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Samstag, 21. Juni 2025

Hochbegabt: Julia Schwalbe im Stuttgarter Fruchtkasten

Pianistin Julia Schwalbe mit dem begeisterten Autor
Am 20. Juni spielte die Pianistin Julia Schwalbe im Alten Fruchtkasten am Schillerplatz Meisterwerke in Moll: Präludium und Fuge e-Moll aus dem Wohltemperierten Klavier BWV 879 von Johann Sebastian Bach (1685 - 1750) und die Klaviersonate a-Moll D 784 von Franz Schubert (1797 - 828). Die mehrfache Preisträgerin bei "Jugend musiziert" wurde 2002 in Karlsruhe geboren und bekam seit dem achten Lebensjahr Klavierunterricht. Bereits mit zehn Jahren erhielt sie das erste Hochbegabtenstipendium, 2016 trat sie beim Europäischen Konzert in Helsinki auf, und 2018 debütierte sie als Solistin mit Orchester beim Klavierfest

des Piano-Podiums der Musikhochschule Karlsruhe. Seit 2021 studiert Julia Schwalbe an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, und seit 2024 setzt sie ihren Bachelor aus der Meisterklasse von Franziska Lee von der Musikhochschule Stuttgart fort. Sie spielte auswendig und technisch perfekt. Ihre Interpretation war kraftvoll und einfühlsam. Auch jenseits der mathematischen Präzision Bachs konnte ihre virtuose, stilsichere Umsetzung des intensiven melancholischen Gefühlsausdrucks bei Schubert auch die versierten Zuhörer überzeugen, von denen einige sogar die Noten mitlasen. Der Lohn war lang anhaltender Beifall.

Obwohl Spitzenmusiker wie Spitzensportler in den letzten Jahren immer jünger werden, ist Julia Schwalbe schon eine erfolgreiche Konzertpianistin. Um ihnen frühzeitig noch mehr praktische Erfahrungen zu ermöglichen, hat die Musikhochschule zusammen mit dem Landesmuseum Württemberg im Fruchtkasten am Schillerplatz die kleine, aber feine Konzertreihe Musikpause eingerichtet, in der Dozenten und Teilnehmerinnen der Meisterklassen zu hören sind. In der stilvollen Umgebung der Musikinstrumentensammlung gibt es jeden Freitag von 12.30 bis 13 Uhr preiswerte klassische Musik und viele Kontakte mit dem interessierten Publikum aus allen Altersgruppen.


 

Sprachmächtiger Spagat zwischen Krimi, Heimatroman und Psychothriller

Uta Maria Heim: "Wem sonst als Dir", Roman, Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen, 263 Seiten, 20 €

Diesen Roman gibt es schon seit 2013, da waren die Autorin und ich noch Kollegen bei SWR2 (sie beim Mundart-Hörspiel, ich in der Redaktion von Kultur aktuell) und ich befürchtete im Fall der vom Verlag erwünschten Rezension einen Interessenkonflikt. Ich habe das Buch damals nicht einmal gelesen, was aber daran lag, dass ich pflichtgemäß definitiv viel anderes zu besprechen hatte. Nun habe ich die Lektüre nachgeholt, und nach den mühsamen, gewöhnungsbedürftigen ersten 30 Seiten war ich begeistert, und eine Überraschung jagte die nächste. 

Was war so schwierig? - Das fing und fängt an mit der Wortwahl. Heim, die ich als Lyrikerin vor gefühlten Lichtjahren bei einer Lesung des Schriftstellerverbandes in der bitter kalten, zugigen Vorhalle des Stuttgarter Hauptbahnhofs kennen lernte, wurde 1963 in Schramberg geboren, wo der Schwarzwald am schwärzesten ist. Den dortigen Dialekt hat sie mit der Muttermilch aufgesogen, der ist jedoch nicht unbedingt mainstreamfähig, nicht einmal in Schwaben. Dann zog sie nach Baden-Baden als Hörspieldramaturgin und veröffentlichte Krimis, was sie aus meinem Blickfeld verschwinden ließ, denn ich schrieb über vieles, aber so gut wie nie über Krimis. Schon auf der ersten Seite des Romans steht der im Prinzip nur im Kontext verständliche Satz "Ich bin der Sanftmütigen keiner, ich döbere (alemannisch für schimpfen, toben), wann und wie ich will." Auch die Vokabel "Schulerbub" steht da, und so geht es grad weiter: "Gosch auf", "Die macht Witz", "Hölder" für Hölderlin, "dahanne" und seltdanne. Zum Dialekt kommen teils eigenwillige, auf jeden Fall kreative Wortschöpfungen oder Ausdrücke wie "Wucherer des halben Herzens" oder "seelenblind" oder "der seelentrübe Spitz". Das ganze Buch ist voll davon.

