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Samstag, 29. Dezember 2007

Poetische Erzählungen zwischen Kafka & Chagall

Marica Bodrožić: „Der Windsammler. Erzählungen“

Was ist eine Lichtharfe, eine Luftorgel oder eine Brustlaterne? Ein Traumhüter oder ein Bildinspektor? Seltsame Wörter und Wesen bevölkern die elf Erzählungen des Buches „Der Windsammler“ von Marica Bodrožić. Vordergründig sind es elf Ausflüge auf Inseln vor der Küste von Dalmatien, in die mediterrane Welt ihrer Kindheit. Dieses Inselbuch der gebürtigen Kroatin, die körperlich in Berlin und geistig in der deutschen Sprache lebt, erzählt aber von mehreren Wirklichkeiten, die sich gegenseitig durchdringen: Sagen, Märchen, Erinnerungen, Träume, Begegnungen. Oko der Windsammler, die Titelfigur der Titelgeschichte, ist ein Junge von der Insel Pag (sprich: Paag), der bei Nacht mit seinem Panamahut den Wind fängt und bei Tag einen schwarzen Lippizanerhengst sucht, den ihm der Erzengel Raphael gestohlen hat. Weshalb es auch heißt, er sei nicht bei Verstand.

Er lebt in keinem Luftschloss, das nicht, sagte die vertraute Stimme, aber er lebt mit verknüpften Sinnen. Die Forscher betrachteten täglich ihre Tabellen. Man gab sich Zettel in die Hände, schaute zum Plafond, es wurden Entscheidungen getroffen. Verknüpfte Sinne, das kannten sie nicht. Heilanstalt war das Wort, das die Forscher erst leise und dann mit Nachdruck, wie zur Selbstversicherung aussprachen. Wie alle Wörter, die einmal ausgesprochen sind, entwickelte das Wort seine Wirkung und forderte, eingelöst zu werden. Wörter sind Zauberkundige. Wörter sind Stellvertreter des Menschen.

Manche dieser Erzählungen haben eine Handlung, manche sind mehr Beschreibungen seelischer Zustände. Besonders liebt die Autorin archaische, surrealistische Parabeln – Geschichten „aus der Welt hinter der Welt der Welt“, wie sie sagt. „Hinter der Welt der Welt“: Solche Wendungen sind typisch für Marica Bodrožić. Aus der scheinbar überflüssigen Wiederholung, die erst wie eine kleine sprachliche Unsicherheit wirkt, entsteht eine ungewöhnliche Betonung, die uns verzaubert. Vater, Mutter, Schwestern und Freundinnen kommen zwar vor in diesem Erzählungen, aber man sollte sie nicht autobiografisch nennen. Splitter der sozialen und historischen Realität vermengen sich mit träumerischen Erfindungen, Landschaftsbildern und Elementen der naturwissenschaftlichen Abhandlung zu etwas Neuem, Vielschichtigem. Das bleibt ganz gern auch einmal rätselhaft. Immer aber ist diese Sprache sinnlich und poetisch, auch da, wo in perspektivischer Brechung Zeitgeschichte darin vorkommt. Diktatur, Krieg und Emigration im ehemaligen Jugoslawien streift die in Kroatien geborene Autorin nur, aber in knappen Sätzen und eindringlichen Bildern:

Als meine Schwester Ada und ich nach Jahren des Wegbleibens auf die Lange Insel zurückgekommen waren, hat uns der offenbar auf dem Schiff mitgereiste Bildinspektor verdächtigt, eine Lichtharfe und andere mehrdimensionale Gegenstände zu besitzen. Er sagte es uns gleich am Hafen, eine Lichtharfe dürfe es auf der Langen Insel nur geben, wenn man sie registrieren lasse… Wir nahmen unsere Koffer in die Hände, um nach Hause zu gehen. Der Bildinspektor sagte, ich weiß, dass Sie lange nicht auf der Langen Insel waren. Zehn Jahre, sagte ich. Er lächelte mich auf eine Art an, als hätte ich die Hälfte unterschlagen.

Durchaus unbotmäßiges Phantasiefutter liefern diese Erzählungen von Marica Bodrožić. Von einem Verbotstraum ist die Rede, der um sich greift und von dem Kinder noch nichts wissen, von nächtlichen Versammlungen der Träumer. Der jugoslawische Archipel GULAG wird in der Erinnerung eines Besuchers lebendig, der auf der ehemaligen Gefängnisinsel die Spur seines Vaters sucht. Und eine politische Satire erzählt die Geschichte von der „Rache des Damhirsches“ aus Titos Jagdrevier. Weil es keine Zäune mag, erscheint das Tier dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht im Traum und verändert den Lauf der Geschichte. Etwas Kafka, etwas Chagall: Irgendwo in den Geschichten dieser Autorin könnte immer einer seiner Engel durch die Luft fliegen. Geschichten, die der Wirklichkeit gern ein Bein stellen und mit dem Glück eines großen Kindes neue Wörter ausprobieren.

Marica Bodrozic: „Der Windsammler. Erzählungen“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 182 S., 16,80 €

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