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Freitag, 3. Oktober 2025

Günter Guben ist tot: Ein großer Kulturmensch hat uns verlassen

Schon am 21. September ist mein alter Freund und Kollege Günter Guben in Ulm gestorben. Zuletzt sah ich ihn bei einem Treffen ehemaliger SWR-Kulturmenschen im schwäbischen Traditionslokal "Klösterle" in Bad Cannstatt, das muss im Frühjahr gewesen sein. Der Umzug von Esslingen zu seiner Lebensgefährtin in Ulm war noch nicht lange her und hatte ihn arg mitgenommen. Aber dort hatte er nicht nur die Liebe, sondern auch eine schöne Wohnung ganz nah am Münsterplatz und ein helles, geräumiges Atelier, und das jahrelange Pendeln war vorbei. Wir hatten schon gedacht, wir würden ihn nie wieder im "Klösterle" sehen, zumal der Stuttgarter Hauptbahnhof in einem ähnlich prekären Zustand war wie seine Gesundheit. Doch ab und zu tauchte er trotzdem wieder in unserem Stammlokal auf, zuletzt mit Rollator und auf einen Fahrer zum Bahnhof für die Heimfahrt angewiesen, aber immer fröhlich, witzig, freundlich und mit Hut. Den nahm er auch in geschlossenen Räumen nie ab. Ich habe sehr viel mit ihm erlebt. Bei etlichen meiner Features bei SWR2 führte er kompetent und einfühlsam Regie. Mit ihm als Vorsitzenden hat das Stuttgarter Schriftstellerhaus seine besten Jahre erlebt. 

Sein letzter Gedichtband erschien 2016, heißt "Verfügung der Dinge" und liest sich wie ein Vermächtnis. Bezeichnend für die Mischung aus Lebensfreude, Sinnlichkeit, Erotik, Humor und Selbstironie bei Günter Guben und in seinen Texten ist das Gedicht "Einer Kellnerin im Café Königx" :

Wie sie das Glas voll Wein
darreicht
als wäre es die eigene Brust
so vorgebeugt
daß man die Brüste sieht
das Lächeln auch
wie eine Einladung 
und wissend
daß ihr Leib betrachtet wurde
so entwaffnend eine Lüsternheit
die wüsten wollte 
solchermaßen
sinnlich bleibt Erinnerung 
an stattgehabte Liebe 

Schaue ich die Fotos durch, die ich von ihm gemacht habe, denke ich, man sieht ihm den Schwerenöter an, den Gentleman alter Schule, den fröhlichen Zecher, der auch sich selbst zu inszenieren wusste. Er fehlt. Prost, Günter!

Er hatte auch Schrullen, und die betrafen ausgerechnet die Kommuniktion. Günter hatte bis zum vorigen Sommer kein Mobiltelefon, und Jahrzehnte lang hat er sich (letzten Endes vergeblich) geweigert, mit einem Computer oder gar mit E-Mails zu arbeiten. Er hat das nicht aus einer Fundamentalopposition gegen den technischen Fortschritt heraus getan, sondern aus Skepsis den Folgen gegenüber, die all diese Technik für uns und unsere Abeitswelt hat, die Lebenszeit, die sie frisst, die sozialen Verwerfungen. Ein Rezept dagegen hatte auch er nicht. Er liebte es einfach direkt, von Mensch zu Mensch. Im Sender konnte er das mit PC und E-Mail noch delegieren. Vor etwa einem Jahr gab er auch den Widerstand gegen ein Mobiltelefon auf, um in Notfällen erreichbar zu sein. Gemocht hat er es nie. Und seine Nummer gab er nur wenigen. Dafür waren seine Briefe legendär: jeder ein künstlerisch gestaltetes Unikat in Handschrift.

