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Sonntag, 15. Februar 2009

Neue Lyrik


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Marica Bodrozic: „Lichtorgeln“ Gedichte. Otto Müller Verlag, Salzburg, 110 S., 19 €

Der neue Gedichtband von Marica Bodrozic wirkt wie eine lyrisch verdichtete Fortschreibung ihres Erzählbandes „Der Windsammler“. Hier wie dort entspricht der gegenseitigen Durchdringung von Träumen, Bobachtungen, Märchen und autobiographischen Alltagsbezügen eine Durchdringung unterschiedlicher Wahrnehmungsweisen und Stilmittel. Die Autorin erzählt auch in Gedichten gern Geschichten, und ihre Prosa ist poetisch durch Bildhaftigkeit und Tonfall.

HINTER DEM KNORRIGN OLIVENBAUM, das Singen der Zeit. Die Sonne schreibt das Blatt. Das Meer reicht der Olive die Hand. Der Mediterran, mein Ursprung in die heitere Beständigkeit. Eine Lichtorgel aus gesiebten Stunden, ungefeierten Kindergeburtstagen und den nach Australien ausgewanderten Nachbarn: Der Kaffee serviert sich von selbst, ungeachtet der Nostalgie, der Verwirrungen und Tränen. Das Rätsel für das Kind: Wie haben sie alle zusammen das Meer erwandet? Über das Meer gehen, das kann doch nur EINER!

Zum Bodrozic-Kosmos gehören mediterranes Licht, Heiterkeit, Traurigkeit, Kindheitserinnerungen, das Rätsel der Zeit und Dinge, die sich verselbständigen. Die „Lichtorgeln“ aus dem Titel sind keine Lichtmaschinen in Diskotheken, sondern eine Metapher, die sich der Eindeutigkeit entzieht. Und doch klingt der rhythmische Wechsel der Gemütsfarben und Stimmungen mit. Auf ihren Lichtorgeln die Autorin spielt alle Tonleitern durch – zwischen Realismus und Märchen, Scherz und Ernst.

VOR MEINEM FENSTER waren Lichtorgeln aufgestellt worden, das Baugerüst hatte man abgenommen. An den Orgeln hingen viele Menschen… Arme waren zu sehen, Ohren, Füße, mit und ohne Schuhe, ganz viele Augen, eine Augenwoge schaute in mein Zimmer. Was macht ihr da!, fragte ich, etwas unbeschwingt, das ist doch mein Fenster. Schließlich war durch den Betrieb an den Lichtorgeln der ganze Himmel verdeckt, ich sah nicht einmal mehr die Bäume von gegenüber, selbst die Wipfel schienen etwas von mir Erdachtes zu sein.

Eltern, Geschwister, Marilyn Monroe, Katharina von Siena, Frida Kahlo, Woolf, Marina Swetajewa, Teresa von Avila und Ingrid Bergmann finden sich im Gespräch miteinander und mit dem lyrischen Ich. Das will die Abgründe zwischen Zeiten und Welten überspannen wie die Brücke von Mostar und bietet vieles, nur keine Sicherheit:

Verlasse dich nicht auf das lyrische Ich. Es ist erfunden. Aber: natürlich, nur dort ist es zuhause. Quer zwischen meinen sechs Leben liegt eine hingedachte Brücke.

Die Welt zeigt sich als Zwischenwelt. Wortschöpfungen leuchten auf: „Lichthandel“, „Angstmonarch“, „hängende Luftaltäre“, „Herzlücken“, „Hautnachbarschaft“, eine „gemandelte Trauer“. Viele der Texte sind auf so klare Weise unverständlich, dass sie neue Deutungen und Bedeutungen geradezu erzwingen. Die Regeln von Interpunktion und Grammatik, sogar die Naturgesetze sind teilweise aufgehoben. Da zeigt sich etwas Rebellisches, vielleicht am schönsten in einem der ungewöhnlichen Liebesgedichte:

Er ist fast verrückt geworden, wenn ich die Wörter rückwärts sprach. Einmal hat er es mir verboten, ich sollte die Wörter nie mehr rückwärts sprechen. Dann habe ich ihn verlassen. Es ging nicht mehr. Ich kann nicht mit einem Menschen frühstücken, der mir Wörter von rechts verbietet, überhaupt, wenn jemand etwas verbietet, ich kann da nicht schlafen, die Träume verlassen mich.

Wo scheinbar die formale Strenge rhythmisch gebrochener Zeilen fehlt, entsteht vieldeutige Verdichtung auf der Suche nach Transzendenz: etwas Kompaktes, manchmal Schwieriges, aber nie Schweres, das in der Phantasie des Lesers nachhaltig weiter arbeitet. Ein schmales Buch, komprimiert und voll gepackt wie eine ZIP-Datei: Diese Gedichte führen bis an die Grenzen der Sprache.

So verloren war ich/ dass ich immer nur Fragen stellte. Keine Antworten mehr/ die Fragen, unbedürftig. Niemand harrt da aus/ niemand/ wenn das Nicht nur nicht ein Nicht wäre, dann wäre es vielleicht eine Blume/ habe ich damals gedacht/ die uns erlöst und über das Ganze stellt. Das Reden: aufgehoben. Es gäbe gar nichts zu sagen.

