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Sonntag, 6. April 2014

Ein Grandseigneur der Literatur: Siegfried Lenz in Marbach


Ulrich Greiner (DIE ZEIT), Siegfried Lenz, Ulrich von Bülow und Ulrich Raulff (beide DLA)


Heute war Siegfried Lenz im Deutschen Literaturarchiv Marbach (dla), um sein persönliches Archiv in die Obhut der Spezialisten zu geben. Das war für viele Freunde der Literatur und Verehrer des Erzählers Siegfried Lenz (88) ein großer Tag. So brechend voll ist es in diesem Heiligen Hallen selten. Es muss ja auch fast jeder eine ziemliche Reise in die Provinz tun dafür. Eine ziemliche Ulricherei wurde das, aber so etwas plant man nicht, das passiert und wird halt beschmunzelt:

Marbacher Auditorium für Siegfried Lenz
Begrüßt von Ulrich Raulff, dem Direktor des dla und im Gespräch mit Ulrich Greiner (DIE ZEIT) und Ulrich von Bülow (dla-Archivleiter) erzählte der greise Schriftsteller eindrucksvoll von seiner Arbeit, seinen Erfahrungen und seiner Sicht auf die Beziehung zwischen Autor und Leser: Der Autor mache immer nur ein Angebot, spreche "eine Einladung ins Ungefähre" aus, und das Spannende sei, dass der Leser weitermachen könne mit der Phantasiearbeit. So etwas könne kein Film leisten, weil Bilder viel stärker festlegen als ein Text. Der Texte gebe dem Leser ein Maximum an Freiheit. Das hörten wir alle nicht zum ersten Mal, denn schließlich darf ich davon ausgehen, dass nur Leser kamen. Aber so nett als Komplize der Kunst apostrophiert zu werden, das schmeichelt doch enorm. Grass macht so was nie.

Siegfried Lenz signiert

Nach anderthalb Stunden tat Lenz dann, was Autoren am zweitliebsten tun, nachdem sie Geschichten erzählt haben: Er signierte Bücher. Freundlich, gütig, unermüdlich, unerschütterlich: Ein Grandseigneur eben. Für den wurden, wie für Altbundeskanzler Helmut Schmidt, eigens die Feuermelder ausgeschaltet, damit er rauchen konnte. So wünschen wir ihn uns noch viele Jahre!
So ernst wieLenz nehmen nur wenige Autoren ihr Publikum, und das honorieren die Leute. Sie kaufen die Bücher, sie strömen in Lesungen und sie halten einem Dichter lebenslang die Treue, auch wenn er keine politischen Schlagzeilen macht. Vielleicht sogar gerade deswegen.
Als Erzähler hat so einer mehr Einfluss als der Bundespräsident. Vor allem wenn er berichtet, wie für ihn "Sachkunde die Voraussetzung für Literatur" wurde. Das sollte manch anderer mal beherzigen, bevor er den Mund aufmacht. Und dass Lenz ein Erzähler mit Leib und Seele ist, durften die Zuhörer selbst erleben.
Mit nachlassender Stimmkraft (deshalb wurden Ausschnitte seiner Werke von anderen gelesen), aber mit viel Seele erzählte er spontan eine "Liebesgeschichte" im Keim, norddeutsch, unfertig, zauberhaft: Trifft eine junge Dame am Bahnhof einen Fahrkartenautomaten und wird schnöde abgewiesen. Kommt ein junger Mann und hilft ihr galant - erfolgreich im ersten Anlauf. Sie belohnt ihn spontan mit einem Kuss. Sie meint nämlich, das sei angemessen. Er aber versteht´s gar nicht oder gänzlich falsch und schüttelt noch eine ganze Weile darüber den Kopf, während er im Bahnhofsrestaurant sein Bier austrinkt. Macht was draus, Leute!

