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Freitag, 9. August 2013

Doris Runge und die Urkraft der Dichtung


SWR2 Buchkritik: Doris Runge „zwischen tür und engel“, Gesammelte Gedichte. 
Deutsche Verlagsanstalt (DVA) München, 253 Seiten, 22,99 €
Gute Lyrik kann man auf mehreren Ebenen lesen und interpretieren. Sie ist mehrdeutig wie das Gedicht aus dem Band „zwischen tür und engel“, von dem eine Zeile den Titel gab. Die gesammelten Gedichte von Doris Runge sind zum 70. Geburtstag der Autorin am 15. Juli erschienen. Ausgewählt und in einem schönen Nachwort erklärt hat sie Heinrich Detering. Er versteht diesen zentralen Text als Sterbegedicht, aber man kann durchaus auch an eine erotische Begegnung denken. Der Titel lautet „blind date“:

es muss ja nicht
gleich sein
nicht hier sein
zwischen tür und
engel abflug
und ankunft
in zugigen höfen
es könnte
im sommer sein
wenn man
den schatten liebt
es wird keine
liebe sein
jedenfalls keine
fürs leben

Tatsächlich ist der Text beides. Hinter einem One-Night-Stand verbirgt sich der Todesengel. Auch wenn die Autorin in früheren erotischen Gedichten den Liebhaber nicht selten „Engel“ nennt – oder gerade deswegen. Was ist das Leben anders als die Liebe – eine flüchtige erotische Begegnung, schmerzhaft eingeklemmt in den schmalen Spalt zwischen Tür und Angel? Abflughallen irdischer Flughäfen, Ankunft im Jenseits? Doris Runge spielt meisterhaft mit solchen Mehrdeutigkeiten. Und Herausgeber Heinrich Detering betont diese Stärke durch die getroffene Auswahl. Es sind ihre schönsten und wichtigsten Texte, jedenfalls die allermeisten davon.
In konsequenter Kleinschreibung, ohne Satzzeichen und in konzentrierter rhetorischer Verknappung präsentieren diese Gedichte die Nachtseite der Romantik. Schon ganz zu Anfang finden sich typische Alltagsbeobachtungen mit Falltüren ins Psycho-Land. Zum Beispiel:

manchmal nachts
die morde
die wir tagsüber
mit sauberen händen
begehen

In elf Kapiteln, wobei die zwei ersten jeweils nur zwei Gedichte enthalten, folgt dieses Buch im Wesentlichen der Chronologie von Doris Runges Gedichtbänden: Von „Liedschatten“ im Jahr 1981 – mit IE geschrieben und eben KEIN kosmetischer Begriff – bis heute pendeln sie zwischen Eros und Tod. Runge-Gedichte sind ein Hexenkessel: Bannflüche, Bindesprüche, blutsaugende Vampirliebe. Sie schreibt die „Ballade von einem, der einzog, das Fürchten zu lernen, sieht sich „überm Teekessel, weiße Wolken, beschlagene Brillengläser“.
Hexen, Nixen oder auch die Mönche des alten Klosters in ihrer Heimat Cismar an der Ostsee: Runges Personal liebt Schatten, Mondnächte, das Überschreiten der Grenzen zwischen Realität und Phantasie. Sie leben in Zwielichtwelten mit einer großen Tradition seit Goya, Theodor Storm oder E.T.A. Hoffmann. Manchmal kommt das lyrische Ich daher wie Draculas Braut oder eine Werwölfin.
Das letzte Kapitel heißt „federleicht“ und enthält neue Gedichte. Da staunt man wie die Autorin selbst darüber, was für ein blauäugiges, neugieriges, hungriges Kind noch in ihr lebt. Wirklich, in der Poesie sind 70 Jahre kein Alter. Das buchstäblich letzte Wort aber hat die Urkraft von 50 Jahren Dichtkunst:

könnte ich
den zorn halten
ihn einspannen
wie einen ochsen
ich würde
das brachliegende
tiefstumme
weiße
papier aufreißen...
schwarze lettern zerbrechen
aus den bindungen reißen
könnte ich den zorn halten
ich würde werwölfig umgehen

Wie es im Nachwort treffend heißt, hat man diese Gedichte sehr schnell durch. „Aber man wird nicht fertig damit“. Das sind Gedichte, die nachwirken. Dieses Buch ist ein Lebenswerk, das man ruhig immer wieder zur Hand nehmen sollte.

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