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Sonntag, 10. November 2024

Ein idealisierter Selbstmord als "Selbstopferung"

Biografie. 200 Seiten, 22,00 €, Osburg Verlag Hamburg, 2020

 

Für die christliche Morallehre sind Märtyrer Menschen, die für ihre Glaubensüberzeugung getötet wurden. Danach stirbt ein Märtyrer, weil er keine Wahl hat oder sich bei der Wahl zwischen Glauben und Verrat für den Glauben entscheidet. Aber er wirft sein Leben nicht weg, das kein Mittel zu irgend einem weltlichen Zweck ist, sondern ein Geschenk Gottes, über das der Mensch nicht verfügen darf. Märtyrer aus eigenem Recht kennt sie nicht, weil sie Selbstmord ablehnt oder gar als Akt demonstrativer Verzweiflung verurteilt. Das unterscheidet die christliche Moral wesentlich von deren Perversion bei islamistischen Terroristen, die in dem Zitat gipfelt "Mein Leben ist eine Waffe", die im Übrigen auch von islamischen Geistlichen abgelehnt wird. Den "freiwilligen Märtyrer" gibt es nicht. Diese durchaus wichtige Diskussion hätte das Buch "LUX. Gegen den Nationalsozialismus und die Lethargie der Welt" von Rüdiger Strempel anstoßen können, aber genau dies geschieht leider nicht.

Die"Biografie" ist auch nur teilweise eine. Im Übrigen besteht das Buchaus aus rekonstruierten bzw. fiktiven Texten, die Lücken im gesicherten Wissen nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit schließen sollen, wie es gewesen sein könnte, sowie abgedruckten Briefen und Reden, die bei seiner Beerdigung in Genf gehalten wurden und in Archiven und bei Behörden tatsächlich erhalten geblieben sind.

Der Autor Rüdiger Strempel wurde 1962 im bayerischen Deggendorf geboren, studierte Jura, Germanistik und Kunstgeschichte in Bonn und Speyer und ist seit über zwei Jahrzehnten in verschiedenen Funktionen für die Vereinten Nationen und andere internationale Organisationen tätig. Zudem arbeitet er als freier Journalist, Übersetzer und Buchautor. Derzeit leitet er das Sekretariat der Helsinki Kommission (HELCOM) zum Schutz der Meeresumwelt im Ostseeraum mit Sitz im finnischen Helsinki.

Was weiß man über Stefan (oder Stephan) Lux? Am Morgen des 3. Juli 1936 erschoss sich der Journalist Stefan Lux in der laufenden Versammlung des Völkerbunds in Genf, um angesichts internationaler Lethargie und Appeasement-Politik gegenüber Hitler ein warnendes Zeichen zu setzen, das anders als seine bisherigen Artikel, Briefe, Reden und Appellenivht mehr ignoriert weden kann. Der 1888 in der Kleinstadt Malatzka am Nordwestrand Ungarns im habsburgischen Vielvölkerstaat geborene jüdische Jurist, Künstler, Dichter und Journalist sah keinen anderen Ausweg mehr, als durch diese dramatische Tat die Weltöffentlichkeit aufzurütteln und auf die vom Nationalsozialismus ausgehende tödliche Gefahr hinzuweisen. In den 20er-Jahren hält sich Lux, der den Ersten Weltkrieg nur knapp überlebt hatte, in Berliner Film- und Künstlerkreisen mühsam über Wasser. Schon hier warnt er vor dem wachsenden Antisemitismus und dem heraufziehenden Nazi-Terror. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten siedelt er mit Frau und Kind eilig nach Prag über, wo er indessen weiter unter der Indifferenz der Menschen leidet. Anfang 1936 entschließt er sich, zunächst in Pariser Emigrantenkreisen Unterstützung für seine Mission zu finden.

Beginnend mit der Reise von Paris nach Genf am 26. Juni 1936 zeichnet das Buch ein Bild seiner letzten Tage bis zur dramatischen Selbsttötung des Journalisten – in halbfiktiven Kapiteln, die soweit wie möglich auf den wenigen noch vorhandenen Quellen beruhen. Eingeschobene Rückblenden beleuchten sein Leben. In einem Epilog werden Reaktionen und Nachwirkungen der Tat behandelt. Bisher ist weder in deutscher Sprache noch woanders eine Biografie über Stefan Lux erschienen.

Das zu ändern, ist grundsätzlich ein sehr verdienstvolles Unterfangen. Doch der löbliche Ansatz wird problematisch, weil er sich völlig kritiklos die idealisierenden Positionen zu eigen macht, die aus den Grabreden mehrerer Kollegen und vor allem des Großrabbiners von Genf sprechen, wie Lux ein Veteran des Ersten Weltkrieges. Salomon Poliakof berichtet von seiner einzigen (!) und zudem kurzen Begegnung mit Lux: "Als ich ihn im Spital besuchte, wo er sterbend lag, ließ ich ihn durch den Arzt fragen, ob er mich empfangen will. Er ließ mich eintreten: >Ich weiß<, sagte er mit einer überraschenden Klarheit und Ruhe, >dass uch nur noch wenige Augenblicke zu leben habe. Helfen Sie mir zu sterben. Ich war kein ausübender Israelit, aber ich will als guter Israelit sterben<. Und er nannte mir seine hebräischen Namen: Schmuel Mosche Ben Awrohom. >Wenn ich tot sein werde<, fügte er hinzu, >begraben Sie mich bei den Israeliten, meinen Glaubensgenossen, die ich so geliebt habe, für die ich gelitten habe und für die ich mein Leben hergegeben habe<. Ich sagte hebräisch das Sterbegebet und unsere beiden Hände ehemaliger Kriegsteilnehmee schlossen sich ineinander."
Diese emotionalen Worte stammen aus einer Predigt, und meines Erachtens sind hier einige Fragen nicht nur erlaubt, sondern auch angebracht: Ist es nicht eine unstatthafte Überhöhnug, die der Rabbi da dem Toten bei der Beschreibung einer Unterredung ohne Zeugen in den Mund legt, wenn Lux gesagt haben soll, er sei zwar kein praktizierender Jude gewesen, habe aber seine Glaubensbrüder so geliebt, dass er für sie sein Leben hergegeben habe? Hätte er dann nicht wenigstens ab und zu eine Synagoge besuchen müssen? Woher wollte er das wissen? Ist die Geschichte nicht teilweise eine Variante der Bibelstelle "So sehr hat Gott wie Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab" (Joh. 3,16)? Die Übereinstimmung jedenfalls ist auffällig, und der Rabbiner kannte natürlich das Neue Testament. Kann man ihm verdenken, aus gegebenem Anlass vielleicht in Gegenwart der trauernden Witwe so eine rhetorische Anleihe gemacht zu haben?

Poliakof widerspricht zudem seinen eigenen Grundsätzen, wenn er sagt: "Wir Israeliten, denen die Religion verbietet, Blut zu vergießen, wir verstehen ihn gut und bewundern ihn. Das ist eine symbolische Geste, die voll ist von Größe und von Noblesse!" Mit Verlaub: In wessen Namen sprach er da, woher nahm er das Mandat für diese Behauptung? Wären Juden grundsätzlich Pazifisten, gäbe es den Staat Israel nicht mehr und hätten weder Lux noch Poliakof Soldat sein dürfen.

Und schließlich wendet sich der Rabbiner mit einem ebenso ehrenwerten wie flammenden, aber vergeblichen an die anwesenden Pressevertreter: "Wir sind Juden und Sie sind Christen, aber haben wir nicht das gleiche Gewissen, haben wir nicht die gleiche Seele, sind wir nicht alle Kinder des gleichen Gottes? Sie allein, Sie können alle diese Verbrechen zum Verschwinden bringen. Sie haben die Presse dazu als Mittel." Gibt es eine unrealistischere Naivität und größere Überschätzung der veröffentlichten Meinung? Man stelle sich nur einen Augenblick vor, man könne Das Ende von Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine herbeischreiben. Absurd.