Ein Wermutstropfen im Wein dieser Veranstaltung muss aber doch sein: eine permanent knachsende, krachende Lautsprecheranlage mit ungewollten Stereoeffekten ist alles andere als professionell. Und die Texte von Lenz hätte man besser einen erfahrenen Schauepieler lesen lassen als die junge Stuttgarter Schauspielerin Nathali Thiede. Denn die ist zwar ausnehmend nett anzusehen, hat eine schöne Stimme und kann durchaus sprechen, hatte sich aber offensichtlich mangels Erfahrung dem Druck gebeugt, wie Storms Schimmelreiter durch die Texte zu hetzen. Das hat niemandem gut getan: Lenz nicht, der kein Theodor Storm ist, ihr nicht, weil zu einem alten Erzähler eine junge Frauenstimme höchstens als Kontrastmittel passt, und den Zuhörern auch nicht. I was not amused.

Donnerstag, 27. März 2014

Martin von Arndt stellt seinen Thriller "Tage der Nemesis" vor

Martin von Arndt und Moderatorin Silke Arning

Martin von Arndt mit Moderatorin Silke Arning bei der Ur-Lesung aus seinem neuen Roman "Tage der Nemesis" (ars vivendi Verlag, Cadolsburg, 270 Seiten, 14,99 €). Das Besondere: Das LeseCafé der Stadtbibliothek Stuttgart war brechend voll - trotz Streik im öffentlichen Nahverkehr.
Der Plot: Im Frühjahr 1921 wird der ehemalige türkische Staatsführer Talât Pascha erschossen. Kommissar Andreas Eckert, selbst im Krieg traumatisiert, erkennt in dem Toten einen der Hauptverantwortlichen für den Völkermord an den Armeniern aus dem Jahr 1915. Er merkt schnell, dass mit verhafteten Attentäter, der behauptet, eines dieser Massaker traumatisiert überlebt zu haben, etwas nicht stimmt. So kommt er rasch einer Organisation auf die Spur, die das Ziel hat, alle Entscheidungsträger von damals zu töten. Denn Deutschland hat ihnen ermöglicht, in Berlin unterzutauchen, obwohl sie in der Türkei wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt wurden. Daher der Codename: Nemesis ist in der griechischen Mythologie die Göttin des gerechten Zorns.
Ein spannender Thriller über ein türkisches Tabuthema, über Deutschlands Verwicklung in ein historisches Verbrechen und über die ideologischen Gräben in der Weimarar Republik. Ein historischer Roman von großer Aktualität und moralischer Wucht. Mit einem traumatisierten Helden, der keiner ist und als halber Italiener den Irrsinn des Nationalismus deutlich erkennt, der aber aus seinen Schwächen manchmal auch Stärken macht. Geschrieben ist das Ganze enorm spannend, mit Witz, Bosheit und wo nötig auch Schärfe in Urteil und Ton. Eine brillante Doku-Fiction: Die Fakten belastbar, die Sprache poetisch und dicht.

Samstag, 1. März 2014

Stuttgart 21 zerstört auch die Schwäbische Alb

Unterer S21-Tunnelanstich bei Wendlingen am Aufstieg zur Schwäbischen Alb



Gestern fuhr ich von München mit dem Pkw über Ulm heim nach Stuttgart. Mitten im Naturschutzgebiet Schwäbische Alb überraschte mich eine riesige Abraumhalde samt zwei "schönen" Tunnelröhren, aus denen das Zeug stammt (Blick von oben!). Leider gab es keine legale Möglichkeit zum Halten und Fotografieren. Ich hab dann den unteren Tunnelanstich bei Wendlingen von einem Parkplatz aus fotografiert, aber da stört eine Baumgruppe die Sicht und die Abraumhalde verdeckt die Tunnelröhren. Absicht?

Tunnelanstich Stuttgart-Fasanenhof

Das Nah-Foto hab ich vor der Einfahrt nach Stuttgart Degerloch mit der Tunnelbohrung Fasanenhof nachgeholt. Hier ermittelten Zoll und Staatsanwaltschaft übrigens schon wieder wegen Lohndrückerei durch Sub-Subunternehmen. Ohne kriminelle Energie lassen sich nicht einmal die explodierten Kosten halten. So macht Stuttgart 21 noch die schönsten Landschaften endgültig kaputt. Stadt und Land bluten derweil auch finanziell aus, denn statt Arbeitsplätze zu schaffen, beuten die Betreiber Ausländer aus - aus Rache gegen den Widerstand gegen ihr größenwahnsinniges und verfassungswidriges Projekt. Die Bahn hat bis heute nicht einmal die Bauern bezahlt, denen Land für die irrsinnigen, z. T. noch nicht einmal genehmigten und nutzlosen Baustellen weggenommen wurde. Man muss halt ab und zu eine Stadt und eine Region zerstören, um neue Bauaufträge zu beschaffen und den Spekulanten was zum Spekulieren zu geben. Ein Bahnhof? Ein neues Stadtviertel im Grünen? Günstige Mietwohnungen und 10 000 neue Arbeitsplätze? Ätschebätsch, alles Quatsch!