Und dann immer wieder Sätze, die zuschlagen wie eine Axt: "Die Gescheiten sind oft auch die Händelsüchtigen. Denken schafft Streit." Dazu kommen Wechsel der Erzählperspektive, die Orientierung erleichtert das nicht, bis man an der Sprechweise den Erzähler zu erkennen lernt: ein Ich-Erzähler in der geschlossenen Psychiatrie, Kriminalbeamte und durch Verhörprotokolle indirekt Zeugen, Kollegen und Nachbarn, ein ehemaliger Staatsanwalt und jetzt Richter, dessen Lebensgefährtin. Die Heim schreibt eine Sprache zwischen Klarheit und Rätsel. Darin versteckt, gern in Andeutungen, sind bröckchenweise Stücke der Handlung. Die Rahmenhandlung nämlich ist ein Kriminalfall. 

Christian Schöller wurde in einem Indizienprozess zu 15 Jahren Gefängnis mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt, weil er seine Mutter erstochen haben soll. Der Vater Gustav kam todkrank aus russischer Gefangenschaft zurück und starb 1963, die Mutter Wilhelmine, Jahrgang 1920, heiratete erst nach dem Krieg, war Köchin, bekam ihre Kinder spät und zog sie allein auf. Christian kam 1956, Irene 1958 in Tübingen zur Welt. Irene geriet schon während der Gymnasialzeit über Sympathisantenkreise zur RAF und organisierte 1985 den Überfall auf einen Geldtransport. Dabei wurde der Fahrer erschossen, Irene kam aber als Täterin nicht in Frage, weil Zeugen einen großen, kräftigen Mann als Schützen beschrieben, und Irene war eher zierlich und klein. Sie wird in den Akten als unscheinbare Mitläuferin geführt. Im August 1990 nahm sie sich in der DDR das Leben, nachdem prominente RAF-Mitglieder dort aufgeflogen waren. 

Die Mutter Wilhelmine Schöller wurde an Abend des 17. November, einem Samstag, mit einem Küchenmesser erstochen. Ihr Sohn Christian rief den Notarzt, der die Polizei informierte, und erzählte, man habe gemeinsam Kartoffeln geschält. Er wollte keinen Anwalt, doch Zeugen sahen ihn und die Mutter durchs erleuchtete Küchenfenster hantieren. Er wurde festgenommen und beteuerte immer wieder seine Unschuld. Christian galt als fleißig, aber sonderbar, war als Gymnasiallehrer schon mit 34 Jahren zum Oberstudienrat befördert worden, schrieb an einer Doktorarbeit über Friedrich Hölderlin. Nach seiner Haftentlassung wurde er ins Psychiatrische Zentrum Freudenthal überführt, wo 1940 fast alle Insassen der Euthanasie zum Opfer fielen. "Weil man unsereinem am Kittel flickt, hier hat man Tausende von uns in graue Busse gesteckt, fortgekarrt und dann den Kamin hinaufgejagt." Seine Mutter hat in Grafeneck als Küchenhilfe gearbeitet, als die Nazis von dort fast 11.000 Menschen ins Gas schickten.   