Samstag, 31. Januar 2009

Kultur-Demokratie funktioniert nicht

Heute lese ich in der "Stuttgarter Zeitung" wieder mal endlose und nicht mal ganz unwitzige Betrachtungen über den schlechten Geschmack in den Medien, vor allem im Fernsehen. Beispiele: 7,17 Millionen Zuschauer am Samstag Abend beim "Dschungelcamp" von RTL und 10,6 Millionen, die beim ZDF Thomas Gottschalks immer dämlicher werdendes "Wetten dass" geguckt haben: Diesmal brachte er jemanden auf die Bühne, der Tierscheiße am Geruch erkennt. Klasse: Ich kann das auch - und besser, erkenne ich doch Scheiße in Text, Wort und Bild, ja sogar oft im musikalischen Ton ähnlich präzise und zuverlässig. Aber um bei der Medienkritik zu bleiben: Irgendwie ist sie obsolet, d.h. hat sich erübrigt, oder?

Die Zeitung sollte sich an die eigene Nase fassen, was den schlechten Geschmack angeht: Es ist einfach nicht ehrlich, sondern pseudodemokratisch, wenn man die Boulevardisierung des Fernsehens beklagt und gleichzeitig die eigene Zeitung zum Versuch mieser, politisch motivierter Manipulationsversuche missbraucht. Oder glauben diese Herrschaften, die ebenso hoch gelobten wie beschissenen Inszenierungen in ihrem mehrfachen "Opernhaus des Jahres" hätten irgend etwas Demokratisches? Das Publikum jedenfalls will dieses Regietheater gar nicht sehen, wird aber beharrlich als inkompetent hingestellt und übergangen. Sollen sich Puhlmann und Hasko Weber ein Beispiel an Karlsruhe nehmen. Was Intenandt Achim Thorwaldt da für eine Kulturpolitik macht: das ist wirklich gutes politsches Theater, aber zuerst mal gutes Theater. Geht doch! Der Mann hat ständig ausverkauftes Haus und ist viel billiger als Stuttgart obendrein. Aber zurück zur Medienkritik.

Es ist ja nicht mehr neu, den Untergang des Abendlandes mit Beispielen aus dem schlechten Fernsehprogramm zu belegen. Dabei ist das mit Kulturprogrammen wie bei Politikern: Jedes Volk hat die, die es verdient, weil es sie gewählt hat. Am schlechten Geschmack der Massen ändert das freilich nichts. Deshalb ist ja Kultur nicht mit Quote vereinbar. Das Programm kann nie schlechter sein als der Geschmack des Publikums. Und wenn die Millionen in Deutschkland einen schlechten Geschmack haben, ist das nicht die Schuld der Medien - jedenfalls nicht primär. Schuld der Meduien ist es höchstens, diesen schlechten Geschmack ständig und immer unverhohlener zu bedienen, als wäre er gut. Das macht die Sache in der Tat schlimmer, als sie schon ist! Demokratie kann also bei Geschmack und Niveau, bei Bildung und Kultur nicht funktionieren. Da hilft höchstens eine Pädagogik der Verführung, zu der man aber erst einmal in der Lage sein und dann mutig stehen muss. Wie der Tenor, Regisseur und Dirigentn José Cura mir kürzlich sagte: Um Regeln zu verletzten, muss man sie erst einmal kennen, einhalten und beherrschen. Und die meisten Möchtegern-Avantgardisten verlaufen sich bis dahin gehörig.

Die meisten Medienmogule und Medienmacher verführen nicht - weil sie nicht können oder nicht wollen, sei dahin gestellt. Sie sind etwa so penetrant provinziell und manipulationsgeil wie die Musikkritiker der erwähnten "Stuttgarter Zeitung", die alles runtermachen, was nicht Staatsoper Stuttgart oder Internationale Bachakademie heißt - in der kindischen Hoffnung, dass sie damit Meinung machen. Sie verderben aber nur den Geschmack, wenn sie z.B. den eigenen Leuten aus falsch verstandenem Lokalpatriotismus heraus jeden Blödsinn durchgehen lassen. So geschehen zum x-ten Mal etwa bei der Tschaikowski-Oper "Eugen Onegin", wo vermummte Skiläufer in Abbruch-Häusern agierten. Wenn aber im Festspielhaus BADEN-BADEN (wie heute vor einer Woche und am Mittwioch bei den Winterfestspienen) die umjubelte Salzburger Inszenierung des "Rosenkavaliers" von Richard Strauß zu sehen ist, wird prinzipiell gemeckert. Kann man nicht einfach ohne blöde Untertöne neidlos zugeben, dass es zur Zeit keine bessere Besetzung gibt als die mit René Fleming, Diana Damrau und Sophie Koch in den Hauptrollen? Zusätzlich wurde das Ereignis aufgewertet durch einen glänzenden, ausgesprochen spielfreudigen Jonas Kaufmann in der kleinen, aber anspruchsvollen Rolle des Sängers. Das war einmalig, aber die "Stuttgarter Zeitung" mäkelt denkbar neidisch und schlecht gelaunt daran herum. Die Fleming als Objekt der Begierde und nicht in Stuttgart - kann das sein? Das darf nicht, also kann es nicht sein. So ticken nur Trottel.

