Kerstin
Schweighöfer:
„100
Jahre Leben. Welche Werte wirklich zählen“, Hoffmann und Campe
Verlag, Hamburg, 366
Seiten, 20 EURO.
Das
Buch „100 Jahre Leben. Welche Werte wirklich zählen“ von Kerstin
Schweighöfer porträtiert zehn Menschen im Alter von 100 oder mehr
Jahren, so genannte „Zentenare“. Es ist eine geballte Ladung
Lebenserfahrung, von der man eine Menge lernen kann.
Hundertjährige
nötigen uns Respekt ab und machen uns neugierig. Sie sind nicht
automatisch Vorbilder, aber Zeugen eines Jahrhunderts, in den enorm
viel passiert ist und das ihnen viel zugemutet hat. Manche haben ihre
Großeltern durch Seuchen verloren, die vor der Erfindung des
Penicillins tödlich waren, ihre Väter bei Verdun und Männer bei
Stalingrad. Für sie ist die Zeit vergangen in einem Tempo wie kaum je zuvor. Sie haben die Einführung des
Frauenwahlrechts erlebt, den Nationalsozialismus, die Teilung und
Wiedervereinigung Deutschlands. Sie haben noch Zeiten ohne Auto und Flugzeug, Glühbirne,
Telefon, Radio und Fernsehen gekannt, ohne Staubsauger,
Waschmaschine, Nylonstrümpfe und Kugelschreiber Und doch surfen
einige von ihnen heute im Internet.
Die
Autorin Kerstin Schweighöfer hat schon als Kind eine von ihnen
gekannt, eine Wirtin namens Mathilde aus dem Schwarzwald. Doch allen
hat sie einfühlsam die gleichen Fragen gestellt: über den Wert von
Liebe, Ehe, Kinder und Familie, Freundschaft und Leidenschaft, Geld
und Erfolg, Freiheit und Glück, Gott und Religion. Sie hat sehr
ehrliche Antworten bekommen und zieht jedes Mal respektvoll, aber
sachlich und nüchtern Bilanz.
Sieben
der zehn porträtierten Zentenare sind Frauen – weil sie nicht auf
dem Schlachtfeld gefallen sind und vielleicht auch weil ihnen das
Rauchen und Trinken noch fremd waren. Mathilde war als junge Frau
Dienstmädchen. Der Sohn eines Arbeitgebers stieg ihr nach, und sie
musste auf Geheiß des Pfarrers und der Eltern einen wildfremden
Bauern heiraten. Liebe kam da nicht auf. Arrangierte Ehen waren also
vor 100 Jahren auch bei uns kaum seltener als heute im Orient. Als
furchtbaren Schlag erlebte Mathilde den Selbstmord ihres Sohnes, der
aus einer Affäre stammte. Da hat sie an ihrem Glauben gezweifelt.
Obwohl
der Verlust geliebter Menschen zu den schlimmsten Erfahrungen gehört,
ist es beeindruckend, mit welchem Lebensmut die heute Hundertjährigen
immer wieder neu angefangen haben. Fast alle wiederholen die
unsentimentale Aussage, man müsse das Beste aus dem Leben machen.
Dass jeder, auch ein Atheist, an etwas glaubt, das ihn aufrecht hält,
ist auch so eine Erkenntnis. Oder dass es kein Recht auf Glück gibt.
Auffallend viele erklären: „Wir jagen häufig einer Vorstellung
vom Glück nach. Man übersieht es leicht, denn oft liegt es im
Kleinen.“
Worauf
es ankommt, sagen Fritz aus Naumburg, die Malerin Mariska aus Ungarn
und die britische Archäologin Beatrice, sei ein gutes Leben, und sie meinen damit ein
sinnvolles. Wichtig für die Liebe sind ihnen Achtung, Vertrauen und
gemeinsame Ziele. Besonders viele glückliche Augenblicke garantieren
aber anscheinend weder Liebe noch Sex. Die Familie als Lebenshinhalt
kann sich als brüchig erweisen, Kinder können sterben oder ins
Unglück rennen, und die Eltern müssen es machtlos hinnehmen.
Umso
wichtiger sind daher Freunde, die einem auch dann noch Halt geben und
die man sich aussuchen kann. Die meist-genannte Zutat für ein
erfülltes Leben ist Leidenschaft: diese oft nur kleine, aber
beständige Flamme, die alles, was man tut, zum Leuchten bringt, die
den Beruf zur Berufung macht, ein Hobby, ein Interesse, ein Ziel.
Das
Leben ist ein Geschenk, sagen die Jahrhundertmenschen – trotz aller
Verluste, Einschränkungen oder Fehler. Manche bereuen, dass sie zu
feige waren, jüdische Freunde vor den Nazis zu retten. Gerrit
aus Holland hat sich von Schönheit blenden lassen und die falsche
Frau geheiratet, brachte aber nicht den Mut auf, sich von ihr zu
trennen. Lieber führte er 40 Jahre lang ein Doppelleben. Einige
bedauern, dass sie sich zu wenig um ihre Partner gekümmert haben.
Es
gelingt nicht immer, Prinzipien treu zu bleiben, doch das macht sie
nicht überflüssig. Die Charakterstärke der Hochbetagten bedeutet nicht etwa
Fehlerlosigkeit, sondern eher die Fähigkeit, nie aufzugeben und
Freiheit nicht mit Verantwortungslosigkeit zu verwechseln. Diese
Fähigkeit hat ihren Preis, den die Hundertjährigen genau kennen.
Weicheier und Bequemlinge sind sie alle nie gewesen. Dieses
wunderbare Buch enthält zusammen 1000 Jahre Lebens-erfahrung und
macht jedem Leser Mut. Denn wir werden alle älter und können viel
lernen von der Haltung, die man hier antrifft.
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