SWR2 Buchkritik: Doris Runge „zwischen tür und engel“, Gesammelte Gedichte.
Deutsche Verlagsanstalt (DVA) München, 253 Seiten, 22,99 €
Gute Lyrik kann man auf mehreren Ebenen lesen und
interpretieren. Sie ist mehrdeutig wie das Gedicht aus dem Band
„zwischen tür und engel“, von dem eine Zeile den Titel gab. Die
gesammelten Gedichte von Doris Runge sind zum 70. Geburtstag
der Autorin am 15. Juli erschienen. Ausgewählt und in einem
schönen Nachwort erklärt hat sie Heinrich Detering. Er versteht
diesen zentralen Text als Sterbegedicht, aber man kann durchaus auch
an eine erotische Begegnung denken. Der Titel lautet „blind date“:
es muss ja nicht
gleich sein
nicht hier sein
zwischen tür und
engel abflug
und ankunft
in zugigen höfen
es könnte
im sommer sein
wenn man
den schatten liebt
es wird keine
liebe sein
jedenfalls keine
fürs leben
Tatsächlich ist der Text beides. Hinter einem
One-Night-Stand verbirgt sich der Todesengel. Auch wenn die Autorin
in früheren erotischen Gedichten den Liebhaber nicht selten „Engel“
nennt – oder gerade deswegen. Was ist das Leben anders als die
Liebe – eine flüchtige erotische Begegnung, schmerzhaft
eingeklemmt in den schmalen Spalt zwischen Tür und Angel?
Abflughallen irdischer Flughäfen, Ankunft im Jenseits? Doris Runge
spielt meisterhaft mit solchen Mehrdeutigkeiten. Und Herausgeber
Heinrich Detering betont diese Stärke durch die getroffene Auswahl.
Es sind ihre schönsten und wichtigsten Texte, jedenfalls die
allermeisten davon.
In konsequenter Kleinschreibung, ohne Satzzeichen und in
konzentrierter rhetorischer Verknappung präsentieren diese Gedichte
die Nachtseite der Romantik. Schon ganz zu Anfang finden sich
typische Alltagsbeobachtungen mit Falltüren ins Psycho-Land. Zum
Beispiel:
… manchmal nachts
die morde
die wir tagsüber
mit sauberen händen
begehen
In elf Kapiteln, wobei die zwei ersten jeweils nur zwei
Gedichte enthalten, folgt dieses Buch im Wesentlichen der Chronologie
von Doris Runges Gedichtbänden: Von „Liedschatten“ im Jahr 1981
– mit IE geschrieben und eben KEIN kosmetischer Begriff – bis
heute pendeln sie zwischen Eros und Tod. Runge-Gedichte sind ein
Hexenkessel: Bannflüche, Bindesprüche, blutsaugende Vampirliebe.
Sie schreibt die „Ballade von einem, der einzog, das Fürchten zu
lernen, sieht sich „überm Teekessel, weiße Wolken, beschlagene
Brillengläser“.
Hexen, Nixen oder auch die Mönche des alten Klosters in
ihrer Heimat Cismar an der Ostsee: Runges Personal liebt Schatten,
Mondnächte, das Überschreiten der Grenzen zwischen Realität und
Phantasie. Sie leben in Zwielichtwelten mit einer großen Tradition
seit Goya, Theodor Storm oder E.T.A. Hoffmann. Manchmal kommt das
lyrische Ich daher wie Draculas Braut oder eine Werwölfin.
Das letzte Kapitel heißt „federleicht“ und enthält
neue Gedichte. Da staunt man wie die Autorin selbst darüber, was für
ein blauäugiges, neugieriges, hungriges Kind noch in ihr lebt.
Wirklich, in der Poesie sind 70 Jahre kein Alter. Das buchstäblich
letzte Wort aber hat die Urkraft von 50 Jahren Dichtkunst:
könnte ich
den zorn halten
ihn einspannen
wie einen ochsen
ich würde
das brachliegende
tiefstumme
weiße
papier aufreißen...
schwarze lettern zerbrechen
aus den bindungen reißen
könnte ich den zorn halten
ich würde werwölfig umgehen
Wie es im Nachwort treffend heißt, hat man diese
Gedichte sehr schnell durch. „Aber man wird nicht fertig damit“.
Das sind Gedichte, die nachwirken. Dieses Buch ist ein Lebenswerk,
das man ruhig immer wieder zur Hand nehmen sollte.
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