Auffallend oft verwendet Strempel in seinem Buch den Begriff der Selbstopferung. Er ist moralisch fragwürdig und auch im Fall Lux keineswegs angebracht. Und vor allem ist er sinnlos, zum Scheitern verurteilt. Denn wie sich heute große Teile der südlichen und westlichen Welt in einer Politik des Appeasement (Beschwichtigung) aus Angst vor den maßlosen Drohungen eines aggressiven Diktators üben, so war es auch damals. Die Menschen sind so. Leider. Der Selbstmord von Stefan Lux hat keinen Aufschrei der internationlen Öffentlichkeit ausgelöst. Er wurde vergessen. Dieses Buch ist ein Beitrag dazu, den Kampf gegen die Lethargie angesichts des wieder grassierenden Rechtsextremismus und Antisemitismus als das Erbe von Lux zu verstehen, nicht mehr und nicht weniger.


Donnerstag, 7. November 2024

Warum die Ukraine ist, wie sie ist

Yaroslav Hrytsak ist einer der wichtigsten ukrainischen Historiker der Gegenwart. Er bettet die Geschichte des Landes in die Geschichte Europas und ihre globalen Zusammenhänge samt ihrer vielen Wechselwirkungen ein. Sein Buch wurde in der Ukraine zum Bestseller und erklärte der angegriffenen Naion, woher sie kam, was sie geprägt hat und woran ihre Widerstandskraft gegenüber der russischen Aggression liegt. Es definierte zudem ein Ziel: die liberale Demokratie des Westens. Hrytsak ist Professor an der Katholischen Universität Lwiw und Direktor des Instituts für historische Forschungen an der Nationalen Iwan-Franko-Unversität in Lwiw. Bis 2022 war er zusammen mit Martin Schulze Wessel Sprecher der bis dahin nur in Fachkreisen bekannten deutsch-ukrainischen Historikerkommission. Sein Buch hat einen Perspektivwechsel zu bieten: Im Westen ist in den letzten Jahren viel über die Ukraine geschrieben worden, aber fast nur von westlichen oder im Westen lebenden und lehrenden Historikern. Yarlslaw Rhytsak schreibt aus einer radikal ukrainischen Position. Er ist kein Nationalist, aber ein Patriot, der die unterschiedlichen Spielarten und Gruppierungen des Nationalismus in seiner Heimat im Detail kennt und erklärt. Er seziert die Mythen der russischen Propaganda, bewahrt sich aber auch einen kritischen Blick für ukrainische Legenden und Übertreibungen, von denen manche Wasser auf die Mühlen von Putins Ideologen sind. Mit rund 40 Millionen Menschen ist die Bevölkerung der Ukraine nur halb so groß wie die Deutschlands, doch gut doppelt so differenziert. Das macht die Lage nicht übersichtlicher und die Lektüre nicht einfacher, doch es war immer schon mühsam, der Wahrheit näher zu kommen oder gar gerecht zu werden.

Wenn Staaten Pässe hätten, wäre darin 1914 als Geburtsjahr der Ukraine eingetragen, schreibt Hrytsak. Zugleich aber wäre diese moderne Staatenbildung nicht denkbar gewesen ohne die lange und blutige Geschchte der ukrainischen Nationsbildung. Daher setzt sein Buch mit der Geschichte der Rus ein und spannt den Bogen bis in die Gegenwart, wo sich die ukrainische Nation von einer ethnischen Identität zu einer zivilgesellschaftlichen Identität und schließlich Nation entwickelt hat, deren politische Kultur sich fundamental von der Russlands unterscheidet. Die Ukraine war immer Bauernland und Kornkammer, aber auch Grenzland zwischen den Einflussbereichen von Moskau, Konstantinopel (Istanbul) und Griechenland - mitsamt den entsprechenden religiösen Bekenntnissen und kulturellen Traditionen. 

Identität stiftete dort nicht so sehr die Sprache, sondern das multikulturelle Zusammenleben freiheitsliebender Kosaken, selbstbewusster Bauern, Polen und Juden, die sich immer wieder gegen kolonialistische Gelüste der Österreicher, polnisch-litauischer Bojaren, russischer Zaren oder muslimischer Sultane zur Wehr setzen mussten, die es auf die Ernten des fruchtbaren Schwarzerde-Bodens in der Steppe abgesehen hatten. Das Lande ist flach, und bis auf die galizischen Sümpfe und den Strom Dnipro gibt es keine natürlichen Hindernisse für Händler, Armeen und Migranten. Auch dies ist eine der Besonderheiten für die geopolitische Lage der Ukraine. 

Für mich neu und besonders faszinierend z.B. war die Beschreibung der klösterlichen Kulturen. Gab es bis weit ins 19. Jahrhunder hinein in der russisch-orthodoxen Welt, die auf Mündlichkeit beruhte, kaum Bücher und wenig Bildung, somit auch keine Klosterschulen, Universitäten und Bibliotheken, war dies in den griechischen und katholischen Klöstern ganz und gar undenkbar. Bildungsorte wie etwa die Klosterbibliothek von St. Gallen oder die Klosterschulen Karls des Großen machten auch den Buchdruck möglich und dadurch indirekt Reformation, Aufklärung und die Trennung von Kirche und Staat. All das fand in der russischen Orthodoxie niemals statt. 

Was bei diesem großsfrtigen Buch fehlt, ist ein systematisches Verzeichnis der zahlreichen Abkürzungen im Anhang. Die manchmal recht kleinteilige Darstellung der vielen regionalen, sprachlichen, literarischen, ethnischen, religiösen und erschwert die Lektüre ohne solche Hilfsmittel. Dem Ukrainer sind die Schreibweisen ukrainischen (und russischer!) Namen geläufig, dem deutschen Leser nicht. Die Stadt Saporischja und das gleichnamige Kernkraftwerk, das größte Europas, haben ihren Namen von dem einst dort gelegenen Saporoger Sietsch der Kosaken, einer hölzernen Festung unterhalb der Dnipro-Stromschnellen. Interessante Details wie dieses werden nie oder unvollständig und spät erklärt, was die Lektüre nicht gerade vereinfacht. Hier wäre noch Luft nach oben für eine überarbeitete zweite Auflage.


Dienstag, 5. November 2024

Chormusik der britischen Inseln auf hohem Niveau

Die Degerlocher Kantorei in der Versöhnungskirche

Wohlklang und Polyphonie sind typisch für Chorwerke der englischen, irischen und schottischen Kirchenmusik, wie sie seit 600 Jahren in den Kathedralen, den Colleges sowie in zahlreichen großen Laienchören zu hören ist. Der ausdrückliche Wille zu hochwertiger Gottesdienstmusik hat im Lauf der Jahrhunderte eine enorme Fülle an Kompositionen hervorgebracht, die von Komponisten und Ensembles gleichermaßen gepflegt wird. 

Aus diesem reichen Fundus speiste sich das Konzert der Degerlocher Kantorei am 27. Oktober in der akustisch herausragenden und gut geheizten Versöhnungskirche. Das Programm hatte Chorleiterin Barbara Straub liebevoll zusammengestellt, die mit dem Chor fürs nächste Jahr eine Konzertreise nach Schottland plant. Zu hören waren Werke von William Byrd (1543 - 1623), Henry Purcell (1659 - 1695), Charles Villiers Stanford (1852 - 1924), Edward Elgar (1857 - 1934), John Rutter (*1945), James MacMillan (*1959) und Roxanna Panufnik (*1968). Der Abend bewegte sich im Spannungsfeld großer Gegensätze und schwebte gleichsam zwischen Himmel und Erde: Zu hören war klangprächtiger Gesang aus Freude an Gott, inniges Singen im Wissen um das Sterben, Singen als Bitte um Vergebung, Trost oder Segen sowie traditionelle gesungene Abendgebete.

