Tatjana Țîbuleac: "Der Garten aus Glas", Roman. Verlag Schöffling & Co, 2023, 271 Seiten, 25 €. Aus dem Rumänischen übersetzt von Ernest Wichner Dieses Buch ist ein schwieriges, ein böses, zärtliches und auch wütendes Buch über kaputte Menschen. Die Autorin erzählt von einer Kindheit in Armut. Sie erzählt in 166 kurzen Kapiteln von einer Karrierefrau, die es mit eisernem Willen, Selbstausbeutung und Brutalität aus einem trostlosen Waisenhaus in der Hautstadt der Republik Moldau bis zur Chefärztin in Bukarest geschafft hat. "Ich stand vom Bett auf und hatte eine Mutter. Welch ein Wunder, kein Waisenkind mehr zu sein, und welche Angst, es innerhalb einer Sekunde wieder zu werden!" Doch ihre Ziehmutter Tamara Pawlowna, die als Flaschensammlerin viel Geld verdient, hat das siebenjährige Kind nicht aus Wohltätigkeit aufgenommen, "sie hatte mich gekauft". Erst nach jahrelanger Kinderarbeit darf sie die Schule besuchen. Die Autorin erzählt diese Geschichte in Rückblenden, mit Brüchen, Auslassungen und Unschärfen. Sie erzählt in traumschönen poetischen Bildern und im derben, schonungslosen Vokabular eines Realismus aus der Gosse und den Höfen der Plattenbausiedlung:
"Tamara Pawlowna hatte ein Bad mit blauen Fliesen, mit blauen Blumen und blauer Mitte. Es gab viel Schönes ringsum, ich fühlte mich wie in einem Gemälde... Als sie mit dem Schwamm reinkam, sprang ich auf die Beine. Sie drehte mich lange in alle Richtungen, als sei ich ein neues Kleid, suchte nach Fehlern... Zelka, Jungfrau?, fragte sie schmallippig und ich spürte ihre rauhen Finger in mich eindringen... Zelka, Zelka, Zelka?, der Schmerz in mir wurde heftiger... Die Wörter fielen ihr wie Mistkäfer aus dem Mund und krochen auf mich zu. Ich nickte. Die Finger kamen heraus und wanderten zu meiner Fußsohle. Und mit Seife, und mit Seife. Und da noch, und da noch... Budesch poslushnoi, sdelaju is tibja tscheloweka, Wenn du auf mich hörst, mache ich einen Menschen aus dir." Das hieß, ein Mensch sprach Russisch. Das Mädchen bekommt den Namen Lastotschka, Schwalbe, kein Lehrbuch, aber Kopfnüsse und Schläge für jeden Fehler. Die Ziehmutter kann alles, weiß alles, ist mörderisch, aber mitfühlend, tückisch, aber gerecht, arbeitet immer und baut ein Imperium aus Kopeken. "Sie brachte mir das Alphabet bei, die Republiken und den Umgang mit Geld."
Aber niemand sonst hat Lastotschka haben wollen, nicht einmal ihre Eltern, die sie einfach entsorgt haben. "Ich hätte mich sogar an eine scharfe Klinge gelehnt, wenn sie mich gestreichelt und mit Brot zugeworfen hätte."
Wenn das Glück darin besteht, nicht verprügelt oder vergewaltigt zu werden, wenn Kindheit nur ein Wort aus einer Erzählung ist: Lastotschka tut sich mit anderen Mädchen aus dem Block zusammen, weil es sich zusammen besser überlebt, weil man so besser Geschäfte machen kann. Sie wachsen gemeinsam auf erleben die Armut, die Schule, die Pubertät, die Jungs in der Nachbarschaft, die Kriegsversehrten. Das Kaleidoskop der Typen wird erzählerisch zum Kaleidoskop der Schicksale zwischen der russischen und der rumänischen Sprache, Identität und Politik in dem kleinen Land zwischen Rumänien und der Ukraine mit nur 2,5 Millionen Einwohnern, das 1991 beim Zerbrechen der Sowjetunion seine Unabhängigkeit erklärte. Danach waren die Russen plötzlich keine Vorbilder mehr, sondern "Besatzer".
Besonders eindrucksvoll ist das einfühlsame Porträt des einbeinigen Kriegsveteranen Sachar Antonowitsch, der in einem kalten Winter einfach in seiner Wohnung erfriert. Er hatte immer eine Manteltasche voller Bonbons für die Kinder. Lastotschka durfte stets zwei davon nehmen,"nicht nur eines wie alle anderen Kinder, weil ich nämlich eine Waise war und deshalb mehr Bitterkeit im Mund hatte." Der alte Mann wurde von den Frauen des Blocks durchgefüttert, weil seine Rente nicht reichte. Und dann gab es "Bonbons gegen Zuhören". Manchmal schien es, als würde der Alte ohne das Ritual mit den Kindern vertrocknen ein ein Baum ohne Wasser: "Es gibt Menschen auf der Welt, die nicht überleben können, wenn sie nicht erzählen... Eine Geschichte - auch die allerkürzeste und auch die traurigste - achtet stets darauf, Gerechtigkeit geschehen zu lassen."
Die Journalistin Tatiana Ţîbuleac wurde 1978 in Chişinău in der heutigen Republik Moldau geboren und lebt seit 2008 als Schriftstellerin in Paris, ist bis heute überall und nirgends zu Hause. „Manchmal kommt es mir so vor, als lebte ich allein in meinem Kopf, und auch dort nur zur Miete.“ eine bedeutende Rolle im Roman spielt die Sprache, wie eine Währung, die sich ständig ändern kann. Welche Sprache wird in der Schule gesprochen? Russisch oder moldauisch bzw. rumänisch? Welche Ausdrücke gibt es in einer Sprache, wo fehlen Ausdruck und Worte hierfür in der anderen? Hier aber ist die Sprache kein Mittel der Integration, sondern meistens der Ausschlusses. Lastotschka sagt einmal: „So viele Jahre sind nun vergangen, seitdem ich nach Bukarest gekommen bin, und es hat sich nichts geändert. Immer noch bin ich ‚die Russin‘. Die Sprache und die Angst: Zu dem Preis, zu dem sie mich kaufen, verkaufen sie mich auch.“
„Der Garten aus Glas“ ist natürlich eine Flaschensammlung, klingt aber poetischer. Und so färbt die Autorin in diesem Roman ein ziemlich elendes, liebloses Leben mit sprachlichen Mitteln bunt. Die Autorin studierte Journalismus und Kommunikation an der Staatsuniversität Moldau in Chișinău. Bekannt wurde sie durch die Kolumne „Wahre Geschichten“, die Mitte der 1990er Jahre in der Zeitung Flux erschien. Seit 1999 arbeitete sie als Reporterin und Moderatorin beim Fernsehen in Chisinau. 2008 zog sie nach Paris. Țîbuleac erhielt für ihr zweites Buch, "Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte" (2017) den Preis des Schriftstellerverbandes der Republik Moldau (2017), den Preis der Zeitschrift Observator cultural und mit den Preis Observator Lyceum (2018) ausgezeichnet. Der Roman erschien auf Französisch, Spanisch, Norwegisch, Deutsch und Polnisch. Die spanische Ausgabe, die 2019 im Verlag Impedimenta erschienen ist, wurde mit dem Casino de Santiago European Novel Award ausgezeichnet. "Der Garten aus Glas" (2018) wurde mit dem Literaturpreis der Europäischen Union (2019) ausgezeichnet und ins Französische, Spanische und Bulgarische übersetzt.
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