Günter war der Einzige, der mich 2017 nach meiner Lungenoperation während der Reha in Bad Dürrheim besuchte, da chauffierte ihn seine liebe Freundin Heidrun Clement aus Ulm. Wir aßen Schwarzwälder Kirschtorte und spazierten in der Märzsonne durch den Kurpark. Er war ein guter Freund, ein sehr guter. Sogar meine Frau hat ihn gemocht, und die war immer sehr kritisch und zurückhaltend bei der Zuteilung ihrer Sympathie. Ach, ich bin traurig und weiß nicht, wo anfangen und aufhören, über ihn zu schreiben. Gut, dass ein anderer einen angemessenen, schönen und würdigen Nachruf über ihn geschrieben hat, mein Kollege Michael Seehoff.

https://blog.lerchenflug.de/guenter-guben-ein-nachruf/


 

 

Samstag, 30. August 2025

Fang Shen bei der Musik Pause: eine besondere Sicht auf Robert Schumann

Fang Shen beim Schlussapplaus

Am 29. August spielte die chinesische Pianistin Fang Chen bei der Musik Pause im Fruchtkasten am Schillerplatz eine eindrucksvolle Interpretation der Fantasie in C-Dur von Robert Schumann (1810 - 1856). Sie gehört zur Meisterklasse von Florian Wiek in der Stuttgarter Musikhochschule, wo sie nach dem Bachelor- und Masterstudium am Mozarteum Salzburg seit 2022 einen Studiengang als Konzertpianistin absolviert. 

Schon als Schülerin gab sie Konzerte in Peking, Tianjin, Wuhan und Tangshan, und während ihres Studiums trat sie häufig in Österreich, Deutschland und Italien auf. Sie ist also längst eine erfahrene Konzertpianistin, und das war zu hören.

Die technisch anspruchsvolle, gefühlsbetonte Darbietung der jungen Künstlerin zeigte nicht nur deren große musikalische Qualität und eine brillante Beherrschung des Instruments. Sie demonstrierte auch ein tiefes Verständnis für eines der größten musikalischen Genies der deutschen Romantik. Nach den rasend schnellen Läufen der ersten beiden Sätzen bot Fang im langsamen, getragenen dritten Satz eine besondere Sicht auf die Melancholie des Werkes: Musik, die Seelen berührt. Einige Sekunden lang herrschte nach dem Schlussakkord eine andächtige und respektvolle Stille, in der man die sprichwörtliche Stecknadel hätte fallen hören können. Bis dann der verdiente Applaus mit vielen Bravorufen losbrach. Bitte mehr davon!



Dienstag, 5. August 2025

Aufbau Literaturkalender: Ein Klassiker im Wandel

52 Wochenblätter aus dem Aufbau Verlag, Prinzenstraße 85 in 10969 Berlin, herausgegeben von Thomas Böhm und Catrin Polojachtof, 24 € 

Diesen literarischen Wegbegleiter durchs Jahr habe ich seit Jahrzehnten über dem Schreibtisch hängen (oder in der Nähe). Es gibt ihn seit 1966, da war ich noch kein Kritiker, sondern ein lausiger Gymnasiast in Bonnmit Schwierigkeiten in Mathe und (Alt-)Griechisch. Die jetzige Ausgabe ist also der Jahrgang 59. Das Interesse für DDR-Literatur, geweckt durch ein Germanistik-Studium, intensivierte sich durch die Heirat mit einer Magdeburgerin, deren Schulfreund aus Wendgräben, Verwandtschaftsbesuche und Urlaubsreisen. Beliebte Geschenke waren damals mangels Alternativen Spreewaldgurken, weihnachtliche Lichterdeko aus dem Erzgebirge - und Bücher. Am Ende eines jeden DDR-Besuchs stand der Besuch einer großen Buchhandlung, denn für uns gab es mit Ostmark nichts Besseres zu kaufen als Bücher. Vielleicht bin ich schon auf diese Weise als frisch verheirateter Journalist zu meinem ersten Aufbau Literaturkalender gekommen. Endgültig brachen jedoch goldene Zeiten für mich als literarischen Mauerspecht an, als sich die ersten Redakteure bei Zeitungen und Hörfunk für meine Quellen interessierten. Die meisten dieser Redakteure kannten die aktuell wichtigen DDR-Autoren und Neuerscheinungen nicht und hatten keine Zeit für die Pflege entsprechender Kontakte. Nun konnte ich einfach um regelmäßige Verlagsprospekte bitten und und bestellen, was mich interessierte. Spätestens damals, Anfang der achtziger Jahre, muss mir der erste Aufbau-Literaturkalender in die Hände gefallen sein.
Die selbstgestellte Aufgabe damals und heute, zum 80. Geburtstag des Verlages: "Dichterinnen und Dichter aus allen Zeiten und Himmelsrichtungen sollen Woche für Woche altbekannte Begleiter oder Überraschungsgäste sein, Jubilare mit ihren runden Geburts- und Sterbetagen werden bedacht, dazu gibt es Bilder aus ungewöhnlicher Sicht, biographische Ergänzungen und in den Zeitläuften längst gedachte Gedanken von brennender Aktualität. Das ständig aktualisierte Verzeichnis der Geburts- und Sterbedaten enthält über 5.000 Einträge". Stimmt alles, auch wenn ich da und dort einen Tropfen Wasser in den süßen Wein der Selbstbeweihräucherung gießen möchte. 