Der Chor sang weitgehend a capella, nur im Mittelteil gab es Unterstützung durch die Orgel (Klaus Schulten). Die erfahrenen Sängerinnen und Sänger erwiesen sich einmal mehr als fast durchgehend intonationssicher und ausdrucksstark, selbst bei sechsstimmigen Stücken. Wobei besonders hervorzuheben ist, dass der Klangkörper von sonst gut 60 Köpfen durch Krankheit (teils kurzfristig) auf nur noch 38 geschrumpft war, was vor allem die Männerstimmen stark ausdünnte. Umso beachtlicher finde ich das hohe Niveau, auf dem hier gesungen wurde.


 

 

 

Montag, 4. November 2024

Warum ein Jugendbuch zum SPIEGEL-Bestseller wurde

Amie Kaufman & Jay Kristoff: "Aurora erwacht" FISCHER Kinder-und Jugendtaschenbuch, Frankfurt / Main, 2023, 487 S., 12,00 €, aus dem amerikanischen Englisch von Nadine Püschel

Seit Jugendbuchautor und Grünen-Wirtschaftsminister Robert Habeck zum Ziel politischer Attacken wurde, ist es auch Mode geworden, Autorinnen und Autoren von Jugendbüchern generell öffentlich als unseriös und lächerlich zu diffamieren. Deshalb finde ich die Frage interessant, was der Unsinn soll und warum das ausgemachter Unsinn ist. Es kommt ja auch niemand auf die Idee, zu behaupten, Leute wie Astrid Lindgren (Pippi Langstrumpf) Cornelia Funke (Tintenherz), Otfried Preußler (Krabat, Die kleine Hexe) oder Michael Ende (Momo, Jim Knopf) seien minderbegabt. Trotzdem klebt das Etikett "Kinderkram" hartnäckig. Nicht weniger hartnäckig aber kleben rote Etiketten mit dem Aufdruck "SPIEGEL Bestseller" auf Umschlägen höchst erfolgreicher Bücher, die Autoren und Verlage reich machen und die Kassen im Buchhandel klingeln lassen. Warum ist das so? - Die Antwort ist relativ einfach: weil sie unglaublich gut sind. Das gilt auch für den vorliegenden Roman "Aurora erwacht" von zwei jungen Australiern namens Amie Kaufman und Jay Kristoff. 

Das Buch ist mit 487 Seiten ein echter Schinken (oder Ziegelstein), geeignet zur Abwehr von Einbrechern, und steht im Widerspruch zu der Mär von der kurzen Aufmerksamkeitsspanne junger Leute. Kommt erschwerend hinzu, dass auf dem Umschlag das ziemlich kitschige Bild eines jungen Mädchens mit Stupsnase, verschiedenfarbigen Augen und vollen Lippen zu sehen ist, eindeutig inspiriert vom Kindchen-Schema japanischer Manga-Comics. Das ist Aurora, sie hat 200 Jahre lang im Kryoschlaf gelegen und ist die einzige Überlebende an Bord eines havarierten Raumschiffs, mit dem Kolonisten auf einen Planeten des fernen Systems Aurora wollten. Gerettet wird sie von Tyler, einem blutjungen Absolventen der Aurora-Academy und Jahrgangsbester der Aurora-Legion. Hier darf ruhig gemeckert werden: Etwas viel Aurora-Symbolik, finde ich auch. Aurora, so hieß bei den Römern die Göttin der Morgenröte, so heißen bei uns heute Nordlichter. "Wir die Legion. Wir das Licht, das die Dunkelheit durchbricht" lautet das gern im Chor zitierte schwülstige Motto der gleichnamigen Legion, klar, das musste ja sein. Eine solche Symbolik passt aber in die Denk- und Sprachmuster von Kadettenanstalten, wo auch ein Thriller-Autor wie Tom Clancy seinen Jargon her holt, und ist damit recht realistisch, um der Wahrheit die Ehre zu geben. Als Gegengewicht gibt es jede Menge freche Dialoge.

Doch im übrigen ist der Schinken ein echter Pageturner voller Tempo, Witz, Spannung und nicht gerade wenigen Überraschungen. Die Handlung spielt im Jahr 2380. Tyler Jones hat gerade seine Ausbildung abgeschlossen und steht davor, sich sein erstes Team zusammenzustellen. "Das coolste und beste Saquad, das ein Abschlussjahrgang der Aurorea Academy je gesehen hat". Weil er in der Nacht vor der Teamauswahl nicht schlafen kann, macht er einen verbotenen Ausflug, stößt im interdimensionalen Raum auf besagtes havariertes Raumschiff und weckt die einzige Überlebende aus dem Kälteschlaf. Was er nicht ahnt: Mit dem Mädchen stimmt etwas nicht, es ist irgendwie anders. Wie sich herausstellt, hat Aurora die Gabe der Telekinese, kann also Dinge mit reiner Gedankenkraft bewegen. Ja, sorry, in der Sience Fiction ist so etwas ganz normal, genauso wie der Überschallantrieb und Wurmlöcher. Abgesehen davon, darin steckt auch ein dickes Korn Wahrheit: Es gibt schon Gelähmte, die mit reiner Gedankenkraft am PC Texte schreiben können, ein spezielles Computerprogramm macht´s möglich, und KI wird noch mehr dafür sorgen, dass wir in der Medizin Bauklötze staunen.

Um Aurora droht ein Krieg auszubrechen, und ausgerechnet Tylers Team soll das verhindern. Es besteht angeblich aus lauter Losern und Außenseitern, aber die erweisen sich als die Besten der Besten, obwohl Tyler durch die Rettung von Aurora den Auswahltermin verpasst und nicht mehr viel Auswahl hat. Die Pilotin Cat hält sowieso zu ihm, weil sie heimlich verliebt ist, seine Schwester Scarlett als diensthabende Diplomatin lässt ihn auch nicht im Stich. Der Techniker Finian ist Betrasker und nicht nur tüchtig, sondern verfügt auch über wertvolle Beziehungen zu entfernten Verwandten eines Volkes vom Planeten Trask, das wegen der starken Stürme dort überwiegend unter der Erde lebt. Kaliis, der Kämpfer, könnte zwar seine Aggressionen besser unter Kontrolle haben, kann aber allein fünf Elitelegionäre verdreschen. Er ist ein Syldrathi, ein Hüne mit spitzen Ohren, großen violetten Augen und lila Blut. Der Alien ist ein besonders wilder Vertreter eines ohnehin kriegrischen Volkes, mit dem die Terraner erst vor zwei Jahren einen Friedensvertrag geschlossen haben. Die Wissenschaftlerin und Ärztin Zila sieht aus wie eine normale Afroamerikanerin, hat aber Probleme im angemessenen Umgang mit Menschen. 

Die erste Mission des Teams ist auf den ersten Blick enttäuschend: ein Versorgungsflug. Sie sollen Medikamente zu einer ehemaligen Bergbaustation voller Flüchtlinge des syldrathischen Bürgerkriegs auf einem gottverlassenen Asterioiden bringen. Kaum sind die Zielkoordinaten eingegeben, meldet sich das militärische Oberkommando der Legion und erzählt seltsame Dinge: "Vor Ihnen liegen ungeahnte Herausforderungen", sagt der Chefausbilder und väterliche Freund, der Tyler immer gefördert hat. "Aber wir haben vollstes Vertrauen in Ihre Fähigkeiten. Sie werden es schaffen. Was auch kommen mag. Bleiben Sie stark. Du darfst den Glauben nicht verlieren, Tyler". Wenn Politiker so reden, schrillen bei uns die Alarmglocken. Und die Generalissima ergänzt: "Die Fracht, die Sie transportieren, ist wertvoller, als Sie alle ahnen können". Stimmt. Nichts ist so, wie es scheint. In einer der Frachtkisten steckt nämlich Aurora als blinde Passagierin, und als sie durch einen Zufall herauspurzelt, kommt auch recht bald ihre telekinetische Fähigkeit ans Licht.

