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Donnerstag, 7. Februar 2013

Zeit für eine persönliche Begegnung mit Geschichte

ACABUS Verlag Hamburg, 2012, 169 S., 12,90 €
Die Zahl der Deutschen, die sich Zeit für die unselige NS-Vergangenheit nehmen und zugleich versuchen, die Opfer des Holocaust zu verstehen, ist leider überschaubar. Noch kleiner ist die Zahl derer, die dazu in unser Nachbarland Polen reisen und doch Überlebende von Auschwitz besuchen. Verschwindend klein ist die Zahl derer, die im Bemühen um ein besseres Verständnis der Geschichte Polnisch lernen. André Biakowski hat all dies getan und ein ganzes Jahr als Freiwilliger beim Maximilian-Kolbe-Werk in Lódz gearbeitet, um Überlebende der deutschen Vernichtungsorgie an den Juden zu betreuen. Wer kann schon sagen, er habe ein Jahr lang polnischen KZ-Opfern Essen auf Rädern gebracht? - Da steht dieser junge Mann aus Halberstadt mit Lebensmittelpunkt im schwäbischen Nürtingen ziemlich einmalig unter seinesgleichen da.
Er ist der fremden Situation und der fremden Sprache nicht ausgewichen, hat standgehalten und ein sehr persönliches Buch über seine Begegnungen mit diesen alten, oft hinfälligen und gezeichneten, aber niemals verbitterten Menschen geschrieben. Und besonders am Anfang muss das sehr schwer gewesen sein, wie Biakowski überzeugend schildert: "Nichts, einfach Nichts - sprachlich im luftleeren Raum. Ich hoffte einfach, dass mir niemand eine Frage stellte, die ich nicht beantworten konnte. Ich war abhängig von Menschen, die sich meiner mit Geduld annahmen. Langsam sprachen. Jedes Wort wiederholten." Es war und ist wohl eine der ganz entscheidenden Erfahrungen in die Biakowskis Buch, die schon auf den ersten Seiten den Leser buchstäblich in das Erlebte hineinzieht: "Essen und Sprache scheinen mir der Schlüssel zu den Menschen zu sein". Er wollte diese Menschen verstehen, und ich glaube, es ist ihm gelungen.
Am stärksten ist dieses Buch, wenn es um die unmittelbare Beschreibung dieser menschlichen Begegnungen geht. Sie haben den Autor dermaßen erschüttert und intensiv beschäftigt, dass er begann, davon in Rundbriefen an seine Freunde zu erzählen, aus denen dann dieses Buch entstanden ist. Da man eine schwierige Sprache wie Polnisch nicht in wenigen Wochen oder gar Tagen lernt, nahm der Autor Zuflucht zum genauen Beobachten - gleichgültig, ob geniale Technik oder instinktive Reaktion. Das Ergebnis ist ein überzeugendes Zeitzeugnis, das so oder ähnlich bald nicht mehr möglich sein wird. Und es ist ein praktisches Beispiel gelebter Vergangenheitsbewältigung, die nicht mit großen Sprüchen daherkommt.
"Die Sprache der Wohnungen ist eine von Bescheidenheit. Wertschätzung mit auffälliger Sorgfalt. Diese zeigt sich am deutlichsten in den kleinen Dingen und Gesten der Menschen. Die Art und Weise, wie viele der Überlebenden Deine Hand drücken, wie sie achtsam den Thermobehälter mit dem Essen öffnen, um zu sehen, was es heute für Suppe gibt". Da spüre ich als Leser noch den Hunger, den diese Menschen überstanden haben. Sein Dienst als Essensfahrer hat Biakowski ganz nah an diese Menschen herangebracht, und das war sicher nicht immer schmerzfrei. Er stellt sich auch diesem Schmerz und kommt zu Einsichten, die ungewöhnlich sind für die Generation der heute 30-40jährigen Deutschen. So fragt er sich beispielsweise mit sehr persönlicher Aufrichtigkeit und Offenheit, was es für ihn bedeutet, einfach zu leben:
"Einfacher Lebensstil, aus zwei Wörtern bestehend. Wie ist das Einfach gemeint? Im Sinne von leicht? Banal? Unkompliziert? Fokussiert oder reduziert? In meinem Leben bewerte ich nur wenig aus mir selbst heraus. Ich vergleiche mich und alles ständig. Wie leben andere? Wie ich? Immer mit latent neidischem Unterton. Wenn ich hier nun in diesem Lódz diesem bisherigen Gedankenmuster treu bleibe, so stelle ich auf einmal fest, wie gut es mir eigentlich geht. Stelle fest, wie wenig materielle Armut mit geistigem Reichtum zu tun hat."
Die Nagelprobe für seine Erfahrungen kam für Biakowski erst beim Abschied am Ende seines Jahres in Lódz - und danach. Besonders überzeugend finde ich daher auch ein späteres Nachwort über seine Rückkehr. Mit einem Freund machte er sich nach zwei Jahren im Urlaub wieder auf, um seine polnischen Freunde zu besuchen. Dabei machte er auch neue Bekanntschaften und lernte Polen nun etwas systematischer, d.h. auch "touristischer" kennen. Aber keine Sekunde lang ist dieser Autor bloß einfach Tourist. Er wird nie vergessen, was er da erlebt hat, er wird diese Freunde aus Lódz, die anfangs nur Kollegen waren, bleibend in sein Leben integrieren. Selbst seine Trauer über einen der alten Männer, den er betreut hat und der inzwischen gestorben ist, ist auch ein Stück weit stellvertretende Trauer eines Deutschen über so viel namenloses Leid, das Deutsche angerichtet haben. Eine Trauer, die auch jeder Besuch in Gedenkstätten wecken möchte, ohne jemals so persönlich sein zu können. Deshalb ist sein Buch ein Geschenk an die Deutschen von heute und ein aktiver Beitrag zur Versöhnung der Völker.