Dabei ist allein die Wahrscheinlichkeit, dass man Fleming, Damrau und Koch noch einmal auf einer Bühne zusammen singen hört, so klein, dass jeder Kritiker sich nur freuen müsste. Sie haben nämlich schön gesungen UND schön gespielt. Das Publikum wusste es besser als diese hoch bezahlten Miesepeter aus Stuttgart. Es umlagerte nach der Vorstellung die Künstler, die geduldig mit jedem sprachen und sich die Finger wund signierten. Es war nur traurig, dass Sophie Koch, die ihre Hosenrolle phantastisch sang und auf Augenhöhe blendend mit den Weltstars harmonierte, mangels Masse (sprich: CD) nicht signieren konnte: Von dieser französischen Nachwuchs-Sängerin gibt es keine einzige Aufnahme! Dabei hat sie diese Rolle schon vor zwei Jahren in Paris mit einem Riesen-Erfolg gesungen. Aber da waren ja die Deutsche Grammophon und Decca und alle anderen nur mit dem Hype um Anna Netrebko und Rolando Villazón beschäftigt. Man sieht: Dämlichkeit über Dämlichkeit - nur durch das Schielen auf Masse. Mit Kunst verträgt sich das nicht. Geschmack war noch nie eine Sache der Demokratie - nur der Zugang zu Kunst und Kultur. Den aber verrammelt, wer immer nur auf Quoten schielt oder das niedrigst-mögliche Niveau anpeilt und die niederen Instinkte der plebs bedient - angeblich weil das demokratisch ist...

Donnerstag, 1. Januar 2009

Großartig: Silvester mit Elina Garanca

Wenn das neue Jahr 2009 so wird wie die Silvestergala im Festspielhaus Baden-Baden mit Elina Garanca, dann kann man dazu getrost "wunderbar" sagen. Die lettische Mezzo-Sopranistin war der absolute Star eines umjubelten Abends mit der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern unter Leitung des britischen Dirigenten Karel Mark Chichon (im Bild an der Seite des Stars).
Die New York Times feierte den 39jährigen als Wunderkind, seit 2006 ist er Chef des Grazer Sinfonieorchesters und im September leitete er erstmals das Orchester der Wiener Staatoper.
Ich kannte ihn nur vom diesjährigen Weihnachtskonzert aus Wien im Fernsehen und muss sagen: Er hat auch mich beeindruckt durch seine Mischung aus Kompetenz, Leidenschaft und Temperament. Vielleicht ist Spanien in seinem Stammbaum vertreten - der Name deutet jedenfalls darauf hin. Live auf der Bühne strahlt er so viel Gelassenheit wie nötig und so viel wie Präsenz wie möglich aus.

Nordische Schönheit singt spanisch
Spanisch war´s, und temperamentvoll, auch wenn ich mich wiederhole. Nach der Ouvertüre zu Verdis Oper "La forza del destino" sang Garanca die Arie "Nel giardin del bello" der Eboli aus Verdis Oper "Don Carlo". In der "Erholungspause" für die Sängerin spielte eine großartige Dora Bratchkova das Violin-Solo des Andante aus der "Symphonie Espagnole" von Edouard Lalo. Es folgten Auszüge aus "Carmen" von Georges Bizet. Und schon nach der "Habanera", der "Seguedilla" aus dem 1. Akt und dem "Chanson Bohéme" reagierte das Publikum mit frenetischem Beifall und vielen Bravos. Die Garanca verdient sich das nicht nur durch ihre unglaubliche gesangliche Leistung, obwohl schon die sehr selten ist: Präzision, Kraft, Geschmeidigkeit und eine Stimme, die vom warmen erotischen Timbre des Alt bis zu den girrenden Koloraturen und einem finalen hohen C reicht, das Bäume spalten kann. Sie verdient es sich auch, weil zur Zeit sonst niemand so mit dem Publikum flirtet wie sie - meiner Meinung nach nicht einmal Anna Netrebko (und das sagt einer, der eine Rose von ihr bekam).

Elina Garanca beherrscht die ganze Klaviatur der Mimik, wie sie der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt in seiner großen kulturvergleichenden Studie über eine "universale Grammatik des sozialen Verhaltens" dokumentiert: Blickkontakt, Lächeln, verschämtes Senken des Blicks oder anmutiges Wegdrehen des Kopfes, erneuter Blickkontakt, weiter geöffnet diesmal die Augen, das Lächeln, usw. Das tut sie in jeder Phase ihres Gesanges - und zwar nicht nur zu den VIP-Logen oder zur ersten Reihe hin. Sie tut es aber auch während der instrumentalen Zwischenspiele, deutet hier ein Tänzchen an, ändert dort ihre Mimik von liebreizend zu dramatisch oder komisch. Bewusst oder unbewusst? - Auf jeden Fall genial. Man muss im Singen erst mal so gut und sicher sein, dass solches Beiwerk überhaupt ein Thema ist. Die Garanca muss sich in spanische Musik und spanische Themen verliebt haben; anders lässt sich kaum erklären, dass die nordische Schönheit sich derzeit so weit im Süden tummelt. Dass sie auch anders kann, weiß man spätestens seit 2003, da gab sie in Salzburg "La clemenza di Tito" von Mozart.

Überraschungen bei der Auswahl
Nach der Pause standen Zarzuelas auf dem Programm - diese spanischen Äquivalente unserer Operetten, deren Komponisten man hierzuland kaum kennt und die meist kurze Einakter voller Volkslieder sind. Meine Befürchtung, es könnte rührselig und hausbacken werden, erwies sich als völlig grund- und haltlos. Im Gegenteil: Ich werde versuchen, mir ein paar Namen von Komponisten zu merken. Den von Geronimo Giménez etwa, aber auch Francisco Asenjo Barberi, aus dessen Zarzuela "El Barberillo de Lavapies" Garanca die "Canción de Paloma" sang, oder den Namen Ruperto Chapí y Lorente: Wenn alle seine Zarzuelas das musikalische Niveau haben wie die "Romanza de Socorro" aus "El barquillero" oder die "Carceleras" aus den "Hijas del Zebedeo", bekommt man wirklich Lust auf mehr. Das gleiche gilt für die "Canción Espanola" aus "El nino judio" von Pablo Luna.

