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Samstag, 29. Dezember 2007

Neues von der Poesiehexe

Sarah Kirsch: „Regenkatze. Tagebuchnotate“


Wie Fritz J. Raddatz einmal schrieb, haben die Gedichte von Sarah Kirsch einen ganz bestimmten Ton, eine Art Lyrik-Tinnitus, den man nicht aus dem Ohr bekommt. Dieser Ton, diese Schreibweise findet sich auch in ihren Tagebüchern. Die neuesten sind unter dem Titel „Regenkatze“ erschienen und stammen aus der Zeit von September 2003 bis Februar 2004. Da wurde die junge Katze Emily heimisch bei Frau Kirsch hinterm Deich in Tielenhemme an der Eider. Das ist durchaus keine Nebensache. Denn die Katze liebt wie die Dichterin die ländliche Einsamkeit Schleswig-Holsteins, das typische Wetter zwischen Geest und Knick, zwischen Herbst und Frühling: Viel Regen und Nebel, Wolken und Wind. Als Seelenverwandte hat die Katze weitgehende Mitspracherechte im Haushalt und auch sonst. Über 60 Mal auf 143 Seiten kommt sie vor.

3. Septembrius 2003, Mistwoch
Ein Tiefausläufer zieht über uns hin mit herrlichen Wolkengebürgen. Es sieht aus wie in den Berner Alpen... Die Emily war heraußen, ist wiederum drin. Auf meinem oder besser ihrem Sofa in mein Schreibzimmer itzt... Mittags ging der Strom in die Binsen. Die Schleswag gibt es nicht mehr, die Stromkonzerne haben sich neu zusammengerottet, wir beziehen nun von e.on den Strom... Nach einer Stunde ist ooch der Strom wieder in die Dose gewesen. Können wir kochen.

Da fällt schon einiges auf: Die Monatsnamen etwa. „Septembrius“, „Octopus“ statt Oktober, „Novembrius“, „Decembrius“. Der Januar wird zum „Jaguar“, der Februar zum „Zebra“. So füllt sich flugs das Hexenhaus mit exotischen, wenn auch alten Dingen und Namen. Auch für die Wochentage. Typisch auch das Dialektmischmasch mit dem österreichischen „heraußen“ und dem Berliner „ooch“, das altertümliche „Wolkengebürge“ oder „itzt“ und saloppe Kürzel wie „drin“ und das „Sofa in mein Schreibzimmer“, auch mal umgestellt wie in „Können wir kochen“ statt „Wir können kochen“. In die Nähe solch familiärer Umgangssprache platzt oft genug die Politik, wie etwa die Stromversorgung im liberalisierten Markt.
Gern tanzt Sarah Kirsch auf dem schmalen Grat zwischen Wortschöpfung und Kalauer: „Ging spazoren“ oder „Nebul“ statt Nebel, „Fotuls“ statt Fotos, „Halftown“ statt Halberstadt. Das wirkt manchmal schon etwas dürftig und aufgesetzt. Wie überhaupt dieser Ton, diese Schreibweise so eingängig ist, weil die Zutaten überschaubar wenige bleiben. Immer wieder ist man hin- und her gerissen zwischen der Schlichtheit der Mittel und der Faszination ihrer magischen Wirkung.

Jetzt hab ich die Katzen gefüttert, die uralte Uhr aufgezogen und lese „Deutliche Worte“ von Nabokov. Sehr deutliche Worte. Uffsätze, Interviews (immer nur schriftlich) und Leserpost... Starker Westwind am Nachmittag. Es riecht nach Meer. Die Schwalben versammeln sich irgendwo, hier seh ich nur ab und zu mal eine oder zwei... Abends, als der Kater schon drin war, die Emily mit den Kuhglocken herbeigeläutet. Hört sie meilenweit. Und wenn sie will, kommt sie herbei. Über sieben Gräben muss sie gehen.

Da klingen die Merseburger Zaubersprüche durch, aber auch ein Hit der DDR-Pop-Gruppe KARAT. Diese Notizen stecken voll von unfertigen Gedichten und Erinnerungen, etwa an DDR-Zeiten. Sarah Kirsch lässt uns an ihrer Lektüre teilhaben: viel Poesie, aber auch so Ungleiches wie Proust und Harry Potter. Manchmal lästert sie über Kollegen. Sie hört Musik: Händel, Scarlatti und Mozart, Verdi, Schönberg und Jazz – oft eine Chiffre für ihre Befindlichkeit: „Mir geht es Glenn Gould.“
Wenig Menschen gibt´s in diesem Mikrokosmos, dafür viele Pflanzen und Tiere. Die Autorin kommentiert Wahlfälschungen in Georgien oder die Anschläge im Irak, erzeugt ständig erschreckende Kontraste, wenn sie Nachrichten aus der Welt mit Alltäglichem aus ihrer scheinbaren Idylle kombiniert. Die Tagebücher verraten viel über die Lyrikerin, über ihr Handwerk und ihre Sicht der Welt. Und wenn sie sagt: „Ich bin Pensionistin und darf in Ruhe vertrotteln“, sind eigentlich andere gemeint. Ein loses Mundwerk hat sie, aber auch einen faszinierend klaren Blick und Humor.

Sarah Kirsch: „Regenkatze. Tagebuchnotate“. Deutsche Verlagsanstalt (DVA), München, 143 S., 16,95 €

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