Zwanzig Jahre später nimmt der ehemalige Staatsanwalt K. auf der Suche nach Vergebung Kontakt zu Schöller auf. Er forderte damals die Höchstrafe und fürchtet heute, dass Schöller unschuldig weggesperrt wurde. Der Richter K. wühlt sich durch endlose Aktenberge, und der Fall wird immer undurchsichtiger. Und seine Lebensgefährtin Klara, die eine Tonbandkassette mit Irenes letzten Worten an ihren Bruder besitzt, von der K. nichts weiß und die eine Inzest-Beziehung zwischen den Geschwistern andeutet, muss hilflos mit ansehen, wie K. sich in eine Geschichte hineinsteigert, die sich nicht mehr ändern lässt. Der Plot und die Zusammenhänge entwickeln sich wie die Aufschriebe und Akten in einem Mordfall, d.h. nicht linear, sondern eher in konzentrischen Kreisen und abhängig von wechselnden Perspektiven. Da sich der Fall und seine Vorgeschichte so lange hinziehen, spielen Politik und Zeitgeschichte eine Rolle, bis hin zu den Gegensätzen zwischen Badenern und Schwaben oder Küchensünden wie Spargel mit Salzkartoffeln und Bausünden wie Stuttgart 21. 

Uta Maria Heim schreibt mit trockenem Humor, mit viel Freude an Tratsch und regionalen Eigenheiten. Sie gießt sanften Spott über die Genres Krimi und Heimatroman gleichermaßen, aber niemals von oben herab. Und sie dringt tief ein in die Fragen nach Schuld oder Unschuld. Tobias Gohlis schrieb darüber in der ZEIT, sie täusche Provinz an , "um unverbrüdert vom Chaos Leben zu erzählen". Wohl wahr! 

 

Freitag, 13. Juni 2025

Mittagspause mit Musik im Museum

Der alte Fruchtkasten an der Stuttgarter Stiftskirche

Der Fruchtkasten am Schillerplatz ist jeden Freitag Schauplatz einer kleinen, aber feinen Konzertreihe des Landesmuseums in Zusammenarbeit mit der Musikhochschule. Im "Haus der Musik" hat das Landesmuseum im benachbarten Alten Schloss nach der Renovierung die Sammlung historischer Musikinstrumente untergebracht. Hier  finden Musiker Proberäume, und mitten in der Ausstellung gibt es Freitags von 12.30 bis 13 Uhr Musik vom Feinsten. Dozentinnen und Dozenten der Musikhochschule sowie Mitglieder ihrer Meisterklassen bieten für wenig Geld (derzeit kostet der Eintritt 4 Euro) eine musikalische Mittagspause. 

 

Eine Rose für Maestro Paganini 
Das Publikum kommt einfach vom Einkaufen oder aus dem Büro, leger gekleidet und gut drauf. In den klimatisierten Räumen spielte z.B. am 16. Mai der bekannte italienische Organist Pietro Paganini auf der klassizistischen Salonorgel Werke von Robert Schumann, Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy, César Franck und Johannes Brahms. 

Paganini ist in ganz Europa mit der Orgel, dem Cembalo und dem Klavier unterwegs. Er spielt als Solist und mit großen Orchestern und tritt bei Festivals auf, hat zahlreiche Preise gewonnen und war unter anderem schon im Musikgebow Amsterdam, in der New Yorker Carnegie Hall und der Philharmonie Paris zu hören. Seit 2022 ist er Orgsanist an einer Orgel aus dem Jahr 1795 in Amsterdam.

Sine Winter am Flügel
Nicht die Spur abergläubisch (an einem Freitag, 13. Juni) war die australische Pianistin Sine Winter aus der Meisterklasse von Florian Wiek. Sie begann schon im zarten Alter von 5 Jahren mit Klavierunterricht, hat bereits viel Erfahrung als Solistin und Kammermusikerin und gewann in Queensland und Sidney namhafte Wettbewerbe. Sie stammt aus einer dänisch-chinesischen Musikerfamilie, lebt aber seit 2020 in Deutschland. In ihrem Fruchtkastenkonzert spielte sie eine fulminante Interpretation der Klaviersonate Nr. 23 f-Moll op 57 Ludwig van Beethovens, bekannt als "Appassionata". Ihr Vortrag war technisch brilliant, kraftvoll und vor allem in den zahlreichen schnellen Läufen traumhaft sicher: ein wahrhaft leidenschaftlicher Auftritt, der mit viel Applaus und begeisterten Bravo-Rufen belohnt wurde. Es war einmel mehr herzerwärmend zu erleben, wie sonst eher zurückhaltende Schwaben aller Altersgruppen bei Musik aus sich herausgehen.


