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Freitag, 22. Mai 2020

Nur ein halber Mensch

Gestern kam ich beim Spazierengehen an dieser Rose vorbei. Was man nicht sehen kann, ist ihr wunderbarer Duft. Und genau so geht es derzeit den Künstlern ohne Feedback durchs Publikum oder ganz allgemein den Menschen ohne bzw. fast ohne direkte persönliche Kontakte. Der Schauspieler Ulrich Matthes stellt heute im Interview mit der Stuttgarter Zeitung fest: "Je länger jetzt der Ausnahmzustand dauert, desto lahmarschiger werde ich." Auch ich spüre zunehmend, dass ich ohne die Kraftquelle direkter Kontakte nur ein halber Mensch bin, wie eine Rose ohne Duft. Die Motivation zur konzentrierten Arbeit leidet, schon einzelne Freunde zu treffen hat derzeit noch etwas Heimliches, Subversives an sich, und wo überhaupt soll das stattfinden? Auch bei Regen nur im Park? Jeder Ort der berühmten "deutschen Gemütlichkeit" ist auf unabsehbare Zeit gründlich verungemütlicht durch Absperrungen und Hygienevorschriften. Als Autor ohne Lesungen, Chorsänger ohne gemeinsame Proben, Lungenpatient ohne Lungensport und Abonnent des SWR Symphonieorchesters bin ich seit zweieinhalb Monaten künstlerisch auf Null gesetzt, aktiv wie passiv. 
Inzwischen frisst das Sublimieren dieser Defizite immer mehr Zeit und Energie. Ich neige zwar nicht zu Depressionen, und wer mich kennt, weiß, dass ich sehr kopfgesteuert lebe. Aber ich kann aber immer besser verstehen, was die Corona-Probleme psychisch mit uns machen. Das wird mittelfristig die Praxen der Psychiater und Psychotherapeuten auch mit ganz normalen Leuten fluten, ganz zu schweigen von fehlgeleiteten, oft ferngesteuerten Demonstranten von Links, Rechts, Impfgegnern und Anhängern aller möglichen Verschwörungsmythen.
Ok, ich gehöre als chronischer Lungen-Patient zu einer Risikogruppe. Aber soll ich deshalb für ein Jahr oder zwei meine künstlerische Existenz ausknipsen wie eine Lampe? Der Mensch ist ein soziales Wesen, und ein Kind oder Künstler ist es doppelt. Er geht ohne Feedeback und emotionalen Austausch ein wie eine Primel ohne Wasser. Daher ist dieser Zustand nicht einfach bloß eine "Einschränkung der Grundrechte" auf Zeit, sondern ein unmenschlicher Zustand, ein Einfrieren der Seele - zumal dann, wenn jede vernünftige Perspektive fehlt. Dagegen wehren sich Körper und Seele vehement, und sei es noch so "vernünftig". Das macht viele Menschen einfach krank, und deshalb darf es nicht so bleiben. Sonst sind die Kosten in diesem Kampf zu hoch.
Ich weiß, dass dieser Zustand mit Vernunft nichts zu tun hat. Ich weiß ebenfalls, dass ein Virus nicht vernünftig oder kopfgesteuert ist. Doch auch der Selbsterhaltungstrieb ist nicht kopfgesteuert. Er ist mächtig und irrational, er schert sich nicht um Gesetze. Wir können nicht die ganze Welt auf die Couch legen. Das klappt schon bei traumatisierten Völkern nicht, etwa Juden, Palästinensern oder Kurden, und erst Recht nicht bei einer kompletten Weltbevölkerung. Das gilt es zu berücksichigen, wenn wir nach einer neuen Balance für ein "normales" Leben mit oder nach Corona suchen, Kunst und Kultur inklusive.

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