Sonntag, 16. Februar 2014

Software-Riesen wälzen Problemlösungen auf PC-Hersteller ab

Shr geehrtes Sercice-Team bei Acer,
für Ihr Engagement nach dem "Selbstmord-Update" bei iTunes möchte ich mich mal ausdrücklich bei Ihnen bedanken. Einen Tag nach Ihrer Antwort auf meine Anfrage kam ein korrigiertes Update von iTunes, das die angerichteten Schäden behob. Ich weiß zwar nicht, was ohne meine eigene PC-Wiederherstellung mit Kollateralschäden geworden wäre, aber immerhin: Ich kann wieder meine abonnierten Podcasts bekommen und habe eine einleuchtende Erklärung erhalten (extrem selten in  der Branche). Damit haben Sie wesentlich mehr Kundenfreundlichkeit als Apple gezeigt. Die Firma hat sich bei ihren Kunden für das Desaster nicht einmal entschuldigt - übrigens auch Android nicht. Die Google-Tochter hat einen Tag nach der Katastrophe bei iTunes mit Kies 3 eine neue Variante ihres Synchronisierungsprogramms Kies verteilt, die ebenfalls nicht funktioniert, und bis heute kam keine reparierte Neufassung. Da haben´s die sonst so cleveren Nachahmer anscheinend übertrieben...

Dienstag, 11. Februar 2014

Apple zerschießt seine eigene Software beim Update

Liebe Freunde, Apple schießt sich gerade mal wieder selbst ab: Vor einer Woche bekam ich ein automatisches Update von iTunes, das ich als Podcaster seit 10 Jahren nutze. Daraufhin lief das Programm nicht mehr, ließ sich auch nach Deinstallation und erneuten Uploads nicht wieder starten. Alles was kam, war eine Fehlermeldung und der Hinweis "Sie werden informiert". 
Ich wurde nix. Apple bietet gar nicht erst einen Support für seine Softwarekunden an, denen die Firma ja über den Apple-Store jede Menge Musik, Apps und anderes Zeug verkaufen will - nur für Hardware mit Registrierung. 
Also schrieb ich an die coolen Typen vom Windows-Support, weil es ja theoretisch hätte sein können, dass etwas mit meinem Betriebssystem nicht stimmt - das gab mir nämlich seitdem bei jedem Start auch eine Fehlermeldung (Runtime Error. Das Problem konnte ich durch eine Wiederherstellungsaktion mit einer Programmversion drei Tage zurück selbst beheben). Die faulen Kerle von Microsoft haben mich an meinen Gerätehersteller weitergeleitet, dem ich das Poblem sicherheitshalber auch gleich meldete (obwohl, was hat der damit zu tun?). Und o Wunder, da waren die Leute richtig auf Zack. Kaum war das Wochenende rum und hatte ich einen Tag am PC verloren, kam die wundersame Nachricht:

"Das von Ihnen beschriebene Problem wird durch das Update für die iTunes Software verursacht, Herr Puhl. Es gibt hierzu bereits aktuelle Interneteinträge, die sich mit dieser Problematik befassen. Sie finden unter folgendem Link eine Lösung für diesen Fehler:

http://winfuture.de/news,79932.html



Auch die Firma Apple hat mittlerweile eine Anleitung zur Deinstallation und Neuinstallation der Software herausgegeben:

http://support.apple.com/kb/HT1925?viewlocale=de_DE


Sollte das Problem sich auf die angegebene Weise nicht beheben lassen, bitten wir Sie, uns erneut zu kontaktieren. Wir werden dann die weiteren Möglichkeiten mit Ihnen durchgehen."