Eine Überraschung dürfte nicht nur für mich gewesen sein, wie tief und musikalisch virtuos sich Nikolai Rimsky-Korsakow im "Capriccio Espagnol" als Russe in die spanische Seele versetzt hat. Das Orchester spielte drei großartige Auszüge aus diesem Werk des Komponisten, den man eher als Konkurrenten von Mussorgskij und Lehrer von Strawinsky und Prokofjew kennt.

Das Programm forderte Tempo und Anpassung, und beides leistete Chichon blitzgescheit und in phantastischer Spiellaune. Die hatte auch das Orchester, an dessen Leistung es für mich nichts, aber auch gar nichts zu meckern gibt. Traurig daran sind nur der monströse Name, die Tatsache, dass dieser Klangkörper nach der Fusion des Radio-Sinfonieorchesters Saarbrücken mit dem aus Kaiserslautern immer noch keine angemessene "eigene" Spielstätte hat, und sein Platz auf der Liste bedrohter Arten: Der SWR hat jetzt drei im prinzip gleichwertige Radio-Sinfonieorchester, deren Repertoire sich auch noch ähnelt. Da kann man sich an fünf Fingern abzählen, wann es Sparzwängen geopfert wird. Aber ich fange an zu räsonnieren und will doch keineswegs den Bericht über einen großen Musikabend trüben.
Nein, die Silvesterlaune war prächtig. Wenn auch wie in den Reden zum Jahreswechsel düstere Aussichten nicht ganz aus dem Hinterkopf zu verdrängen waren: Nicht nur mir war zum Tanz auf dem Vulkan zumute. Dieser Vulkan hieß Elina Garanca, allen anderen Vulkanen zum Trotz, deren Existenz und Brisanz ich nicht leugne. Sie war ja auch schon mehrfach in Baden-Baden: Ihren Durchbruch schaffte sie dort als Partnerin der Gruberova in "Norma" von Bellini, und ihr gemeinsamer Auftritt mit Anna Netrebko vor anderthalb Jahren war ein Highlight.

ARD-Mittschnitt: tumber Zusammenschnitt
Ganz und gar kein Highlight war aber am Neujahrstag die ARD-Version des Silvesterkonzerts - oder soll man sagen: Was die ARD in Gestalt des Redakteurs Harald Letfuß davon übrig ließ? Es ist schon schade, wenn man ein Programm von 90 Minuten auf 60 kürzen muss. Aber so etwas kommt häufiger vor und ist kein Grund für Verstümmelungen. Dirigent Chichon, Frau Garanca und vielleicht auch das Festspielhaus als Veranstalter haben sich sehr wohl etwas bei der Zusammenstellung des Programms gedacht. Das sind Profis, deren Arbeit das Publikum mit Beifallsstürmen belohnt. Und dann kommt ein Team für den Zusammenschnitt, das an Silvester abends arbeiten muss, damit am nächsten Morgenm um 10 Uhr gesendet werden kann, und demonstriert Arroganz und Ignoranz vom Feinsten. Arroganz, weil man anscheinend in übler Laune und Lustlosigkeit antritt und den eigentlichen Machern mal wieder zeigen will, wo der Hammer hängt. Und Ignoranz, weil man dabei die Regeln des guten Geschmacks ebenso verletzt wie die des Anstands gegenüber künstlerischen Urhebern, weil man einfach handwerklich Mist baut. Um nur die gröbsten Unmöglichkeiten offener Verachtung aufzuzählen, die man diesem schönen Abend in der ARD angetan hat:

Warum die Ouvertüre der Oper "Die Macht des Schicksals" von Giuseppe Verdi einfach entfiel? - Vermutlich nicht nur aus Zeitgründen, sondern weil auch der starke Spanien-Bezug niemandem auffiel. Das Libretto des Dramas um überholte Ehrgriffe ist so spanisch wie der Urheber des Romans "Don Alvaro o la fuerza del sino": niemand Geringeres als Angel de Saavedra, der Duque de Rivas (1771-1865), ein führender Aufklärer im Land der Inquisition. Es fehlt also im Fernsehen der starke musikalische Auftakt, und man hält das Publikum für so blöde, dass es die unterschlagenen historischen und literarischen Bezüge schon nicht vermissen wird.

Dramaturgisch im Fernsehen verpatzt

Das unglaublich starke Violinsolo von Dora Bratchkova aus der "Symphonie Espagnole" von Edouard Lalo ersatzlos zu streichen, war ein doppelter Fauxpas: Erstens weil man eine international renommierte Solistin nicht anreisen lässt, um sie dann trotz (oder wegen?) erwiesener Leistungen einfach zu ignorieren; zweitens weil durch diese tumbe Streichung das ganze dramaturgische Konzept schier irreparabel durcheinander kam. Ja, es gibt auch eine Dramaturgie jenseits der ARD-Fernsehredaktionen, und die wäre hier einmal mehr klar die bessere gewesen.
Ähnlich unmöglich war der Entschluss, ausgerechnet die brillanten Auszüge aus dem "Capriccio Espagnol" von Rimsky-Korsakow zu streichen. Zugegeben, das war eine längliche Instrumental-Enlage, die man aber gut als "Raumteiler" zwischen Verdi und Bizet im ersten Abschnitt und den ebenso zauberhaften wie virtous dargebotenen Zarzuela-Arien hätte einsetzen können. Das tat aber niemand. Stattdessen wurde belanglose Tanzmusik aus dem Zugabenteil bemüht, auf die man nun wirklich gut hätte verzichten können.
Eine Frechheit schließlich oder bloß Angst vor den finanziellen Folgen urheberrechtlicher Aberkennung: Die "Malaguena" von Ernesto Lecuona wurde ebenfalls gestrichen - obwohl oder weil der Dirigent Chichon das anspruchsvolle Stück für Orchester bearbeitet hatte. Ohne über die möglichen Ursachen genauer zu spekulieren: Ich finde, so etwas gehört sich einfach nicht.