Das Raumschiff des Teams wird verfolgt von einem syldratischen Kampfkreuzer und dieser wiederum von einem Zerstörer der TDF, der Terran Defense Force voller maskierter Agenten der GIA, der Global Intelligence Agency. Die Geheimdienstler pulverisieren die Flüchtlingsstation und den syldrathischen Kreuzer und entführen Aurora, was man natürlich nicht auf sich sitzen lassen kann. Schließlich wollten die die Kommandeure der Legion das hübsche Kind mit den übersinnlichen Kräften aus der Reichweite jener GIA entfernen, die sie jetzt gekidnappt hat - unter Bruch interstellarer Abkommen und mit einem Massenmord zu dessen Vertuschung. Mit einem Husarenstück wird Aurora befreit, solange die beiden Schiffe noch angedockt haben. Die Flucht gelingt knapp, und fortan wird die gesamte Galaxis das Team jagen, das sich gewaltsam den Behörden widersetzt hat.

So weit, so gut, so weit die Inhaltsangabe der ersten Kapitel. Aber dann gibt es mehr als Action, Exotik und Spannung. Eine Kette von Abenteuern beginnt, in denen es um Kameradschaft und Freundschaft, Rassismus und Xenophobie, interkulturelle Kompetenz und Integration geht, den Unterschied zwischen Gesetz und Moral, am Ende auch um den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, Loyalität und Machtmissbrauch. Das ist kein oberflächliches Buch über Gewaltorgien, sondern ein ausgesprochen ernsthaftes über sehr ernste und aktuelle Themen.

Geheimnisvolle Einflüsse einer uralten, seit einer Millionen Jahren ausgestorbenen Zivilisation ziehen Aurora auf eine riesige Raumstation, die man als futuristische Variante eines klassischen Piratennestes bezeichnen kann. Sie kann ihre Kraft nur unter Lebensgefahr oder von einer Art Hypnose ferngesteuert einsetzen, wobei sie Worte einer unbekannten Sprache spricht. Doch auch auf dieser Insel der Gesetzlosigkeit, die ein schwer reicher und kunstsammelnder Alien-Mafiaboss beherrscht, hat der Techniker Finian Verwandte, die dem Team eine Unterkunft und Informationen besorgen. Nach Art einer "Mission Impossible" wird diesem Obergauner natürlich ein Artefakt entwendet, das Aurora weiter bringen soll: Ein so genannter "Trigger", der sich als Sternenkarte mit markierten Sperrzonen entpuppt, die der Bordcomputer natürlich als vorrangige Reiseziele empfiehlt. Gemeinsame Recherchen ergeben nach und nach, dass all diese seltsamen Dinge mit der ausgestorbenen Zivilisaion zu tun haben.

Auf der Flucht scheinen Tyler und sein Team mit Aurora eher zufällig auf genau jenem Planeten zu landen, zu dem 200 Jahre zuvor das haverierte Rumschiff Auroras mit Kolonisten unterwegs gewesen war. Der Planet existiert nach offiziellen Informationen gar nicht, weil er in einer galaktischen Sperrzone liegt - Anflug oder gar Betreten strengstens verboten. Nur dass man Leuten, die ohnehin nichts zu verlieren haben, kaum etwas verbieten kann. Was es dort zu entdecken gibt, ist eingermaßen gruselig und kostet schließlich die Pilotin Cat das Leben. Mit knapper Not gelingen Flucht und Aufbruch zu neuen Ufern. Fortsetzung folgt. Das Ganze ist nämlich nur der erste Tei einer Trilogie.


Montag, 2. September 2024

Gegen die Wand: Eine Kampagne zur Verhinderung der Zukunft

Bei der Berliner Runde nach der Landtagswahl in Thüringen und Sachsen fiel mir zum ersten Mal der CSU-Generalsekretär Martin Huber auf, ein übler Hetzer vor dem Herrn (Söder). Dieser Mensch hat im Grunde in der Runde nichts verloren, wird aber wie seine Vorgänger traditionell eingeladen, damit die Union doppelt reden darf, weil ein gewisser Franz-Josef Strauß das mal durchgesetzt hat. Huber wiederholte aggressiv das dumme Wahlkampf-Narrativ Markus Söders, der die Grünen zum Hauptgegner erklärt hat. Kackdreist und völlig sinnfrei machte er sogar die Grünen für den Aufstieg der AfD in Thüringen und Sachsen verantwortlich. Angeblich seien die Grünen die gefährlichste Partei Deutschlands (O-Ton Höcke!), nicht die AfD. Robert Habeck sei der schlechteste Wirtschaftsminister aller Zeiten (den seltsamer Weise die Industrie für seine entschlossene Reaktion auf die Energiekrise lobt) etc. 

Das kommt ausgerechnet von jener Partei, die seit Jahrzehnten den Ausbau der Stromnetze von Nord nach Süd blockiert bzw. extrem verteuert hat, weil Horst Seehofer erzwang, dass die Leitungen unterirdisch verlegt werden. Gipfel der Heuchelei: Seit Putins Angriff auf "unsere" Energieversorgung jammert die CSU, der Süden werde energiepolitisch abgehängt, obwohl gerade dort ach so viel benötigt werde von der Industrie (damit sind nicht nur BMW, Audi und Co. gemeint, sondern auch Skilifte).

Die verlogene Kampagne von FDP, Union und BILD-Zeitung gegen den illegal publizierten Entwurf (!) des Heizungsgesetzes hat in Wirklichkeit die Grünen klein und die AfD groß gemacht. Wirklich gut gemacht, diese Kampagne, aber höchst demagogisch und sehr effizient sekundiert von einer FDP, die alle Investitionen in Zukunftsprojekte finanziell blockiert hat (vor allem Sicherheit und Justiz, Digitalisierung, Brückenbau, Netzausbau bei Schiene & Strom, Wasserstofftechnologie, sozialer Wohnungsbau und Gesundheitswesen, um nur die größten zu nennen). Den Auftakt machte eine Klage der Union beim Bundesverfassungsgericht gegen die Übernahme übrig gebliebener Notfallkredite zur Pandemiebekämpfung in den Haushalt 2024. 

Von heute auf morgen fehlten der Regierung 60 Milliarden Euro. Das Gericht hat zu Recht so geurteilt, doch ohne die berechnende Klage der Union ausgerechnet zu diesem kritischen Zeitpunkt wäre es nie dazu gekommen. Das Motiv war nicht etwa das löbliche Denken der sparsamen schwäbischen Hausfrau im sorgsamen Umgang mit Steuergeldern, sondern ganz offensichtlich der Wunsch, der Regierung zu schaden bzw. die Klima- und Energiewende zu torpedieren. Jetzt fehlt das Geld für die geplante große Unterstützung bei der Transformation der Industrie - bis auf einen lächerlich kleinen Rest. Die Folgen - Abwanderung ins Ausland, fehlende Investitionen, Vernichtung von Arbeitsplätzen, immer mehr Insolvenzen und Angst vor Deindustrialisierung - werden dem grünen Wirtschaftsminister Habeck in die Schuhe geschoben, der das ganz anders wollte. Ausgebremst von Christian Lindner. Wie oft habe ich schon von Normalbürgern den AfD-Kernsatz gehört "Für die Flüchtlinge haben sie Geld, aber nicht fürs eigene Volk!" Die Folge: Radikal destruktive Parteien wie AfD und BSW gehen bei Wahlen in Sachsen und Thüringen mit über 30 Prozent durch die Decke.