Da ist vor allem die Systematik. Kann sein, dass mich die eigene Erinnerung täuscht, aber darin kommt der Aufbau Literaturkalender als Abreiß-Lexikon der literarischen Welt vor, in dem es zu jedem Autor, jeder Autorin eine Kürzest-Biographie gab (Geboren, gestorben, Geburtsort und -Land). Weiß der Henker, wann und warum diese (mir kostbare und für lebende Schriftsteller wichtige) Systematik aufgegeben wurde oder verloren gegangen ist. Völlig überflüssigerweise übrigens, denn bis heute kaufen die Leute den Kalender nicht als literarisches Kreuzworträtsel, sondern als Informationsquelle mit Unterhatungswert. Bei WIKIPEDIA finden sich im Zweifelsfall die vernachlässigten Daten sowieso. Warum also diese Schluderei? 

Tröstlich ist dennoch allemal, dass auch die Schluderei unsystematisch bleibt: Einmal fehlen die Daten komplett, ein andermal teilweise, mal sind sie wunderschön eingebettet in eine bibliphile Kostbarkeit (z.B.bei Johann Peter Hebel, dem badischen Erfinder der Kalendergeschichten), ein historisches Faksimile (etwa bei der Marlitt alias Friederike Henriette Christiane Eugenie John aus Thüringen, der ersten deutschen Bestsellerautorin) oder Graphiken alter Briefmarken (bei James Fenimore Cooper, dem bekannten und meistens verkannten Autor des "Lederstrumpf"). Manchmal ist die Auswahl nachvollziehbar, manchmal nicht, manche Berühmtheit erklärt sich von selbst, andere nicht, das ist das Vorrecht der Herausgeber. Manche der stets abgedruckten Werkproben sind typisch, aussagekräftig oder schön, manche wirken beliebig. Doch immer gibt es Überraschungen, Vielfalt und ein Stück Literaturgeschichte, die übrigens auch zu DDR-Zeiten niemals nur eine des Ostblocks war. Diese Offenheit, Neugier und Toleranz gehörte wohl immer zur DNA des Verlags und seiner diversen Töchter.

 "1945 in Berlin gegründet, entstand Aufbau aus der Vision heraus, dass Bücher helfen können, die Welt zu verändern – damit sich Katastrophen wie der Zweite Weltkrieg nie wiederholen", heißt es in einer Pressemitteilung des Hauses am Moritzplatz zum Jubiläum. Und: "Werte wie Humanismus, kritische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und der Anspruch, mit Literatur etwas in Bewegung zu setzen, prägen die Aufbau Verlage bis heute". Der Literaturkalender war immer faktenbasiert und nie ideologisch, Trumps "alternative Fakten" gab es noch nicht und sie spielen auch in Kalendern bis jetzt keine Rolle.