Ganz zu schweigen von der Kameraführung (oder vielleicht auch der Bildregie, das weiß nur, wer im Schneideraum saß): Elina Garanca hat zwar mit dem Publikum geflirtet, aber das Fernsehen nicht. Die erste Reihe z.B. hatte wie üblich besonders viel bezahlt; weil aber zwei Sitze leer blieben (vielleicht hatte der Eisregen des Abends zwei ältere Leute am Kommen gehindert), wurde sie überhaupt nicht gezeigt, weder in Zwischenschnitten noch beim Applaus. Dafür kamen dann immer wieder bei Schwenks über die Totale des vollen Parketts die vieleicht 20 leeren Sitze ins Bild, die eigens als "Schussfeld" für die zentrale Kamera an der Rückwand mit Blickrichtung Bühne frei gehalten wurden. Man muss sich das mal vorstellen: Da verzichtet das Festspielhaus auf Einnahmen in Höhe von gut und gern 3000 €, damit der Kameramann einen guten Blick hat. Und dann zeigt die ARD peinliche Bilder, die wirken, als sei das Haus nicht annähernd voll gewesen. Das geht auch anders.

Sekundäre Wiedergutmachung
Wie anders das Ganze wirken kann, zeigte die Version dieses Konzertes, die 3sat am Neujahrstag von 11.05 bis 12.45 Uhr ausstrahlte, oder auch die im dritten Programm des verantwortlichen SWR am Sonntag, den 4. Januar (11.15. - 12.40 Uhr) . Von der Live-Übertragung im Hörfunk bei SWR2 ganz zu schweigen, dann das ist sowieso der beste Kulturkanal im deutschgsprachigen Raum. Ärgerlich bleibt aber die Attitüde der Fernseh-Macher, im 1. Programm der Kultur des Leben schwer zu machen.

Der Respekt vor Kunst und Künstlern wird in die Nischenprogramme abgeschoben, an denen der Gebührenzahler sowieso beteiligt ist: das große Feigenblatt arte folgt sicher ebenso wie die anderen Regionalprogramme der ARD, der ZDF-Theaterkanal und das Ausland. Irgendwann wird dieses Konzert überall zu hören sein. Und das ist dann auch wieder ärgerlich - dieses Abnudeln und Totalvermarkten: So schön ich die Ausstrahlung in zeitnahen Rundfunksendungen finde, weil damit große Kunst ein wirklich großes Publikum erreicht, so unschön finde ich den Überdruss, der irgendwann entsteht, wenn überall die gleichen Superstars zu sehen sind, die den anderen die Luft zum Atmen und das Geld für die Miete wegnehmen.

Die Marktmacht der öffentlich-rechtlichen Sender ist eigentlich genau dafür nicht gedacht. ARD und ZDF haben den Auftrag, Bildungsträger und im Bereich von Kunst und Unterhaltung Mäzen zu sein, nicht etwa exzessiv bereits gekürte Stars zu promoten. Das sollte die Künstleragentur von Elina Garanca tun, nicht das Fernsehen. Das hat nur einmal mehr bewiesen, wie man seine besten Pferde zu Tode reiten kann. Ich bewundere Elina Garanca. Aber ich verachte das deutsche Fernsehen dafür, wie es mit ihr umgeht. So etwas ist ja kein Einzelfall. Und wenn die Künstler nicht sehr aufpassen und extrem charakterfest sind, geht es ihnen wie weiland José Cura oder Rolando Villazón oder wahrscheinlich auch Anna Netrebko: Sie werden aus niedrigen Motiven gnadenlos verheizt. Diese niedrigen Motive (Geldgier nämlich) zu bedienen, das verwechseln viele Medienleute und vor allem Politiker mit medialer Demokratie. Wer den bildungs- und gesellschaftspolitischen Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vergessen hat, gehört dort nicht hin und sollte zu den Privaten gehen. Diese Kulturbeamten sind aber unkündbar. Deshalb starren sie auch öffentlich-rechtlich so auf die Quote, die eigentlich einen Scheißdreck gelten dürfte.

Sonntag, 21. Dezember 2008

Sehr orientalisch, sehr deutsch, brandktuell

SWR2 Buchkritik:

Rafik Schami: "Das Geheimnis des Kalligraphen", Roman. Hanser Verlag, München, 459 S., 24.90 €

„Das Geheimnis des Kalligraphen“, der neue Roman des in Deutschland lebenden und deutsch schreibenden Syrers Rafik Schami, beginnt mit einem Gerücht: Nura, die schöne Frau des angesehenen und wohlhabenden Kalligraphen Hamid Farsi, sei geflüchtet. Und wie sich der Anfang dieser Geschichte an einem frühen Morgen in Damaskus entwickelt, das ist auch eine Stilfrage. Da enztwickeln sich Bilder im Kopf des Lesers:

"Als die Apotheker, Uhrmacher und Antiquitätenhändler gemächlich ihre Läden aufschlossen, ohne besondere Geschäfte zu erwarten, hatte das Gerücht das Osttor erreicht, und weil es bis dahin zu einem gewaltigen Gebilde angewachsen war, passte es nicht durch das Tor. Es prallte auf den steinernen Bogen und zerplatzte in tausendundeinen Fetzen, die lichtscheu wie Ratten durch die Gassen huschten und die Häuser aufsuchten."

