
"Was sie an Europa hassen, ist ihre eigene Kultur der Einsamkeit, die sie nötigt, in der Stagnation als einer gottgeschenkten Gnade zu leben. Darum machen sie nicht den arabischen Despoten den Prozeß, von denen sie täglich geschunden werden, darum gehen sie nicht gegen die Unterdrückung auf die Straße, die über sie seit Generationen verhängt ist, schlagen sie nie drein, wenn ihre korrupten Eliten sie um die Früchte ihrer Arbeit betrügen. Der Feind, der ihnen alles genommen hat und nicht aufhört, es ihnen zu nehmen, ist ihnen in der religiösen Halluzination zum Bruder der Rechtgläubigkeit geworden. Europa ist der Feind, gegen den sie sich in ihren eigenen Ländern nicht zu erheben wagten und nicht zu behaupten wissen." Gauß geißelt die Kriegstreiber, Biedermänner, Lügner und Brandstifter aller Lager. Er schreibt über den Mord an dem Regisseur Theo van Gogh in den Niederlanden und die Reaktion darauf in Europa, vor allem unter dessen Muslimen: "Viele müssen hassen, damit wenige glauben, morden zu dürfen."
Warum, in der Tat, überlassen die Intellektuellen, die "aufgeklärten Europäer" (sagt Gauß, ich habe da meine Zweifel) den Protest gegen solchen Wahnsinn einem Mob, dem nichts Besseres einfällt, als durchs Land zu ziehen und Moscheen in Brand zu stecken? Giftig gegen Zeitgenossen zu sein, fällt leicht, wenn diese "aufgeklärten Europäer" zu konkreten Namen werden, zu Haupt- und Leitfiguren auf dem Spielfeld der Eitelkeiten, mit dem sich der Kulturbetrieb inzwischen verwechselt, weil BILD-Zeitung und Fernsehen das so wollen. Da schont Gauß weder Peter Rühmkorf, "den vielfachen Ehrendoktor, Ehemann einer Ministerin, der seine Seitensprünge maliziös auflistet", noch seine Landsfrau Elfriede Jelinek, unschwer als Nobelpreisträgerin zu erkennen (so viele gab´s davon schließlich nicht, die er kennen könnte).
Die Denk-Schreiben von Karl-Markus Gauß enthalten immer ein reizvolles System-Element Zufall, d.h. Zeitläufte und Chaos. Sie sind aber im Vermischen der literarischen Genres, im Erzählen, Dokumentieren, Berichten und Kommentieren zugleich vollkommen konsequent durchdacht als System des Schreibens. Vandalen, ob in Fußballstadien, der Brüsseler EU-Verwaltung unter Industriellen oder auch nationalen Galionsfiguren wie Tony Blair, Silvio Berlusconi und José Maria Aznar sind die Hauptfeinde des erklärten Europäers. Sie reißen sich das gemeinsame Erbe Europas im Namen einer neoliberalen Wirtschafts-Globalisierung unter den Nagel: Vandalen, die gründlicher nicht irren könnten als in ihrem schrägen Glaubensbekenntnis unbewiesener "Sachzwänge". Sie sind die Feinde einer Kultur, die er mit Herzblut verteidigt - gegen jene, die das Volksvermögen zugunsten weniger verhökern, die Gewinne privatisieren und die Risiken sozialisieren wollen. Diesen Leuten ist Kultur nur Gewinn oder existiert nicht. Wie dieser Blog. Gewinn in EURO macht man mit so etwas nämlich auch kaum. Mein Gewinn ist vielmehr, dass ist dies schreiben darf, ohne dass mir jemand dreinredet. Wer es liest muss nicht dafür bezahlen. Es sei denn, er will das irgendwann tun und schafft einen Gegenwert. Mir ist dieser Blog auch teilweise Gegenwert für Karl-Markus Gauß, denn sein Buch wollte mein "Haussender" nicht (gegen Bezahlung) rezensiert haben. Hier steht jetzt viel mehr darüber - ätsch!

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