Donnerstag, 1. Mai 2025

Wie man Diktaturen möglich macht

Wolfgang Schorlau (links) und Historiker Wolfgang Niess im Gespräch über dessen Buch "Schicksalsjahr 1925. Als Hindenburg Präsident wurde" (C.H. Beck, 30 Seiten, 28 € . Sehr kenntnisreich und aktuell berichtet der ehemalige SWR-Moderator über die Vorgeschichte der Hitlerdiktatur in der Weimarer Republik. Wer alles die Machtergreifung der Nazis mehr oder weniger direkt vorbereitet und ermöglicht hat, das ist unglaublich. Eine Lektion für alle, die heute wieder die Demokratie verteidigen - auch gegen zahllose Zeitgenossen, die den Schuss immer noch nicht gehört haben.

Aus dem Pressetext:  "Im Februar 1925 stirbt der Sozialdemokrat Friedrich Ebert, der erste von der Weimarer Nationalversammlung ernannte Reichspräsident, der Deutschland durch die Krisen der Revolutions- und Nachkriegszeit geführt hatte. Wer wird sein Nachfolger? Wolfang Niess schildert die Hintergründe der Schicksalswahl von 1925 in bisher ungekannter Tiefe. Einflussreiche Kräfte einer neuen Rechten wollten sie nutzen, um einen Keil zwischen bürgerliche Demokraten und Sozialdemokraten zu treiben. Sie suchten eine Art zweiten Bismarck, der Parteien und Parlament zurückdrängen und die Demokratie Schritt für Schritt beseitigen sollte. Doch eigentlich standen die Chancen für die Republikaner gut, die Wahl zu gewinnen. Wie konnten sie diese Chancen verspielen? Wie konnte ein Antidemokrat in das höchste Amt des Staates gelangen? Und wieso übersahen viele, was der neue Amtsinhaber langfristig vorhatte? Die genaue Analyse der Wahl von 1925 ist der Schlüssel für eine Neuinterpretation der Rolle Hindenburgs bei der Errichtung der NS-Diktatur. Denn manchmal entfalten Wahlergebnisse ihr zerstörerisches Potential nicht sofort, sondern erst nach Jahren." 

Diese Wahl war eine Intelligenzprüfung, bei der die Hälfte der deutschen Wähler durchgefallen ist. Man hätte das alles kommen sehen müssen, was dann kam - so wie heute.

Dienstag, 29. April 2025

Ziel Staatszerstörung: Die gefährlichen Utopien der Neoliberalen und Libertären

Der kanadische Historiker Quinn Slobodian wurde 2020 für sein Buch "Globalisten - Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus" gefeiert, weil er überzeugend und konsesquent diverse Versuche beschrieb, ökonomische Fragen der demokratischen Willensbildung zu entziehen, etwa durch internationale Orgnisationen. Jetzt geht er einen wichtigen Schritt weiter, indem er Vordenker und Geschäftsmodelle nennt. Sein Buch "Kapitalismus ohne Demokratie - Wie Marktradikale die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen zerlegen wollen" (Suhrkamp Verlag Frankfurt a.M., 2023, 428 S., 32 €) ist die Analyse eines Generalangriffs auf den Staat und eine regelbasierte Ordnung der Welt.

Leute wie Elon Musk und Donald Trump dürften nicht die nötige Geduld haben, um solche Bücher zu lesen. Aber sie handeln perfekt danach. Peter Thiel, der PayPal gegründet hat und mit einer frühen Investition in Mark Zuckerbergs Firma Facebook ein Vermögen verdient hatte, verlor in der Finanzkrise 2008 viel Geld. Danach wollte er nur noch dem demokratischen Staat entkommen, der ihn zwang, Steuern zu zahlen. "Ich glaube nicht mehr, dass Freiheit und Demokratie vereinbar sind", schrieb er. "Die große Aufgabe der Libertären besteht darin, einen Weg zu finden, um der Politik in all ihren Formen zu entkommen." Es gehe darum, unkontrollierte Zufluchtsorte für das Geld zu finden, am besten in vielen kleinen Staaten oder staatsähnlichen Gebilden wie "Sonderzonen" mit Steuerprivilegien, z.B. Liechtenstein, Malta oder Irland, die bei jeder Steueranhebung fürchten müssten, die Gans zu verscheuchen, die golderne Eier legt. Die EU-Kommission hat das bis heute nicht wirklich verstanden, sonst würden solche "Geschäftsmodelle" verhindert.