Wie alle guten orientalischen Erzähler kommt Rafik Schami auch in seinem Roman „Das Geheimnis des Kalligraphen“ vom Hölzchen aufs Stöcken, und ich weiß kaum, was mir lieber ist: die Hölzchen oder die Stöckchen. Schami erzählt vom Scheitern einer Ehe und vom Entstehen einer Liebe im Damaskus des Jahres 1956. Außerdem erzählt er die Geschichte der arabischen Kalligraphie in Umrissen. Jeder dieser drei Erzählstränge ist explosiv, weil Hamid Farsi nicht irgendwer ist, sondern ein Genie in seinem Fach. Er hat Freunde und Feinde in den höchsten Kreisen der Islamgelehrten und der Politik, wo sich Geheimbünde von Fundamentalisten und Aufklärern bis aufs Messer bekämpfen. Hinzu kommt, dass er nichts von Frauen versteht und seine schöne Nura bald nach der Hochzeit zur Haushälterin degradiert. Als sie sich in einen anderen Mann verliebt, ist es ausgerechnet Sal-man, der christliche Lehrling ihres Mannes. Auch das kann eigentlich nicht gut gehen.

Gefahr würzt manche Liebesgeschichte ebenso wie das sonst eher langweilige Leben vieler Künstler und Aufklärer. Einem von ihnen, dem 888 in Bagdad geborenen Kal-ligraphen Ibn Muqla, ist dieser Roman gewidmet. "Den größten Architekten der Buchstaben und seines Unglücks" nennt Rafik Schami diesen Mann, der das arabische Alphabet reformieren wollte. Sein Lohn waren Verleumdung, Verstümmelung, Enteignung und Gefängnis. Noch heute ist Fanatikern nicht nur der Koran als göttliche Offenbarung heilig, sondern auch die Schrift, die ihn festhält. Ihnen gilt schon der Gedanke an eine Veränderung der Schrift als Todsünde. Deshalb macht Hamid Farsi ähnliche Erfahrungen wie sein historisches Vorbild, als er vergleichbare Pläne entwickelt.

In 42 Kapiteln erzählt der Autor die Geschichten des Liebespaares Nura und Salman sowie in 14 weiteren die des Kalligraphen. Der Leser sieht sie aufwachsen, lernt ihre Familien kennen, ihre Freunde und ihre Feinde. Und er schmunzelt über Nassri Abbani, den reichen Taugenichts und größten Schützenjäger von Damaskus:

"Er hatte vier Frauen in vier Häusern, zeugte pro Jahr vier Kinder und ernährte dazu drei Huren der Stadt… Seine jüngste Frau, die sechzehnjährige Almas, soll einmal gesagt haben: "Nassri kann kein Loch sehen, ohne sein Ding hineinzustecken. Mich würde es nicht wundern, wenn er eines Tages nach Hause kommt und an seinem Stock ein Bienenvolk hängt"."

Der Gockel Nassri ist die Quelle erheblicher Verwicklungen: Aus reiner Eitelkeit wird er zum größten Sponsor von Hamids Kalligraphenschule, die den Zorn religiöser Fanatiker erregt. Ohne zu wissen, dass sie Hamids Frau ist, verliebt er sich in Nura, und zahlt Hamid ein Vermögen für ganz tolle Liebesbriefe. Als der dahinter kommt, bringt er Nassri um.

Dieser sexbesessene Nassri wirkt wie eine Art Katalysa-tor für alle möglichen Schwächen der Gesellschaft. Er verkörpert sie, er zieht sie an, durch ihn zeigen sie ihre ganze Lächerlichkeit. Natürlich werden seine Eskapaden und sein Schicksal Stadtgespräch: in Damenkränzchen ebenso wie in Werkstätten und Cafés, Büros und Läden, bei den Hochmögenden und bei den Armen. Rafik Schami erzählt sinnlich, bildhaft und spannend. Oft bricht sich eine der größeren Geschichten in einer kleinen, manchmal winzigen, wie Licht in Spiegelscherben.

Der Roman ist auf deutsch geschrieben, aber ganz und gar syrisch: der Ort, die Charaktere, die Handlung, bis hin zu Brautverhandlungen und Hochzeitsritualen. Der Autor nimmt den Leser mit ins Damaskus seiner Jugend, eine Stadt voll Aberglauben und Grausamkeit, aber auch voll Schönheit, Fröhlichkeit und einer religiösen Toleranz, die schon zu bröckeln beginnt. Ein Buch über Männer und Frauen im Orient, über Weisheit und Dummheit, Liebe und Kunst, das keinem Problem aus dem Weg geht und wunderbar leicht erzählt ist.

Ein großer Roman

SWR2 Buchkritik:
Rafael Chirbes: "Krematorium". Roman, Verlag Antje Kunstmann, München, 430 S., 22 €

Keiner der Romane von Rafael Chirbes hat eine Handlung im herkömmlichen Sinn. Auch „Krematorium“ nicht. In diesem Roman zeichnet der Autor 30 Jahre nach dem Ende der Franco-Diktatur ein düsteres Bild seiner Generation. In den wenigen Stunden zwischen dem Tod des Ökobauern Matías und der Trauerfeier bilden die Hinterbliebenen einen Chor widersprüchlicher Erinnerungen und Abrechnungen: 13 Kapitel ohne Absätze, sechs verschiedene Perspektiven.