Was täten wir nur ohne deutsche Vertragspartner von großen US-Softwarefirmen und fleißige Gratis-Freizeit-Reparateure? Dass mir die Firma ungefragt mein iPhone auf Werkseinstellungen zurücksetzte, hab ich auch schon erlebt. - Kein iPhone mehr also. Jetzt aber scheint es mit dem Vorzeigebetrieb der Branche endgültig bergab zu gehen. Tolle Strategie zum Vertreiben von Kunden!!

Sonntag, 9. Februar 2014

Von meinem Bücherbord

Der jiddische Dichter Abraham Sutzkever wurde 1913 in Smorgon geboren und lebte ab 1920 in Wilne oder Wilna/Wilnius. Der Amman Verlag in Zürich hat 2009 das Lebenswerk dieses Mannes veröffentlicht, der sei 19344 zur Avantgarde des jüdischen Dichterkreises "Junge-Wilne" gehölrte, 1941 mit seiter Familie uns Getto kam und 1942 zu den Partisanen ging. Seine Lebensgeschichte schrieb er 1944 in Moskauz. 1947 gelang es ihm, nach Israel auszuwandern. Er starb 2010 mit 96 Jahren in Tel Aviv.
Beide Bücher gibt es in einem Schuber, denn sie gehören eng zusammen. Der Übersetzer Hubert Witt hat vor allem bei den Gedichten zu viel Respekt vor der Autorität des Autors und lässt ihm auch große Schwächen durchgehen. Er ist kein Nachdichter, der ein Gespür für wirklich treffsichere, stilistisch elegante Verse und stimmige Rhythmen hätte, er ist nur Übersetzer. Aber das ist für diese Epitaphe des Judentums von Litauen nur ein stilistisches Problem. So finden sich aus der Sicht des Lyrikers zwar bloß einzelne Perlen in vielen verdorbenen Austern. Dieses literarisch-stoilistische Problem ist aber ein Gewinn für die historische Wirkung. Das gilt doppelt bei der Autobiographie über das Leben im Getto und den bewaffneten Widerstand - erst dort, dann in den Wäldern. Beide Bücher sind buchstäblich mit Blut und Tinte geschrieben. Sutzkever wurde jeder schöngeistige Pazifismus brutal ausgetrieben. Sie atmen das unmittelbar durchlebte Trauma, sind einzigartige Zeugnisse der Nazi-Tötungsmaschine und nicht nur des jüdischen Überlebenswillens. Sie dokumentieren auch den enormen Stellenwert dere Kultur in diesem Überlebenskampf.
Kultur ist systemrelevant: Gerade darum haben die Nahzis versucht, die jüdische Kuktur mit den Menschen auzurotten. Und gerade darum haben Sutzkever und seine Mitstreiter jahrelang unter Lebensgefahr Kulturarbeit im Getto gemacht, Schulen und eine Universität betrieben, Literatur, Musikinstrumente, Bilder, ja ganze Bibliotheken gerettet.
Abraham Sutzkever: "Gesänge vom Meer des Todes" (191 S.) und "Wilner Getto 1941 - 1944" (271 S.), Amman Verlag, Zürich 209, 34,95 € im Schuber



Mario Vargas Llosa: "Ein diskreter Held", Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 381 S., 22.95 €