Zwei internationale libertäre Organisationen bzw. Thinktanks sind zentral für die rechtslastige, von anarchokapitalistischen Milliardären betriebene Zersplitterung von immer mehr Staaten in extraterritoriale "Sonderzonen" bzw. Stadtstaaten mit eigener Gesetzgebung und Polizei, ohne freie Wahlen und Parteien, freie Presse, Gewerkschaften, staatliche Gesundheitsfürsorge oder Sozialversicherungen: die Heritage Foundation und die Mont Pèlerin Sociey, beide schwer reich, beide gut vernetzt und stark vertreten durch konservative Politiker wie Margaret Thatcher und einflussreiche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler wie Samuel Huntington ("Krise der Demokratie") oder Friedrich Hayek. Der österreichisch-britische Ökonom hatte schon 1947 die Mont Pèlerin Sociey ins Leben gerufen, um der gefühlten Bedrohung durch den Vormarsch von Sozialismus und Wohlfahrtsstaat zu begegnen. Die Blaupause für die feuchten Träume aller  Marktradikalen wurde die britische Kronkolonie Hongkong, abgesichert durch langfristige Verträge, die dafür sorgten, dass ausländische Investoren nur ihrer eigenen Gerichtsbarkeit unterstanden. Populärster Vordenker dieses Trends wurde der US-Journalist Milton Friedman.

 

Modell Hongkong

Der Containerhafen und Militärstützpunkt produzierte rasch alles Mögliche für den Weltmarkt, weil ab 1949 nach dem Sieg der Kommunisten in China über eine Million Flüchtlinge auf prekäre Arbeit für Hungerlöhne in kleinen Fabriken und Werkstätten angewiesen waren. Die britische Regierung erlaubte Hongkong in den 50er Jahren, selbst über seine Handels- und Steuerpolitik zu entscheiden. Deshalb fand hier der Aufbau des britischen Wohlfahrtsstaates nach dem Zweiten Weltkrieg nicht statt: Die Bewohner der Stadt, die wie ein Unternehmen geführt wurde, waren keine Bürger, sondern Untertanen der Krone. Der Gouverneur hielt die Steuern niedrig und verzichtete auf Zölle. 1978 lag die Einkommenssteuer in Großbritannien bei 83 Pozent und in den USA bei 70 Prozent. In Honkong waren Kapitalerträge und Erbschaften steuerfrei, das Arbeitseinkommen wurde pauschal mit 15 Prozent besteuert. Man kann sich das heute kaum mehr vorstellen. 

Gelernt hatte London dieses Modell von den Opiumkriegen der Ostindischen Kompanie, die ungleiche Verträge mit nackter Gewalt durchsetzte. Sehr viel friedlicher sind die Marktradikalen immer noch nicht, denn sie schaffen weltweit prekäre Arbeit ohne soziale Sicherheit und damit Ausbeutung, Armut, Umweltzerstörung und Migration in großem Maßstab. Im Falle bestimmter Konzerne wie Monsanto töten sie Hunderttausende direkt - durch Gift im Wasser und auf den Feldern, genmanipulierte oder mit Antibiotika, Chlor und Mikroplastik verseuchte Lebensmittel aus Massentierhaltung sowie Monokulturen bei Mais, Soja und Palmöl. Stiftungen wie die von Bill und Melinda Gates und die Heritage Foundation finanzieren Wahlkämpfe, aber auch private Universitäten und über diesen Umweg sogar ganze Kulturkämpfe, etwa den des Trump-Freundes Steve Bannon. Sie erstellen nicht nur Gefälligkeitsgutachten für Großkonzerne wie Monsanto, sondern kämpfen mit einer fragwürdigen Mischung aus freier und gekaufter Wissenschaft für den privaten Bildungssektor und gegen bezahlbare staatliche Bildung oder ein staatliches System der Gesundheits- und Rentenvorsorge.