Arena für diesen Showdown der Lebensbilanzen ist Misent – ein Dorf bei Alicante, ähnlich dem Dorf, in dem der Autor geboren wurde und ähnlich dem, in dem er heute lebt. Durch den Massentourismus verschandelt, sind diese „Urbanisationen“ zugleich Symbol des spanischen Wirtschaftswunders und des Preises, den die Menschen dafür zahlen. Das Buch erzählt daher weniger von Massentourismus oder Umweltsünden als vom Verlust des Glaubens und der Zerstörung der Seelen.
Hauptfigur ist der 73jährige Baulöwe Rubén Bertomeu, der ältere Bruder von Matías, groß geworden durch Immobilienspekulation und Mafiamethoden. Dieser Rubén ist ein fleischgewordenes Ausrufezeichen des Sozialdarwinismus ohne jedes Unrechtsbewusstsein. Der frühere Sozialist hat, enttäuscht von der Demokratie, das Geld über alles gesetzt, für ihn das einzige Tor zur Freiheit:

"Das Geld gilt immer mehr als die Ideen, weil es sie in seinen Dienst stellen kann."

Doch wo Chirbes ihn als Kunst- und Bildungsreisenden oder Gourmet schildert, wird sogar dieser Kerl sympathisch in seiner Beredsamkeit und bauernschlauen Lebenserfahrung. Schon in dem Roman „Alte Freunde“ beschrieb Chirbes so einen Typ, der ganz prima erklären konnte, wieso er irgendwann zum Immobilienhai werden „musste“. Und doch zeigt Rubén echte Gefühle:

"An Mónica geschmiegt einschlafen, meine Beine zwischen den ihren, Fleisch an Fleisch, Fleisch gegen den Tod, Wärme gegen den Tod und seine Gespenster. Die Worte des Arztes klingen wieder in meinem Schädel: Er ist klinisch tot, und auf einmal bin ich gerührt. Der Blick verschwimmt, und ich fange an zu weinen. Ich heule im Auto und kann kaum den Verkehr zu meiner Linken wahrnehmen."

Chirbes verurteilt keine seiner Figuren; die entlarven sich vielmehr selbst. Während Rubén auf dem Weg von der Klinik zur Trauerhalle im Stau steckt, steht seine junge Frau Mónica vor dem Badezimmerspiegel. Was noch niemand weiß: sie ist schwanger. In ihre Gedanken über Fitness und Schönheit als Invesitionsgut mischen sich schadenfrohe Kalkulationen über die Veränderung der familiären Vermögensverhältnisse durch einen männlichen Erben für Rubén. Die Nachricht will sie auf der Trauerfeier verbreiten.

Dann Federico Brouard: Der einst erfolgreiche Schriftsteller und Jugendfreund von Rubén versinkt in Suff und Selbstmitleid. Erst kürzlich hat er Rubén sein Grundstück verkauft, weil er von seinen Büchern nicht mehr leben konnte. Er verehrte Matías, weil der soziale Gerechtigkeit, Umweltbewusstsein und Kultur zu verbinden suchte. Doch der Verstorbene entpuppt sich als einstiger Möchtegern-Stalinist und seine ganze Öko-Masche als Flucht vor der Realität.

Auch Rubéns heftigste Kritikerin, seine Tochter Silvia, nimmt sein Geld und hat ihre Kinder zu kalten Materialisten erzogen. Ähnlich schlecht wie Rubéns Ex-Freund Brouard, seine Enkel oder Silvia kommt seine steinalte Mutter weg: Deren Lebensinhalt ist es, anderen das Leben schwer zu machen, ihre einzige Äußerungsform ein „imperatives Krächzen“.

Chirbes untermauert diese Autopsie der Gesellschaft mit zahllosen Zitaten und Anspielungen aus Literatur, Musik, Kunst und Philosophie. Gleichsam noch am Seziertisch feiert Chirbes die großen Leistungen europäischer Kultur. Der moralische Verfall ist umfassend. Ein beklemmender Existenzialismus macht sich breit: Im Tod wie im Leben ist jeder allein, es gibt keine echte Gemeinschaft. Doch inmitten dieses Requiems halten sich hartnäckig Anzeichen für Lebensfreude und eine reinigende Kraft der Trauer: einfühlsame Anteilnahme, eine unverwüstliche Sinnlichkeit, eine menschliche Nähe, die niemals Anbiederung wird.

Mit diesem Roman lässt Chirbes sein bisheriges Generalthema Franco hinter sich und ist endgültig in Europa angekommen. Seine großartigen inneren Monologe beschwören etwas, das uns alle angeht: das Scheitern großer Ideale, die Korruption der Hirne und Herzen. Er tut das vielstimmig – zornig und traurig, mal brutal und mal sehnsüchtig, manchmal auch ausgesprochen witzig.