Eigentlich beschreibt der Autor hier die Geschichte zweier sehr unterschiedlicher Helden unserer Zeit: Da ist zum einen der Bankier Rigoberto, der seinen Freund und Ex-Chef Ismael entschieden gegen zwei habgierige Halunken und Erbschleicher verteidigt, die zufällig dessen leiblichen Söhne sind und völlig durchdrehen, als ihr Vater seine junge Haushälterin heiratet und die missratenen Früchtchen enterbt. Und da ist Felícito, unglücklich verheiratet, erfolgreicher Liebhaber einer jungen Mätresse und Inhaber einer erfolgreichen Transportfirma, der entschlossen einer anonymen Schutzgelderpressung die Stirn bietet. Die befreundeten Bankiers leben in Lima, Felícito in Piura. Doch sie alle eint nicht nur die Vorliebe für jüngere Frauen und ein gewisses Macho-Gehabe, sondern auch eine Art altertümliche Moral, die im krassen Gegensatz zur leichtlebigen Generation der Erben steht: Fleiß, Anstand, Loyalität und Großzügigkeit gehören ebenso dazu wie Respekt vor Bildung und Verachtung der Korruption. Wie sich herausstellt, haben sie aber noch mehr gemeinsam:
Auch der Busunternehmer wird von seinem eigenen Sohn erpresst, und zu allem Überfluss hat seine (wie man lesen wird, zu Recht) ungeliebte und höchst bigotte Gattin ausgerechnet jene hübsche, nette Haushälterin zur Schwester, die durch die Liebe des Bankiers Ismal vielfache Millionärin geworden ist. Auf der Flucht vor den Attacken der rabiaten Stiefsöhne gewährt ihr die ansonsten höchst unsympathische Schwester Asyl. Nichts ahnend verbringt sie mehrere Tage und Nächte hinter den Mauern eines ebenfalls belagerten Hauses. - Ein hübsch ausgedachter Plot mit typisch lateinamerikanischen Ingredienzien, gewürzt mit einer guten Portion Bildungsroman und Berrachtungen über die Natur des Bösen und der Freiheit und einem großzügigen Schuss Humor. Typisch Vargas Llosa: Der alte Kater lässt das Mausen nicht. Und so ganz nebenbei sehen ungehobelte junge Rammler im direkten Vergleich mit kultivierten, einfühlsamen Old-School-Liebhabern ziemlich alt aus.


Etel Adnan: Arabische Apokalypse. Ein Gedichtzyklus. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 70 S., 22,95 €

Vorweg gleich eins: Wer sich über den hohen Preis für dieses schmale Bändchen wundert, muss die Kunst berücksichtigen. Es steckt voll von Grafiken und Zeichnungen, die als Gestaltungselemente sogar jede einzelne Textseite durchziehen. Der Anfang kommt daher wie ein verspäteter arabischer Versuch in Dadaismus. Das Ganze entpuppt sich aber schnell als wortgewaltiges und bildstarkes Klagelied auf den von Bürgerkriegen zerrissenen Nahen Osten.
Etel Adnan  wurde 1925 in Beirut geboren und lebt in Paris. Sie ist Malerin durch und durch und eine sprachmächtige Poetin, die das kaum Sagbare oder gänzlich Unsagbare in Piktogrammen aufs Papier bringt. Dazwischen entwickelt sie mit Lakonie und Sinn für Aberwitz ihre Sprachbilder von einem Kosmos, der aus den Fugen ist, in dem alltägliches menschiches Leiden und Sterben in Beirut und Damaskus, Bagdad und Kairo galaktische Dimensionen annimmt. Keine Einschlaflektüre, sondern starker Tobak: Pflichtlektüre für alle, die ein Psychogramm des Wahnsinns Nahost suchen.




Sonntag, 2. Februar 2014

Von meinem Bücherbord

Krankheit kann auch ihr Gutes haben und ist gelegentlich umständehalber kaum von Faulheit zu unterscheiden. So war es mit meinem "Kreativurlaub" zum Jahresende 2013: Drei Wochen war ich auf mich selbst und das Lesen zurückgeworfen - wunderbar. Denn ich hatte diverse kleine Operationen eingeplant und auch alle erledigt. Nur mit den vielen Kontrollbesuchen bei Ärzten und Kliniken hatte ich nicht gerechnet. Und auch nicht, ehrlich gesagt, mit den anhaltenden Schmerzen und Behinderungen im Alltag durch die Folgen der ambulanten Chirurgie. Da trat ich die Flucht in den Stressless-Sessel an und widmete mich lange liegen gebliebenen Büchern.