 

Die Plünderung des Staates

Eine Weiterentwicklung der kolonialen Exklave wurde, als sich das Ende der Kronkolonie Honkong abzeichnete, der Finanzdistrikt von London, der bis heute nicht ganz zu seinem "Gastland" Großbritannien gehört. Bei Wahlen haben die hier ansässigen Unternehmen wie in Honkong das Stimmrecht. Deren 32 000 Stimmen stehen nur 9000 menschliche Stimmen gegenüber. Während sich das britische Weltreich auflöste, schufen Margaret Thatcher und ihre Freunde für die Finanzindustrie hier ein neues Empire aus Steuerparadiesen wie den Cayman Islands und Bermuda sowie ehemaligen Kolonien wie Singapur, Irland und Dubai. Sie beschlossen außerdem, Teile Londons wie die Docklands auszugliedern, dort Investoren von Steuern und Vorschriften zu befreien sowie mit Zuschüssen und Subventionen zu ködern, um aus dem, was bisher Korruption hieß, geltendes Recht zu machen. Das alte urbanistisch-sozialistische London wurde verdrängt und abgerissen, übrig blieb nur eine leere Hülle für Immobilienspekulanten und das Kapital.

Der letzte und entscheidende Schritt dieser Entwicklung war der elektronische Devisen- und Aktienhandel. Seit diese Geschäfte in Sekundenbruchteilen rund um die Welt rasen konnten, ist so gut wie jede staatliche Kontrolle des Kapitals unmöglich geworden. Nun gibt es die "Zone zum Mitnehmen" in mobilen Laptop-Köfferchen und Smartphones. Eine neue Art internationaler Reichsbürger oder Anarchokapitalisten entstand, die keine Autorität außer ihrer eigenen mehr anerkennen und ihre Aktivitäten jeglicher Regulierung entziehen. Sie beherrschen Monopole und Schlüsseltechnologien, die wie das  "Star Link" von Elon Musk etwa in der Ukraine über Krieg und Frieden entscheiden, fliegen ins All und haben dort inzwischen mehr Satelliten für ihre Kommunikationssysteme (und Weltraumschrott!) als jeder Staat. Umweltschutz und Klima sind ihnen egal, weil sie sowieso zum Mars wollen.

 

Soziale Unwucht als Prinzip

Da die Steuerflüchtlinge aber nicht nur im Internet, sondern auch im wirklichen Leben sichere Zufluchtsorte wollen, sind physische Zonen in jeder Form nie aus der Mode. Sie beginnen in den Gated Communities für Millionäre und betuchte Rentner in Florida und Kalifornien, die einfach nur ein erhöhtes Bedürfnis nach Ruhe und Sicherheit haben. Und sie enden noch lange nicht in den Stiftungs- und Steuerparadiesen von Dubai und Liechtenstein. Ich bin Mitglied des (an sich unverdächtigen) dortigen PEN-Clubs und hatte öfters Gelegenheit, bei Spaziergängen die vielen Villen in den Randlagen von Vaduz (z.B. Schan) zu bewundern, in denen interntionale Stiftungen residieren. Der Fürst, der all das möglich macht, ist der letzte absolutistische Monarch in einem demokratischen Europa. Im Vergleich zur Geheimnistuerei seiner Regierung ist das Schweizer Bankgeheimnis ein Kindergeburtstag. 

Man muss sich klar machen, dass der erste Schritt um Ausstieg aus der politisch kontrollierten Welt oft schon ist, dass man sein Kind in  einer Privatschule anmeldet oder Mitglied in einem exklusiven Golfclub wird. Wo Steuerflucht und Steuervermeidung legale "Gestaltungsmittel" sind und Steuerhinterziehung zum Volkssport wird, ist der nächste Schritt bereits vollzogen. Dass es dafür oft sehr nachvollziehbare Gründe gibt, macht das Ganze nicht besser. Umso wichtiger ist es, den politischen Ursachen einer sozialen Unwucht, die mit Händen zu greifen ist, einen Riegel vorzuschieben. Schon deshalb ist die Lektüre dieses großartigen, wichtigen, verständlich geschriebenen Buches zu empfehlen. 