Typisch dafür war der Umgang mit der CO2-Bepreisung für die Klimapolitik: Lindner erklärte lakonisch, für das Klimageld sei kein Geld mehr da. Das Klimageld für alle sollte ja laut Koalitionsvertrag den steigenden CO2-Preis sozial abfedern und akzeptabel machen. Aber einem wie Christian Lindner ist das vollkommen egal. So wird das ganze Projekt amputiert, und die Enttäuschung darüber kann man wieder den Grünen in die Schuhe schieben. Für mich ist der Vorgang an Perfidie, sozialer Kälte und Verlogenheit kaum zu überbieten. So schürt man Unzufriedenheit, Hass und Hetze - letzten Endes eine Gefahr für die Demokratie. Ein zögernder, schweigender, ewig abwartender Bundeskanzler Olaf Scholz, der auf Nachfrage öffentlich erklärt, eine Prämie für 21,22 Millionen Rentner zur Kompensation explodierter Heiz- und Stromkosten sei schlicht unbezahlbar, ist da auch nicht hilfreich. Für Millionen von Beamten und Angestellten war das Geld schließlich da. 

Gottlob ist das nun Geschichte. Am 6. November hat der Kanzler Lindner entlassen und Neuwahlen angekündigt. Einen Finanzminister, der sein Amt für reine Partei- und Klientelpolitik missbraucht, kann sich das Land nicht leisten.

Nein, ich bin kein Freund irgend einer Partei oder Regierung und werde auch nicht für diese Zeilen bezahlt. Aber hier wurde und wird von Leuten, die einen Amtseid geschworen haben, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, das Gegenteil gemacht. Sie schädigen das Volk massiv aus Machtinteresse, zur Wahrung ihres Besitzstandes, ihrer Privilegien und ihrer Gewohnheiten. Sie tun buchstäblich alles, um eine Zukunft zu verhindern, in der ihr bequemes Weiter So nicht mehr gilt. Diese Leute machen die AfD groß und schaden dem Land. Da kann ich gar nicht mehr so viel Fleisch fressen, wie ich kotzen möchte! Wollte ich nur mal gesagt haben.

Donnerstag, 11. Juli 2024

Seelen-Musik: Eine erzählte Landkarte Siebenbürgens

Dagmar Dusil: "Das Geheimnis der stummen Klänge", Roman. ISBN 978-3-86356-394-3. Pop Verlag, Ludwigsburg, 219 Seiten, 21,00 €
 

Wie eine Zwiebel enthüllt dieses Buch Schicht um Schicht Neues, und manchmal kann es einem dabei tatsächlich auch Tränen in die Augen treiben. Dennoch ist der Kern nicht einfach zu beschreiben. Nicht zufällig wird der Name der Hauptperson, Clara Giseda Gregorius, Narkoseärztin und Musikliebhaberin in Bamberg, erst auf Seite 16 vollständig genannt. Bis dahin ist es schlicht Clara, die sich schon in der ersten Szene fragt, "ob Musik in Worte gefasst werden kann." Sie hört während einer Konzertpause den Rettungshubschrauber und lässt sich pflichtbewusst ins Krankenhaus fahren, weil sie einen Notfall vermutet. Das Personal ist chronisch unterbesetzt und sie gehört zu denen, die immer erreichbar sind, ohne Familie und Kinder, jederzeit einsatzbereit. Aber kein Unfallopfer hat der Hubschrauber gebracht, sondern eine Spenderniere. Als sie zum Narkosegespräch das Krankenzimmer betritt, liegt vor ihr der Dirigent David Goldstein im Krankenbett, den sie noch vor kurzem auf der Bühne erlebt hat. Die Begegnung wird der Beginn einer langen und tiefen Freundschaft.

Clara stellt sich als betreuende Anäthesistin vor und spricht ihn fast gegen ihren Willen an: "Es war so kreativ und individuell, wie Sie die 4. Symphonie von Gustav Mahler dirigiert haben, wie Sie die einzelnen Instrumente zum Klingen gebracht und zu einem Ganzen zusammengefügt haben, wie sich die Töne gleich einer Schnecke von einem Instrument zum anderen bewegt haben". Goldstein vergisst die bevorstehende Operation, ist überrascht und beeindruckt von ihrer präzisen Einschätzung des Gehörten: "Selten kommt es vor, dass ein Laie in Worte fasst, was der Dirigent dem Orchester abverlangt". Nur ist Clara eben kein Laie. Sie ist - und jetzt überspringe ich der Einfachkeit halber mehrere Lagen der Zwiebel - eine hochbegabte, aber vor langer Zeit traumatisierte Pianistin, die das Klavierspiel aufgegeben hat, um Ärztin zu werden. Die titelgebenden "stummen Klänge" hört die Frau mit dem absoluten Gehör nur innerlich, sozusagen mit der Seele, beim täglichen Üben auf einer Tastatur aus Papier. Mit 17 Jahren, als sie in der realsozialistischen Diktatur Rumänien von der Securitate um den Sieg in einem Klavierwettbewerb gebracht wurde, hat sie die 88 Tasten, 52 weiße und 36 schwarze, auf Papierbögen ihrer Mutter gemalt hat - weil es in ihrer Heimat Hermannstadt in Siebenbürgen nichts Passendes zu kaufen gab.

Wie musikalisch gebildet bzw. bewandert die Autorin Dagmal Dusil ist, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls stammt sie aus Hermannstadt im rumänischen Siebenbürgen und hat dort nicht etwa Musik, sondern Anglistik und Germanistik studiert und als Englischlehrerin gearbeitet, bis sie 1985 in die Bundesrepoublik Deutschland ausreiste, wie die meisten siebenbürger Sachsen, die bei den zurückbleibenden Rumänen, Ungarn und Roma "Sommersachsen" heißen, da sie nur die Sommerferin in der alten Heimat verbringen. Dusil hat viele Details recherchiert und viele sicher nicht recherchieren müssen, sondern aus der Erinnerung hervorgeholt. Aus Erfahrung kennt sie auch die unseligen, patriotisch verbrämten Machenschaften der Securitate, die stets bedrohten und doch zugleich staatlich privilegierten Künstlerexistenzen sowie die sozialistische Mangelwirtschaft. Sie weiß auch um das verhängnisvolle Schweigen der Secuitate-Opfer. Und sie lässt einen Taxifahrer, der zufällig den gleichen Vornamen hat wie der junge Geheimpolizist, der einst versuchte, die Schülerin Clara nach dem Wettbewerb auszuhorchen, die Geschichte von den "Sommersachsen" erzählen. Überhaupt erzählt der geschwätzige Mann viel, auch über Osterbräuche und das Zusammenleben der diversen Volksgruppen in Rumänien, von denen vor allem die ärmeren Roma heute als Arbeitsmigranten in Deutschland Erdbeeren ernten und Spargel stechen.

Dagmar Dusil strickt ihren Plot nicht, sie häkelt, stickt und klöppelt feinste literarische Spitze, sie komponiert die Handlung wie eine Thriller-Autorin. Unglaublich, wie viele Zwiebelschalen sie auf nur gut 200 Seiten zusammenfügt. Sie springt vor und zurück in Claras Biographie und in den komplizierten Familiengeschichten der übrigen Hauptfiguren wie ein Drehbuch. Fast nichts ist, wie und was es zu Anfang scheint, und doch fügt sich alles am Schluss zusammen, wenn auch nicht zu einem in jeder Hinsicht guten Ende, das wäre ja wirklich ein lebensfremdes Unding. Was man liest, ist aber unterm Strich weit mehr als die Geschichte eines Künstlerschicksals in der Ceausescu-Diktatur. Dieser Roman ist eine erzählte Landkarte Siebenbürgens, und die Geschichte einer untergegangenen Kultur: Klausenburg, Kronstadt, Katzendorf mit seiner Kirchenburg und der immer noch bewohnten "Ziganie". Hier laufen Lebensfäden zusammen und auseinander, um sich Jahrzehnte später wieder zu kreuzen. Das hat teilsweise Dimensionen einer antiken griechischen Tragödie.