Anna K: "Total bedient. Ein Zimmermädchen erzählt" (Hoffmann und Campe, Hamburg 2012, 221 Seiten, 16,99 €) ist eine ziemlich schonungslose, aber dennoch unterhaltsame Sozialreportage von unten. Wie es zugeht beim Bettenmachen und in der Hotel-Hierarchie, hat die Autorin wirklich gut beschrieben. Und sie bleibt aus guten Gründen anonym, denn sonst müsste sie Ärger befürchten - auch wenn sie inzwischen das Fach gewechselt hat.
Von primitiver Anmache und arbeitsrechtlich fragwürdigen Abmachungen erzählt sie, von Akkordarbeit und miesen Löhnen, von Zicken an der Rezeption mit scheinheiligem Lächeln nur für zahlende Gäste, von knauserigen und großzügigen Tringeldern und dem, was dahintersteckt. Aber auch von der Kameradschaft unter den Putz- und Dienstsklavinnen der Beherbergungsbranche und von der Tasse Kaffee, die zur Gelegenheit für Seelsorge und
Gewerkschaftsarbeit wird.
Wer sich auch nur eine Spur für die stets freundlichen Menschen interessiert, die im Hotel für uns auf- und hinter uns herräumen, den Zimmerservice erledigen und doch meistens unsichtbar bleiben, sollte dieses Buch unbedingt lesen! Das ist kein Schlüsselloch-Report, sondern ein längst überfälliger Blick hinter die Kulissen potempkin´scher Dörfer weiblicher Arbeitswelten.



"Schulden. Die ersten 5000 Jahre" von David Graeber (Klett-Cotta Verlag Stuttgart 2012, 600 Seiten, 16,95 €) ist eine gnadenlose Abrechnung mit den Formen von Finanzsystem und Wirtschaftspolitik, die uns seit 2008 die große Krise bescheren. Der ehemalige Yale-Antrhropologe und bekennende Anarchist lehrt heute am Goldsmith-College in London, der Hauptstadt verfehlter Banken- und Börsenideologie. Er gilt als Vordenker der bankenkritischen Occupy-Bewegung, und seine zentrale These lautet: Schulden sind das Normalste auf der Welt, aber der gewalttätige Zwang, sie um jeden Preis zurückzuzahlen, ist moralisch, politisch und historisch gesehen ein Verbrechen. Vor allem der Zinswirtschaft hat Graeber den Kampf angesagt, weil sie gewalttätig ist und zu Sklaverei führt.
Alle großen Religionen haben Zinsen verboten oder stark eingeschränkt. Trotzdem kam das Übel immer wieder zurück, weshalb schon im alten Mesopotamien und Ägypten alle 30 Jahre sämtliche Schuden erlassen und alle Sklaven befreit wurden. Bloß ein paar neuzeitliche Geld-und Finanzideologen haben alles über Bord geworfen, was für die Menschheit 5000 Jahre lang befreiend und auch wirtschaftlich nützlich war. Vom Mythos Tauschhandel über Geld und den Gold-Standard bis zum Derivatehandel am Computer: Die Geschichte der Schulden ist die Geschichte eines Irrtums über das Wesen von Leistung und Gegenleistung. Wer es noch nicht wusste, hier kann er nachlesen, warum: Zins und Zinseszins sind eine Perfidie ohne Zukunft.

"Salamander" von Jürgen Lodemann (Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen 2011, 384 Seiten, 22 €) ist ein Roman über Freiburg, über die Liebe und die Freiheit und außerdem ein ganz veritabler Krimi. Wieso?
Eine schöne Studentin, die der betagte Schriftsteller Harry Holterhoff in Freiburg bei sich wohnen lässt, heißt Undine und ist genau das, was die Sage von Wesen dieses Namens behauptet: ein Zwitter, ein "SheMale" oder "LadyBoy". Außer dem Autor sellbst hat sie zwei Verehrer: der eine mit türkischer, der andere mit US-Herkunft. Als der eine den anderen ermordet, übernimmt die Bundesanwaltschaft. So weit der Krimi.
Im Weiteren geht es um Sexualiät, um eine Freiheitsoper von 1848, um die Einmischung des alten Schriftstellers in Politik, um Stalking und Terrorismus, aber auch um den Tod und eine Stadt, die zwar am Rande des Schwarzwaldes liegt, aber nicht am Rand der Welt.
Ich-Erzähler Holterhoff bringt seine Geschichte mit viel Humor und Lebenserfahrung an den Leser. Dazu gehört vor allem eine ganz (un)gehörige Portion Misstrauen gegenüber geheimen und zentralen Ermittlungsbehörden, eine herrliche Widersetzlichkeit des freien Geistes. Leute, so wünsche ich mir zornige Alte!