In Deutschland öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter und 90 Prozent der Vermögen sind in der Hand von weniger als 10 Prozent der Bevölkerung. Vermutlich ist das die Hauptursache für den Aufstieg rechtsextremer Parteien und das schwindende Vertrauen in eine demokratische Politik. Immer noch gibt es da Parteien, zu deren DNA es offenbar gehört, aus ideologischen Gründen keine Erbschaftssteuer zuzulassen. Ausgerechnet Gutverdienende und Reiche werden durch Beitragsbemessungsgrenzen davor geschützt, den gleichen Prozentsatz für die Renten- und Krankenversicherung zu bezahlen wie weniger gut Gestellte. Arbeitslohn und sogar Renten werden weit höher besteuert als Gewinne aus Anlagevermögen. Dieses Ungleichgewicht wird mit Zähnen und Klauen verbissen verteidigt und ist ein echtes Problem mit der Tendenz, sich selbst zu vergrößern. Jede Regierung, die Ernst macht mit dem Versuch, den Aufstieg rechts- und linksextremer Parteien zu beenden oder gar umzukehren, muss diese Aufgabe lösen. Hier hat die schwarzrote Koalition von Friedrich Merz neben Migrationskontrolle, Sicherheit, Infrastrukturreform und Wohnungsbau einen weiteren Lackmustest zu bestehen. Quinn Slobodian hat dafür ein praktisches Handbuch geliefert.

















Montag, 28. April 2025

Offener Brief an Ines Witka, Schriftstellerverband (VS) Baden-Württemberg zu Meta

Liebe Ines, die Entwicklung von Mark Zuckerberg, Meta und den USA unter Trump weckt bei mir den zwingenden Eindruck, dass ich es nicht länger verantworten kann, bei Facebook, WhatsApp und Instagram aktiv zu sein. Ich werde mich daher dort schrittesweise zurückziehen und bitte Dich, mein Profil bei Insta zu löschen. 

Es tut mir Leid um die viele Arbeit, die Du im Vorstand bei Instagram für uns investiert hast, und auch ein Stück weit um die einzige "kostenlose" Werbeplattform, die ich bei Facebook hatte. Doch ich kann und will nicht mitschuldig sein bzw. werden durch politische Indifferenz gegenüber einem Tech-Oligarchen, der permanent deutsches und europäisches (Urheber-) Recht bricht, durch sein manipulatives Monopol rechte Hetze und Fake News verbreitet, ein Forum für Pornoseiten und Hacker bietet sowie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat untergräbt und einen Präsidenten unterstützt, der offen faschistisch und rassistisch agiert. Donald Trump demontiert systematisch den Rechtsstaat USA, schadet mit seiner disruptiven libertären Wirtschaftspolitik dem eigenen Volk und der ganzen Welt, er bedroht die Ukraine und alle Verbündeten durch Verrat und ständige Vertragsbrüche. 

Dass man etwas dagegen tun kann, zeigt der Fall Tesla. Ich werde mich dafür einsetzen, dass wir unsere Vernetzung über die VS-Homepage intensivieren und als Alternative den (Schweizer) Messenger Threema anstelle von WhatsApp verwenden. Der finanziert sich durch eine App, die man kaufen muss, nicht durch Werbung. Sie kostet weniger als ein Bier und ist das bisher sicherste Kommunikationssystem der Welt, sammelt keine Nutzerdaten und stellt sie keiner Regierung und keinem Geheimdienst zur Verfügung. 