Alles verändert sich, auch der Aufbau Literaturkalender, ein Klassiker im Wandel der Zeit. Über acht Jahrzehnte hinweg hat sich der Verlag immer wieder verändert und dennoch seine Haltung bewahrt: die sachliche Orientierung an Fakten. 

 



 

Freitag, 18. Juli 2025

Muzi Li im "Haus der Musik": Musikalische Weltreise in Stuttgart

Muzi Li beim Schlussapplaus

 Am 18. Juli spielte die chinesische Pianistin Muzi Li in der Konzerteihe "Musik Pause" im Fruchtkasten am Stuttgarter Schillerplatz. Salzburg, Berlin, Venedig, Neapel, Madrid: Erst 27 Jahre alt und ausgebildet an der Musikhochschule Hanns Eisler Berlin, an der Universität der Künste Berlin und aktuell im Konzertexamen der Musikhochschule Stuttgart in der Meisterklasse von Florian Wiek, ist sie bereits überall auf der Welt zu Hause, hat zahlreiche Wettbewerbe gewonnen und Konzerte in 18 Ländern auf fünf Kontinenten gegeben. Kritiker haben die junge Frau als "Rising Star" in den höchsten Tönen gelobt, doch bis jetzt ist sie bescheiden und nahbar geblieben. Sie war schon einmal im Fruchtkasten zu Gast, der Konzertsaal platzte aus allen Nähten und sie hatte eine hörbare Fangemeinde aus der Musikhochschule mitgebracht, die zusammen mit dem Landesmuseum die Konzertreihe  veranstaltet.

Hoch konzentriert spielte sie die ursprünglich für Cembalo komponierte Sonate in A-Dur K. 301 von Domenico Scarlatti (1685 - 1757), eher eine einsätzige, doch anspruchsvolle Fingerübung zum Aufwärmen. Es fogte die Sonate in A-Dur Nr 28 op 101 in vier Sätzen von Ludwig van Beethoven (1770 - 1827). Der erste Satz "Etwas lebhaft und mit der innigsten Empfindung", der zweite "lebhaft und marschmäßig", der dritte "langsam und sehnsuchtsvoll" und der vierte "geschwind, doch nicht zu sehr, und mit Entschlossenheit" (was immer das auch heißen mag, denn das Klavier ist kein Instrument für Unentschlossene). Die Interpretation war empathisch, die Spieltechnik kraftvoll und zugleich empfindsam, die Intonation perfekt, der Gesamteindruck brilliant.

Charmant bedankte sich Muzi in fließendem Deutsch beim zahlreichen Publikum für den langen Applaus und die Bravo-Rufe. Und dann - durchaus ungewöhnlich in der durchgetakteten Reihe dieser kleinen Konzerte, gab sie eine fulminante Zugabe: Die "Spanische Rhapsodie" von Franz-Liszt. Der österreich-ungarische Komponist und Starpianist schrieb das kurze Stück für Klavier Solo 1858, inspiriert von einer Tournee im Jahr 1845 durch Spanien und Portugal. Wunderbare Musik und schwer zu spielen, aber was der Komponist und viele Kritiker als "charmante Elemente der spanischen Folklore" bezeichnet haben, ist ziemlicher Unsinn. Wer Ohren zu hören hat, erkennt die alpinen Ländler-Motive aus Österreich sofort. Die Volkstänze "Folia" und "Jota Aragonese" dagegen sind in anderen Gehörgängen zu Hause. Aber was soll´s: Wenn man so viel auf Tourneereisen unterwegs ist wie Liszt, kann einem schon mal etwas die Erinnerung verrutschen. Muzi Li kann nichts dafür, und den Zuhörern war´s egal. Da Capo!

