Ein völlig unangemessener Vergleich
Nach dem Wasserwerferprozess gegen zwei
Polizeibeamte, der wegen „geringer Schuld“ eingestellt wurde,
sollen jetzt vier der fünf Nebenkläger ein Drittel ihrer
Anwaltskosten selbst bezahlen. Eine Nebenklägerin soll sogar die
gesamten Kosten selbst tragen.
So könnte das Gericht nachträglich
und ohne Prozess aus Opfern Täter machen, denn nach Angaben der
Anwälte geht es vermutlich um mehrere tausend Euro. Außerdem gibt
es gegen so eine Kostenentscheidung kein Rechtsmittel mehr. Das liefe
im Ergebnis auf eine verdeckte Geldstrafe hinaus. Zum Vergleich: die
Angeklagten haben einen Strafbefehl über je 3000 EURO erhalten. Wie
die Anwältig Ursula Röder sagte, muss eigentlich der Angeklagte die
Kosten der Nebenklage übernehmen, wenn ein Verfahren nach Paragraf
153 a eingestellt wird. Nach einer so genannten Billigkeitsprüfung
hat das Gericht jedoch anders entschieden.
Wie das Stuttgarter Landgericht
mitteilte, habe die „Billigkeitsprüfung“ ergeben, dass die
Nebenkläger, die am „schwarzen Donnerstag“ vom Strahl eines
Wasserwerfers getroffen wurden, eine gewisse Mitschuld am Geschehen
trügen. Begründung: die verletzten Demonstranten hätten der
Aufforderung der Polizei, den Park zu verlassen, nicht Folge
geleistet. Diese – gelinde gesagt, seltsame – Umwertung von
Schuld und Unschuld hat Methode, und die kann man vor allem in der
russischen und der türkischen Justiz seit längerem studieren. Bei
Prozessen mit politischem Hintergrund geht dort die Justiz ganz
ähnlich gegen missliebige Regimekritiker, die sich anders nicht
disziplinieren lassen.
Ein Beispiel, das durch die Weltpresse
ging, und das viele Stuttgarter vielleicht vergessen haben: Die
Staatsanwaltschaft Istanbul erhob am 3. Februar 1995 Anklage wegen
Volksverhetzung und Landfriedenspruch gegen den Schriftsteller Aziz
Nesin – ein Vorwurf, auf den die Todesstrafe steht. Aziz Nesin
(20.12. 1915 – 06.07. 1995) war eine Art türkischer Ephraim
Kishon, ein bekennender Atheist und Satiriker, der Millionen zum
Lachen brachte – auch gern über rückständige muslimische
Fundamentalisten. Was war geschehen?
Am 2. Juli 1993 hatte Nesin auf einem
Kongress alevitischer Musiker, Tänzer und Dichter im anatolischen
Sivas gefordert, Muslime müssten den Roman „Die satanischen Verse“
von Salman Rushdie erst einmal übersetzen und lesen, bevor sie
darüber diskutieren und ihn verbieten. In Sivas steht ein Denkmal
des avetitischen Dichters Pir Sultan Abdal, der für seine
Glaubensbrüder ein Freiheitsheld ist, weil er wegen seiner Gedichte
und Lieder 1550 hingerichtet wurde. Nach dem Freitagsgebet in Sivas
gingen 20 000 aufgehetzte sunnitische Gläubige auf die Straße und
demolierten zuerst das Pir-Sultan-Abdal-Denkmal. Dann zündeten sie
das Tagungshotel an, um „die ganze ketzerische Brut auszuräuchern“
allen voran Aziz Nesin. Der jedoch überlebte leicht verletzt, obwohl
in Feuerwehrleute vor laufenden Fernsehkameras noch von der
Drehleiter stürzten, über die sich der alte Mann retten konnte. Für 37
andere Bewohner des Hotels, das aus Holz gebaut war und wie Zunder
brannte, kam jede Hilfe zu spät.
Die Ermittlungen gegen die wahren
Urheber des blutigen sunnitischen Pogroms an liberalen alevitischen
Muslimen wurden eingestellt. Dafür aber nahm die Staatsanwaltschaft
Istanbul im Sommer 1994 den Dichter Aziz Nesin ins Visier und
beschuldigte ihn, die Gewaltorgie von Sivas verursacht zu haben. Ein
missliebiges Opfer sollte zum Täter gemacht werden, wie schon so oft
und bis heute immer wieder. Als ich damals Aziz Nesin zu seinem
letzten großen Interview besuchte, stand er unter Polizeischutz und
die Türkei war noch ein laizistischen Staat.
Das ist heute anders, aber man konnte
es kommen sehen. Istanbuls sunnitischer Oberbürgermeister und
vermutlicher Drahtzieher der absurden Anklage gegen Auziz Nesin war
von 1994 bis 1998 ein gewisser Recep Tyyip Erdogan. 1998 wurde er
wegen Volksverhetzung zu mehreren Monaten Haft und einem lebenslangen
Berufsverbot als Politiker verurteilt. 2001 war er Mitbegründer der
Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die ein Jahr später
die Parlamentswahlen gewann und 2003 Erdogans Politikverbot durch
eine Verfassungsänderung aufhob. Von solchen Leuten lässt sich
trefflich lernen, wie politische Justiz geht.
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