Clara ist kein moderner weiblicher Adrian Leverkühn wie der Komponist aus Thomas Manns "Doktor Faustus", doch auch sie ist distanziert und verschlossen, unfähig zum Vertrauen selbst den engsten Freunden gegenüber. Sie denkt und fühlt in Klängen, führt den Leser in eine beachtliche Fülle musikalischen Fachwissens. Auch sie leidet unter  selbstzerstörerischen Zweifeln und bohrenden, teils philosophischen Fragen: "Die Erinnerung lässt sich nicht abschütteln und auslöschen. Auch durch die Musik nicht, die wie ein Sieg über das Vergehen, über die Vergänglichkeit auftrumpft. Die Musik, die ihr ständiger Begleiter ist, die sich an Abenden wie diesem (des Konzerts mit Goldstein in Bamberg) heftiger an sie schmiegt und sie aus der Gegenwart zurück in die Vergangenheit führt. Die Erinnerung ist da, als Klang und als schmerzliche Erfahrung, dass in der Entstehung des Klangs die Freude liegt, die ihr versagt blieb" (durch pubertären Trotz und eigene Sturheit; Menschen sind eben manchmal so, auch das weiß Dusil).

Eine Rückblende ins Jahr 1975 zeigt die dreijährige Clara, die als Ich-Erzählerin berichtet, wie sie ihre Mutter Almuth so lange nervt, bis sie mit ins Konzert darf. Es ist ein Schlüsselerlebnis. Denn der Pianist auf der Bühne in Hermannstadt, dem das Publikum und auch die kleine Clara zujubelt, heißt Clemens Haller und soll später ihr Klavierlehrer werden. Clara hört zum ersten Mal in ihrem Leben Applaus, springt auf den Stuhl, klatscht sich die Hände wund und schreit lauthals immer wieder "Bravo!" Gespielt hatten Haller und das Orchester das Klavierkonzert A-Dur von  Franz Liszt. Claras Mutter Almuth Gregorius, ist Malerin und versucht, Töne in Farben  und Linien künstlerisch einzufangen: "Sie mochte besonders die Stellen, in denen das Klavier und das Solo-Cello miteinander musizierten. Doch zugleich fürchtete sie diese Stellen, spielte doch Leo, ihr Mann, den Cellopart. Sie wusste um sein krankhaftes Lampenfieber, wenn alles im Haus unsichtbar und unhörbar werden musste. Es ging dann nur noch um Leo."

Auch der Solist Clemens Haller war so eine Mimose, ein begnadeter Musiker, zugleich aber unberechenbar und launisch: "Er vereinbarte das Unvereinbare, ließ Unmögliches möglich werden. Sein Spiel ließ Engel und Teufel erwachen und miteinander kämpfen oder gar zu Freunden oder zu Liebhabern werden. Wenn er zu spielen begann, verheilten Wunden. Doch es war für die Kritiker nicht einfach, eine zutreffende Aussage zu machen, die Spannung und den Widerspruch seines Spiels und seiner Interpretation in Worte einzufangen." Nach dem Konzert musste Claras Vater jeden Abend dem Kind vor dem Einschlafen eine Platte auflegen und die Musik sichtbar machen, was er konnte wie niemand sonst: "Vater erklärte die Pastorale von Beethoven, die Wassermusik von Händel und den Hummelflug von Rimski-Korsakov. Sie schlief ein mit diesen Bildern vor Augen und der Musik in den Ohren." Besonders bei Mozart spielte sich das Kind auf der Bettdecke mit einem imaginären Klavier in den Schlaf. Später, als Ärztin, weiß Clara um das selbstzerstörerische Suchtpotanzial der Musik, aber der selbstverordnete Entzug schmerzt so sehr, dass es fast nicht auszuhalten ist.

Der Wettbewerb, mit dem die Tragödie der damals 15jährigen Clara begann, wird in einer Rückblende auf das Frühjahr 1987 knapp erzählt, aber nicht bis zum bitteren Ende. Das Publikum im Saal hielt bei ihrem Spiel den Atem an. Der Knall folgt erst vieler Seiten später. Als wollte die Autorin wie eine Katze um den heißen Brei herum schleichen, folgt erst nach vielen Andeutungen Konkretes. Almuth will ihrer Tochter die Wahrheit sagen (welche?) und hadert mit ihrem Man Leo, dessen Aufgabe das ihrer Ansicht nach gewesen wäre. Doch 1989, kurz vor der Revolution und dem Tod des Diktators, war Leo gestorben und Clara im Sog der allgemeinen Freiheitshysterie das Land verlassen und nach Bamberg gegangen, um Ärztin zu werden. Almuth hatte nie ein Kind gewollt, war unnahbar, kühl und am liebsten allein. Sie blieb in Hermannstadt und malte.

In der Rückblende erzählt Dusil, wie Almuth und Leo sich kennen lernten. Sie studierte Malerei und er besuchte das Konservatorium in Klausenburg: er als Cellist umschwärmt, witzig und leichtlebig, sie eine herbe Schönheit, die sich nicht gern überraschen ließ und trotzdem ja sagte, als er sie spontan bat, seine Frau zu werden, obwohl sie sich kaum kannten. Leos Eltern, der Arzt Ion Lupeanu und seine Frau Magda, geborene Caramilotis aus einer ehrenwerten Familie in Griechenland, die ins weltoffene, multinationale Constanta am Schwarzen Meer eingewandert war, lebten rumänisch-großbürgerlich in Ramnicu Valcea, einer Stadt in den Südkarpaten am Fluss Alt. 

Nicht ohne Humor schildert die Autorin den Zusammenprall der verschiedenen Kulturen und Traditionen, als Herr und Frau Lupeanu es sich nicht nehmen lassen, gegen den Willen von Braut und Bräutigem ins siebenbürgische Hermannstadt zu reisen, um bei den Brauteltern nach Landessitte um die Hand ihrer Tochter anzuhalten, was bei den Siebenbürger Sachsen nicht üblich ist. Es gibt genau zwei Gemeinsamkeiten: Auch Viktor Gregorius ist Arzt, und in beiden Familien wird die Hausmusik geschätzt. Almuths Bruder Gottfried, ein "wohlerzogener" junger Doktor der Chemie, findet Anerkennung als von Clemens Haller gelobter Amateurpianist. Es wird jedoch kein zweites Familientreffen geben, zumal Leo und Almuth verkünden, nicht kirchlich heiraten zu wollen. Am Ende dieses Kapitels beschließt Almuth, Clara zu einem Gespräch nach Wien einzuladen, wo sie an einer Ausstellung teilnehmen wird.

Szenenwechsel, ein harter Schnitt. Die Starpianistin Levinia Vandu besucht ihren Patenonkel, der als Arzt und Oberst der Securitate in einer ziemlich protzigen Staatsvilla (mit Personal und einem Interieur aus edlem Mobilar und venezianischen Spiegeln) residiert. Oberst Lepadatu kannte ihr Problem; er wusste immer alles, und seine Frau kaufte in speziellen Läden Dinge ein, die es sonst nirgends gab oder nur als Mangelware. Auch bei Lavinias Eltern war das so; die die Männer waren Kollegen, die Paare waren befreundet und besuchten einander. An ihre früheste Kindheit hatte Lavinia nur nebelhafte Erinnerungen, die ein befreundeter Therapeut auf Wunsch von Herr und Frau Vandu auslöschen sollte. Dusil beschreibt hier eine gängige Praxis im real existierenden Sozialismus: "Lavinias frühe Erinnerungen wurden von ihren Adoptiveltern entsorgt. Es gab sie kaum noch. Lavinia war ihr Kind. Ihr Wunschkind. Musikalisch hochbegabt." Was auch der Therapeut nicht ganz ausradieren konnte, waren Flashbacks an das trostlose Kinderheim mit den lieblosen Betreuerinnen, der Schmutz, die Gerüche nach Urin, Erbrochenem und Kot. In Putins Reich lebt das System noch weiter.