Reichweite kann man schaffen, wenn viele bereit sind, sie nicht länger einfach vorauszusetzen. Es ist wie in der Politik: Wer glaubt, dass andere die große Reichweite für uns schon schaffen werden, ist blind für ihren Missbruch und macht ihn damit erst möglich. Ich hoffe, Du hast Verständnis für meine Entscheidung und kannst vielleicht sogar den VS-Vorstand von meinen Argumenten überzeugen. Bis hoffentlich bald! Liebe Grüße, Widmar

Mittwoch, 23. April 2025

Wiederentdeckt: "Deutsche Johannes-Passion" von Christoph Demantius (1567 - 1643), eine Perle des Frühbarock

Die Degerlocher Kantorei in der Versöhnungskirche

Am Palmsonntag, dem 13. April konnten Freunde alter Chormusik in der Versöhnungskirche unter dem Stuttgarter Fernsehturm eine barocke Wiederentdeckung erleben: die "Passion nach dem Evangelisten Johannes und Weissagung des Proheten Jesaia zum Leiden und Sterben Jesu" für sechsstimmigen Chor a capella aus dem Jahr 1631. Das Werk stammt von Christoph Demantius, einem der großen, heute (so gut wie) vergessenen Volkalkomponisten der späten deutschen Spätrenaissance am Übergang zum Frühbarock. Der gebürtige Böhme wirkte zeitlebens  als Domkantor in der  Stadt Freiberg. 

Die Stadt gilt als das älteste und wichtigste Zentrum des sächsischen Bergbaus und wurde durch seine Silberbergwerke in 800 Jahren reich. Hier wusste man gute Musik zu schätzen und konnte sich einen Domkantor leisten. Dessen selten aufgeführte Johannespassion ist rein motettisch angelegt, also eine A-capella-Komposition ohne Instrumentalbegleitung und Solisten. Demantius ist im gleichen Jahr geboren und gestorben wie Claudio Monteverdi, und mit dem Italiener teilt er nicht nur den üppigen polyphonen Schönklang, sondern auch neue musikalische Ideen in Kombination mit der eigentlich schon aus der Mode gekommenen Kompositionsform der Motette. Das Ergebnis ist ein Klanggewebe aus starker Polyphonie (doch schnörkellos, ganz ohne Koloraturen) und homophonen, wie eine Folge von Akkorden gestalteten Passagen, in denen die Sängerinnen und Sänger gleichzeitig denselben Text singen. Außerdem übernahm Demantius aus Italien (früher als etwa Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach) mutig das ausdrucksstarke Stilmittel ausgeprägter Dissonanzen, die damals eigentlich nicht erlaubt waren. 

Barbara Straub mit Claus Schulten

Trauer und Schmerz sollen in dieser Passionsmusik hörbar werden. Und sie wurden hörbar. Stilbewusst, intonationssicher und expressiv sang die Degerlocher Kantorei unter der Leitung von Bezirkskantorin Barbara Straub, die einmal mehr mit viel Gespür für Historie das Programm ausgewählt hatte und ganz im Dienst der leidenschaftichen Deklamation dirigerte. Rhythmisch differenzert führte sie die Sängerinnen und Sänger durch diese starke Passion, immer im Sinne einer Textausdeutung, in der Demantius die Zuhörer zum inneren Nacherleben und Mitempfinden der grausamen biblischen Szenen anregen wollte. Als etwa Jesus auf die Frage des Hohen Priesters nach seiner Lehre sagt, er habe immer öffentlich gesprochen und verstehe darum die Frage nicht, schlägt ihn einer der Soldaten, und nur die Männerstimmen wiederholen in einem dramatischen Crescendo drei Mal die Frage Jesu: "Habe ich übel geredt, so beweise es. Habe ich aber recht geredt, warum schlägst du mich?"

Der Komponist hat dem Passionstext des Evangeliums nach Johannes die Weissagungen des Propheten Jesaia zur Seite gestellt, die man als Prophezeihung des Leidens Christi interpretieren kann. Der Cembalist Claus Schulten spielte zwischen den je drei Teilen von Passion und Weissagung Neue Musik für mitteltönig gestimmtes Cembalo aus dem Zyklus "Von 12 Perlen sind die Tore - die 12 Edelsteine des himmlischen Jerusalem" (2019) von Hans Peter Braun, die "Galiarda Dolorosa" von Peter Philips (1561 - 1628) und eine Pavane von William Byrd (1543 - 1623).