Montag, 8. Dezember 2008

Mit dem SWR2 RadioClub zu den ARD Hörspieltagen

Am Freitag, den 7. November fuhren 30 Leserinnen und Leser der "Heilbronner Stimme" mit einem SWR2-Sonderbus zu den ARD Hörspieltagen im ZKM Karlsruhe. Ich hatte das Vergnügen, die Gewinner eines Gewinnspiels der Zeitung für den SWR2 RadioClub zu begleiten. Das war eine neue Zusammenarbeit zwischen Zeitung und Kulturradio, und Medienredakteur Marcel Auermann bestätigte meine Einschätzung: Sie hat sich für alle Beteiligten gelohnt. Kulturnetzwerke müssen die Grenzen zwischen den Medien überwinden, damit das Publikum nicht länger unter einer Konkurrenz leidet, die ohnehin immer nur in Bezug auf Anzeigenkunden Bestand hatte. Die Journalisten verstehen sich längst prächtig, die Kulturinteressenten auch - ganz gleich, ob nun als Leser oder als Hörer.
Nach der Abfahrt im Hof der "Heilbronner Stimme" nahmen wir zwei Redakteure die Teilnehmer in Empfang und verteiten Taschen mit Programminformationen, einer Hörspiel-CD des SWR und Broschüren über Hörspielproduktion und den SWR2 RadioClub. Im ZKM angekommen, wurde die Gruppe von SWR2-Hörspielchef Ekkehard Skoruppa begrüßt und bei Sekt, Kaffee und Kuchen eingestimmt. Es folgte eine Führung durch das ZKM-Museum und die Ausstellung "YOU_ser" im Medienmuseum, wo die multimediale Entwicklung der Kunst im Technologiezeitalter mit schönen Beispielen zu sehen ist.
Nach einer Pause zum Abendessen begann um 19 Uhr die Vorführung des Hörpiels "Das Wunderwerk oder The RE-Mohammed-TY-Show" von Christian Lollike, dem SWR2-Festivalbeitrag, mit anschließender Jurydiskussion. Der dänische Dekonstruktivist und Theatermann Lollike nahm einen umstrittenen Kommentar des Komponisten zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zum Anlass seiner Collage aus Reflexionen und Medienzitaten. Stockhausen hatte gesagt: "Was da geschehen ist, ist - jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen - das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat." Nun, sein Stück wars jedenfalls nicht, fanden die Zuhörer im Gleichklang mit der Jury. Die urteilte, der Autor sei selbst dem Problem in die Falle gegangen, das er kritisiere, der Schlagzeilengier mit unerträglichen Gewaltszenen nämlich: Gut gemacht, aber inhaltlich und dramaturgisch angreifbar, witzig und temporeich, doch geschmacklos und ohne eigenen Standort. Letztlich ein medienkritischer Versuch, der genauso daneben ging wie der unpassende Satz, der ihn auslöste.
Um 21 Uhr begann die Live-Radioshow "Das Magische Auge". Axel Naumer moderierte die musikalisch-kabarettistische Revue durch die Geschichte des Radios mit Songs von Robert Kreis, Kabarett von Jürgen Busse & Friends und einem etwas albernen, aber unterhaltsamen Live-Hörspiel in Etappen. Das war ein versöhnlicher Ausklang, und um Mitternacht waren die Heilbronner Ausflügler allesamt zufrieden und gut gelaunbt wieder zu Hause. Zwischendurch im Bus und im ZKM immer wieder: Gespräche mit den "Redakteuren zum Anfassen", Fragen zum Kulturradio und zum RadioClub, Hörspiel-Diskussionen und Kulturpolitik auf basisdemokratischer Ebene. Feine Sache, sollte man öfter machen. Wollen wir auch.

Samstag, 1. November 2008

Neue Gedichte von Karl Lubomirski

Karl Lubomirski hat wieder einen neuen Lyrikband herausgebracht: RAUMFREMDE, 38 Seiten, erschienen bei der Edition Thurnhof in Tirol (Österreich) ist eine bibliophile Edition mit stimmungsvollen Offset-Farblithographien von Wilbeth Neubarth. Bestellen kann man das Büchlein über toni.kurz@thurnhof.at, und weitere Informationen gibt es im Internet unter www.thurnhof.at.

Eigentlich kann ich ja mit abstrakten Grafiken nicht viel anfangen, aber diese Farblithos von Neubarth haben eine unauffällig Eleganz, die sehr gut zu den Gedichten von Lubomirski passt. Davon nur eine kurze Probe:

Der Kiesel am Weg
so rund
vom Erzählen.
Und niemand
hört zu.


Da ist die Haiku-verwandte Kürze, die sprachliche Verdichtung und Verknappung in philosophischen Sentenzen von großer schlichter Schönheit. In der Tat: 400 Exemplare Auflage, wer hört dem Dichter noch zu? Und doch wird das hier leichter, denn der Leser kann schauen. Es ist eine Anschauung nicht wie im primitiven Comic, sondern eher wie in alten Fresken romanischer Kirchen, die sich auch nicht bloß an die Analphabeten richteten. Auch der Gebildete hatte (und hat) in ihnen einen kostbaren Anstoß zur Meditation.
Lubomirskis Gedichte sind weltliche Gebete, getragen von einer skeptischen Transzendenz. Da ist einer gläubig, obwohl er längst seinen Glauben verloren hat. Denn er liebt noch. Da ist einer auf eigene Beine zu stehen gekommen und hängt nicht mehr am Faden der großen Puppenspieler, aber er spielt das Spiel noch - und wie souverän - es ist eine Lust!
Nicht nur die Texte sind so, auch die Graphiken. Das ist eine gemeinsame Arbeit im besten Sinne des Wortes, die zum Nachdenken anregt, kleine Fröhlichkeiten und eine große Melancholie über den Zustand der Welt ausbreitet, und dann, bevor man traurig wird, weil schon alles wieder vorbei ist: husch husch, ab ins Bettchen, sprich: ins Bücherregal.
Und weil der Advent naht, zum Abschied noch eins dieser Gedichte:

Mein Weihnachtsbaum

Er steht ein wenig schief,
ist eigentlich ein Ölbaum.
Ich habe ich selbst gepflanzt,.
Und wenn im Winter
alle Vögel schweigen,
trägt mir aus seinen Zweigen
ein Rotkehlchen,
das meine Mutter war,
das Weihnachtslied
ins leere Haus.