Kurz vor dem Autounfall, bei dem sie beide starben, hatten ihre Ihre Eltern der 18jährigen  mitgeteilt, dass sie adoptiert worden sei, um sie aus dem Martyrium im Heim zu befreien, dass ihre Mutter eine Roma sei und der Vater unbekannt. "Ich bin ein Zigeunerkind!", hatte Lavinia entsetzt aufgeschrien, aber die Mutter hatte sie in die Arme genommen und der Vater hatte ein Machtwort gesprochen: "Du bist unser Kind, nur unser Kind. Das allein zählt." So, gleichsam nebenbei, beschreibt Dusil den bis heute verbreiteten Rassismus und vor allem Antiziganismus in Rumänien. Die Akte war geschlossen. 

Seit dem Unfall ihrer ungewollt kinderlosen Adoptiveltern fühlte sich Oberst Lepadatu für Lavinia verantwortlich. Sie war nun 19 und schon eine nationale Hoffnung, der aufsteigende Stern am rumänischen Pianistenhimmel. Nur eine Nacht hatte sie nach einem Konzert in Hermannstadt mit dem Solo-Cellisten verbracht, mit dem sie Skrjabins Klavierkonzert Nr. 1 in fis-Moll gespielt hatte. Sie hatte sich von der Musik hinreißen lassen, und nun war sie m 4. Monat schwanger, eine Abtreibung kam nicht in Frage. Doch ihr Lebenssinn hieß Musik. Kinder waren für sie nur kleine brüllende Monster. Der Oberst sorgte dafür, dafür, dass sie die Monate bis zur Geburt in einer abgeschirmten Parteivilla am Schwarzen Meer verbringen konnte. Dort spielte sie Klavier, übte viele Stunden am Tag und entdeckte das selten gespielte Klavierkonzert in fis-Moll von Alexander Skrjabin. Als es so weit war, wurde sie inkognito nach Klausenburg gebracht und das Kind wurde noch in der Geburtsklinik von einem ihr unbekannten Paar adopiert. Man ahnt, das waren Almuth und Leo.

Eines Tage trifft Clemens Haller auf der Straße in Hermannstadt zufällig Almuth, zu der er seit dem von der Securitate manipulierten Wettbewerb keinen Kontakt mehr hat, die ihm beiläufig erzählt, dass seine Schülerin jetzt als Ärztin in Bamberg lebt. Nach einem Konzert in Bamberg trifft sie ihn in der Künstlergarderobe, und er sagt nur "Begleite mich morgen nach Venedig". Unausgesprochen bleibt (wie so vieles), dass er ihr unterwegs alles erzählen will, was zu dem fatalen Wettbewerb in Hermannstadt geführt hat. In Venedig wird er ein gut bezahltes privates Recital spielen. Schon unterwegs sprudelt es aus ihm heraus, wie einen Tag vor dem Wettbewerb und zwei Wochen vor seiner Tornee durch die USA ein Soldat bei ihm klingelte und ihn mit einer Postkarte für den Nachmittag ins Hotel Continental zitierte, 11. Stock, Zimmer 5. Dort empfangen ihn zwei Securitate-Leuten, die ihm eröffnen, dass Clara beim Wettbewerb keinen Preis gewinnen wird. Es ist der Versuch, Leo unter Druck zu setzen, dessen lustiger Schwager Gottfried sich bei einer Dienstreise nach Deutschland abgesetzt hat - ein sinnloser Versuch, weil Gottfried keinen Kontakt zur Famillie hat und niemand weiß, wo er lebt.

Clemens Haller sitzt in der Jury und reagiert empört, aber sie drohen diskret, leise und effizient mit Verletzungen seiner Hände, er weiß sehr wohl, dass er die Triller mit dem seigt einem kleinen Unfall verkürzten Mittelfinger der rechten Hand besonders gut spielen kann. Er möge einfach nur an seine Tournee in den USA denken, um die übrigen Mitglieder der Jury brauche er sich nicht zu kümmern. Die Italienerin wird einfach kein Visum bekommen und durch eine willfährige Polin ersetzt werden, ein anderer wird damit bedroht, seine Homosexualität öffentlich zu machen, die Vorsitzende Lavinia Vandu wird mit ihrem Kind erpresst, das sie zur Adoption gab. "In dem Augenblick wusste ich, dass ich Dich für mein eigenes Spiel opfern werde, für die Musik, für meine Freiheit, die keine Freiheit war. Ich wurde zum Täter". 

Das Recital von Clemens Haller im Palast einer Contessa ist Chopin gewidmet, und er beendet den Abend mit dem "Adagio in c-Moll von Carl Filtsch, dem Lebewohl des Komponisten von Venedig.  Dagmal Dusil wäre nicht Dagmar Dusil, käme in Venedig nicht auch noch ein unbekanntes musikalisches Wunderkind vor: Carl Filtsch, ein Siebenbürger Sachse aus Mühlbach, Dichter und Kompinst, Schüler von Liszt und Chopin, hat zwischen 1830 und 1845 Wien, London und Paris als Pianist verzaubert. Mit nur 15 Jahren starb er in Venedig an Tuberkulose. Im protestantischen Teil des Inselfriedhofs San Michele liegt sein Grab. Zu seinen Ehren hat Clemens den Klavierwettbewerb in Hermannstadt geschaffen. Nach einer Liebesnacht besuchen die beiden das Grab.

Clara denkt beim Treffen mit ihrer Mutter in Wien, dass sie nun alles weiß, und erzählt Almuth von Venedig. Sie wisse nur nicht, womit die Jury-Vorsitzende Lavinia Vandu erpresst worden sei, aber das spiele nun auch keine Rolle mehr. Doch dann klärt Almuth sie auf, dass ihre leibliche Mutter Lavinia Vandu ist. Nur Leo, ihr leiblicher Vater, der Oberst und Almuth wussten das. Auch Lavinia ist auf der Suche nach ihren Wurzeln und macht auf der Fahrt zu einem Konzert in Hermannstadt (mit David Goldstein als Dirigent!) Station in Katzendorf. Unter den dortigen Roma sucht sie nach Informationen über ihre Mutter. Ein Musiker der Siebenbürger Sachsen habe das schönste Roma-Mädchen der Stadt vergewaltigt, eine gewisse Maria. Doch die sei nach der Geburt eines Mädchens verschwunden, und der Vater sei gestorben.

David Goldstein hat Clara erzählt, dass er ein Konzert in Hermannstadt mit Lavinia Vandu als Solistin dirigieren würde, das Klavierkonzert Nr. 1 in fis-Moll von Alexander Skrjabin. Er ahnt nicht, dass er damit das Fundament legt für einen dramatischen finalen Showdown. Er ahnt nicht, dass Clara in einem ungestraften kriminellen Akt der Selbstbefreiung für dieses eine letzte Konzert an Lavinias Stelle spielen wird. Clara Giseda Gregorius wird nach ihrem zweifelhaften Triumph wieder als Ärztin in Bamberg arbeiten, aber in ihrer Wohnung wird ein echter Flügel stehen. Einige Karrieren enden, einige Freundschaften überleben, dank der Musik als Kitt. So endet eine fast unendliche, immerhin über vier Generationen reichende, unglaubwürdige und eben darum ziemlich glaubhafte Geschichte. Sie erscheint mir mindestens so realistisch wie die unglaublichen Geschichten der Stasi, der Securitate und anderer Geheimdienste.