Dienstag, 5. Februar 2013

SWR2-Sendung über Stuttgart 21 und die einäugige Justiz

Wichtiger Programmhinweis: 
 
Donnerstag, 28. Februar 2013 morgens 10.05 Uhr auf SWR2 Tandem und ab 19.20 Telefon-DiskussionSorgen um den RechtsstaatDie Wandlung des Richters a.D. Dieter ReicherterVon Widmar Puhl

Dieter Reicherter war 40 Jahre lang Richter in Stuttgart, seit 2010 ist er in Pension. 
Seine Selbsteinschätzung lautet "streng, aber gerecht". Am 30. September 2010 kam 
er zufällig am Stuttgarter Schlossgarten vorbei, als der von der Polizei mit Wasserwerfern 
für das Projekt Stuttgart 21 geräumt wurde. Dieser Tag hat sein Leben verändert.
Reicherter ist entsetzt über das Vorgehen der Polizei, das er für vollkommen überzogen 
hält. Seither macht er sich Sorgen, dass der Rechtsstaat beschädigt wird - nicht nur durch
diesen Polizeieinsatz mit vielen Verletzten, der bis heute nicht zu einem Prozess
geführt hat. Inzwischen wurden aber insgesamt deutlich über 2000 Ermittlungsverfahren 
gegen Gegner von Stuttgart 21 eröffnet. Haben wir eine politisch einäugige Justiz?

Sonntag, 3. Februar 2013

Chorlabor der drei Weltreligionen in Stuttgart eröffnet

Voriges Jahr begann beim Musikfest Stuttgart das spannende interreligiöse Musikprojekt TRIMUM unter der Leitung von Bernhard König bei der Bachakademie Stuttgart. Damals stellten Schülerchöre und professionelle Ensembles mit großem Erfolg geistliche Musik aus Judentum, Christentum und Islam vor. Seit heute findet das Projekt seine Fortsetzung mit einem Chorlabor, das im weiteren Sinne religiöse Musik aus Christentum, Islam und Judentum in einem einzigen Klangkörper zusammenbringt. Was ich da bis jetzt hören konnte, klingt nach mehr. Auch wenn es bedeutet, dass sich z. B. deutsche Sängerinnen und Sänger in die ihnen unbekannte türkische Musik und Sprache hineinfinden müssen - und umgekehrt: Bernhard König und der türkische Dirigent Halil Ibrahim Yüksel können für den Anfang sehr zufrieden sein. 70 Sängerinnen und Sänger haben sich angemeldet, um mitzumachen - rund doppelt so viele, wie sie für einen Chor brauchen, sagte Projektleiter König. Und praktisch alle singen vom Blatt.
Die Internationale Bachakademie Stuttgart unterstützt das im Vorjahr gestartete Dreijahresprojekt TRIMUM weiter. Sie macht auch keine theologischen Vorgaben, wie man bei einer Einrichtung hätte denken können, die aus der württembergischen evangelischen Landeskirche hervorgegangen ist. Die fachlichen Voraussetzungen scheinen gut zu sein; die erste Chroprobe mit einem siebenstimmigen (!) Kanon nach I. Korinther 13,1 und dem Hohen Lied 8,6 von Bernhard König klang binnen kürzester Zeit schon erstaunlich reif.


Kreative Mittagspause mit Halil Ibrahim Yüksel
Selbst in der Mittagspause fanden sich in jeder Ecke kleine Grüppchen zum interessierten Austausch. Nach der Mittagspause wurde es anstrengend für die deutschen Teilnehmer des Chorlabors. Der eigens eingeflogene Dirigent Halil Ibrahim Yüksel stellte bei den für europäische Ohren fremdartigen Viertelton- und Halbtonsequenzen der klassischen türkischen Pilgerlieder (Ilahis) sein pädagogisches und sein sängerisches Können unter Beweis. In kleinen Arbeitsgruppen unterstützten ihn anwesende Mitglieder des BKM Stuttgart durch Übungen der Aussprache, und dann ging´s los: Vorsingen und Nachsingen, immer wieder, Zeile für Zeile, erst wackelig und schließlich doch schon recht wacker. Als Ausbeute für einen ersten Tag des Kennenlernens und gemeinsamen Ausprobierens ist was wahrhaftig nicht schlecht. Außerdem gab´s am Rande immer wieder gut verträgliche Informations-Häppchen über die Unterschiede zwischen türkischer und deutscher Musiktheorie und Notationsweisen. Man wird sich einleben im Fremden, auch wenn zu Anfang einige Skeptiker meinten "Das können wir nicht lernen". Die meisten konnten, und zwar schon  nach wenigen Stunden.

Eine große Hilfe waren die Begleitung durch Yüksel an der alten türkischen Kurzhalslaute Oud und die Unterstützung des studierten Bassbaritons Ahmet Gül mit Gesang und Übersetzungen. Gül gründete inzwischen ein semiprofessionelles Ensemble, das sich am 23.02.in den Räumen der Bachakademie Stuttgart vorstellen wird. Da die Akteure aus ganz Deutschland kommen, weitet sich dieser Ansatz mit einem größeren Wirkungskreis deutlich aus. Eine wichtige Plattform zur Förderung dieses musikalischen Ansatzes ist auch der Stuttgarter Verein Bildung, Kultur und Musik (BKM), dessen Vorsitzende Ayshe Gül-Aydin sich ebenfalls stark beim TRIMUM-Projekt engagiert und diese Arbeit auch über das geplante Dreijahresprojekt hinaus forsetzen möchte. Die Einschätzung aller Dozenten: Mit Sängern, die so konzentriert, engagiert und ausdauernd proben, lässt sich bestimmt noch viel erreichen. Ob und wie aus diesem Workshop auch Konzerte beim Musikfest Stuttgart im kommenden August/September hervorgehen werden, ließen König und Yüksel aber noch offen: "Wir wollen auch Spielraum für Experimente haben". Frühestens im Sommer soll es ein Repertoire geben.