 

Samstag, 8. Juni 2024

"Die Zärtlichkeit der Schweigenden": Der Abschied von Teodor Currentzis

Schlussapplaus: Currentzis und Solisten

Teodor Currentzis dirigierte am 6. und 7. Juni in Stuttgart zum Abschied als Chefririgent des SWR Symphonieorchesters das "War Requiem" von Benjamin Britten. Vor dem Konzertbeginn in der Liederhalle dankte SWR-Intendyant Kai Gniffke dem Freund und Musiker mit bewegenden Worten für großartige musikalische Erlebnisse und seine ungewöhnlich erfolgreiche Arbeit mit dem Orchester in den sechs Jahren seiner Amtszeit. Nach der Fusion der SWR-Orchester in Stuttgart und Freiburg hat der junge Currentzis aus zwei teils demotivierten und frustrierten Rumpforchestern einen ganz neuen, ganz eigenen Klangkörper geformt sowie mit seinem Charisma, seinen Ideen für Konzerte und Aufführungen klassischer wie Neuer Musik junge Publikumskreise angezogen. Mit öffentlichen Workshops und ungewöhnlichen Konzertformen traf er den Nerv der Zeit und des Publikums, nicht nur die Liederhalle war bei jedem seiner Auftritte bis auf den letzten Platz ausverkauft. Wie ein Popstar umjubelt und durchaus unorthodox gekleidet, aber bescheiden und zugewandt in seinem Auftreten, machte er als "Probenmonster" aus seinen Musikern extrem engagierte Weltstars, mit denen er auch auf Tourneen im In- und Ausland viel Erfolg hatte. Gniffke ging auch auf die Tatsache ein, dass Currentzis einen russischen Pass hat und aus Verantwortung für die russischen Musiker seines Ensembles MusicaEterna zwar gegen den Krieg in der Ukraine Stellung bezogen, eine konfrontative Positionierung gegen Wladimir Putin jedoch stets vermieden hat. Zu Recht wies Gniffke darauf hin: "Benjamin Brittens War Requiem ist nicht nur eine der bedeutendsten Kompositionen des 20. Jahrhunderts, sondern auch ein bewegendes  Symbol der Versöhnung, ein Statement gegen den Krieg schlechthin".

Das War Requiem entstand 1962 als Auftragsarbeit zur Einweihung der neuen Kathredrale von Coventry neben den Ruinen des historischen Sakralbaus, der von den Nazis im Luftkrieg gegen England völlig zerbombt wurde. Das anderthalbstündige Mammutprojekt ist der Appell eines Mannes an die Menschheit, der sich als Komponist, Dirigent und Pianist immer für die Jugend, den Frieden und die Völkerverständigung eingesetzt hat. Er sagte in einem Interview dazu: "Ich glaube einfach nicht an Macht und Gewalt", und er war ein großer Bewunderer und Freund von Dmitrij Schostakowitsch, den auch Currentzis verehrt. 

Die Texte des monumentalen Chorwerks bestehen aus der lateinischen "Missa pro defunctis" (Totenmesse) und Gedichten von Wilfried Owen, ein sprachmächtiges Gedenken der Gefallenen im Ersten Weltkrieg. Der Dichter selbst kam am 4. November 1918 starb als Soldat mit nur 25 Jahren bei Ors in Frankreich - nur wenige Tage vor dem Waffenstillstand. Sie stehen im Dialog oder Wechselgesang der Solisten von Tenor und Bariton, die nur von einem Kammerensemble begleitet werden, auf der einen Seite, und dem lateinischen Messtext, den drei Chöre und eine Sopranistin mit der großen Orchesterbegleitung singen. Tenor und Bariton streuen in englischer Sprache als imaginäre Stimmen von Gefallenen einst verfeindeter Lager ihre Erinnerungen und Gedanken über das Grauen des organisierten Massenmordes in die Texte der traditionellen Messe ein. Von fern erklingen die hellen Stimmen eines Knabenchors und die Orgel, die wie aus höheren Sphären von Erlösung und ewiger Ruhe künden.

Der Aufbau des Werkes in den sechs Sätzen folgt der klassischen lateinischen Totenmesse mit den bekannten Titeln Requiem aeternam, Dies irae, Offertorium, Sanctus, Agnus Dei und Libera me. Glockenklänge und tiefe Streicher begleiten den einleitenden Messtext Ewige Ruhe gib ihnen, Herr, Und das ewige Licht leuchte ihnen. Und da sei ein Zitat erlaubt, um die Wucht der nachfolgenden Verse von Wilfried Owen in Übersetzung nachvollziehbar zu machen:

Welche Totenglocken läuten denen, die wie Vieh sterben?

Nur die ungeheure Wut der Geschütze,

Nur das Knattern ratternder Gewehre

Kann hastige Gebete herunterrasseln.

Kein Hohn für sie in Oitaneien oder Glocken,

Und keine einzige Stimme der Trauer, bis auf die Chöre,

Die schrillen, wahnsinnigen Chöre heulender Granaten

Und Hörner, die aus trostlosen Landschaften nach ihnen rufen.

 

Welche Kerzen sollen gehalten werden um sie auf ihrem Weg zu geleiten?

Nicht in den Händen von Knaben, sondern in ihren Augen

Möge das Licht des Abschieds leuchten.

Die Blässe junger Mädchen soll ihr Leichentuch sein,

Ihre Blumen die Zärtlichkeit der Schweigenden,

Und jede langsame Dämmerung ein Fallen des Vorhangs.

Der Knabenchor des collegium juvenum Stuttgart war effektvoll vorne an der großen Tribüne des Zuschauerraums platziert, das SWR Vokalensemble und der London Symphony Chorus auf der großen Chorempore über der Hauptbühne, auf der das SWR Symphonieorchester in großer Besetzung saß, davor der Dirigent, die Sopranistin Irina Lungu, der Tenor Allan Clayton und der Bariton Matthias Goerne. Allein diese Aufstellung macht schon klar, welche Mammutaufgabe da auf den Dirigenten wartete. Auch wenn er die Unterstützung des musikalischen Assistenten Gregor A. Mayrhofer und traditionell die Chorpartien durch Chorleiter einstudiert wurden (SWR Vokalensemble: Yuval Weinberg; collegium juvenum: Sebastian Kunz; London Symphony Chorus: Mariana Rosas) blieb die Aufgabe für den Dirigenten riesig, und er löste sie mit Bravour. Auf eine detaillierte Bewertung der Chöre und Solisten möchte ich wegen der Nähe des Werks zum modernen Musiktheater und den Carmina Burana von Carl Orff verzichten, weil ich nicht kompetent dafür bin. Der Gesamteindruck war jedoch mehr als stimmig, er war großartig.

Am Ende erklang nochmals ein leises Requiem aeternam dona eis, Domine zu Glockenklängen. Der Rest war Schweigen. Nachdenkliches, ehrfürchtiges, berührtes Schweigen. Das Publikum schwieg gut eine Minute, bevor der Beifallssturm losbrach. Als er endete, verließen 2000 tief berührte Menschen die Liederhalle wie Besucher eines Gottesdienstes eine Kathedrale. Was mir durch Mark und Bein ging angesichts des Schweigens von Currentzis, der es immer vorzieht, durch Kunst zu sprechen: "Die Zärtlichkeit der Schweigenden". Sie war sehr groß.

Einen kleinen Wermutstropfen muss ich aber in mein Lob gießen. Warum hat es keine große Projektion der deutschen Übersetzung der Gedichte von Wilfried Owen gegeben? Bei anderen Gelegenheiten war das möglich, und hier wäre so etwas eine wesentliche Hilfe bei der Aufgabe gewesen, die englischen Texte zu verstehen, die von den Solisten präsentiert wurden. So konnte das Publikum nur ungefähr das bekannte lateinische Textrepertoire der Chöre verfolgen, während man bei den anspruchsvollen lyrischen Reflexionen zum massenhaften Sterben im Krieg nur die Wahl hatte, seine Aufmerksamkeit auf die Musik oder den Text zu richten. Ich kann z.B. ganz gut Englisch, aber hier konnte ich kaum ein Wort verstehen. Schade. So saßen dann 2000 Vertreter des deutschen Bildungsbürgertums mit der Nase im Textbüchlein da...