 

 

Freitag, 11. Juli 2025

Reife Leistung: Demian Martin als Impro-Pianist im Haus der Musik

Der Pianist Demian Martin
Am 1. Juli spielte der Stuttgarter Pianist Demian Martin im der kleinen, aber feinen Konzertreihe "Musik Pause" im Haus der Musik am Stuttgarter Schillerplatz. Der 27jährige klassisch ausgebildete Pianist und Kirchenorganist studiert derzeit in der Meisterklasse von Noam Sivan, der an der Musikhochschule Stuttgart eine Professur für das seltene Spezialfach "Künstlerische Klavier-Improvisation" hat und ihm auch ermöglichte, im Rahmen des Erasmus-Förderprogramms ein Jahr lang die Improvisationsklasse eines legendären Kollegen zu besuchen: Jean-Francois Zygel vom Conservatoire de Paris. Und als ob das nicht genug der Ausbildung wäre, hat der vielseitig begabte Martin noch ein Projektstudium für Filmmusik und Sounddesign an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg absolviert.

Das Ergebnis konnte sich hören lassen: Improvisation auf Zurufe aus dem Publikum ("Nennen Sie mir drei Töne, und ich improvisiere dann etwas dazu"). Oft sind auch Genre, Stilrichtung und Thema frei wählbar, aber dafür reichte diesmal die Zeit nicht. Diese Form der improvisierten Musik stammt aus dem Theater ("Impro-Theater" oder "Theatersport" haben da Pate gestanden). Eine "Hochschule für Musik und Darstellende Kunst" wie die in Stuttgart ist sicher prädestiniert dafür. Aber eigentlich ist improvisierte Musik, vom Jazz bis zum Volkslied, schon seit Jahrtausenden da: eine Musik des Augenblicks, einmalig und ohne Noten, wiederholbar höchstens in Teilen und durch vielmaliges Hören und Auswendiglernen. Demian Martin konzertiert oft auch mit seinem Bruder Lionel, der Cello spielt und schon vor Jahren als SWR New Talent gefördert wurde.

Was hat Demian Martin denn nun gespielt? - Improvisationen mit Phantasietiteln wie "Drei Sarkasmen inspiriert von Sergej Prokofjeff", die nur eine Richtung weisen und an denen eben durch die Tonvorgaben auch das Publikum beteiligt war: "Die herrenlose Pferdefliege", "Der verbotene Regenschirm" und "Die weggelaufene Nase". Sergej Prokowjeff (1891 - 1953) litt unter dem real existierenden Sozialismus und schrieb daher eine eher böse, sarkastische Musik bis auf das populäre Märchenstück "Peter und der Wolf". Ein Geistesverwandter dürfte der futuristisch-absurde Lyriker und Kinderbuchautor Daniil Charms gewesen sein (1906 - 1942). In den Jahren 1925 bis 1939 trat er häufig bei Life-Lesungen auf, weil seine Gedichte unter Stalin nicht gedruckt werden durften. 1941 wurde er verhaftet, und während der Belagerung von Leningrad ließ man ihn wohl 1942 im Gefängnis einfach verhungern.

Nach den von Prokofjeff inspirierten Improvisationen folgten die Titel "Wasser", "Luft", "Feuer" und "Erde" als Charakterstücke nach den "Vier Elementen" im Stil von Maurice Ravel (1875 - 1937). Der neben Claude Debussy bedeutendste französische Impressionist schrieb viele Naturstücke. Sein bekanntestes Werk ist der Boléro".

Demian Martin wurde 1998 in einer Stuttgarter Musikerfamilie geboren. Er improvisiert und komponiert, seit er als Sechsjähriger mit dem Klavierspielen anfing. Heute gehört die Improvisation auf Zuruf ebenso selbstverständlich zu seinen Auftritten wie Konzertmoderationen und kabarettistische Formate. Sehr amüsant das Ganze. Das fand nicht nur der Künster selbst, sondern auch eine Schulklasse des (naturwissenschaftlichen!) Lise-Meitner-Gymnasiums aus Böblingen oder reifere Semester wie der Schreiber dieser Zeilen. Die technische Brillianz des Pianisten Martin war nicht weniger beeindruckend wie sein stilistisches Einfühlungsvermögen, seine wache Reaktion auf das Publikum und sein musikpädagogisches Talent. So sollte Musikunterricht aussehen! Der Mann hatte erkennbar Spaß an seiner Arbeit, und entsprechend begeistert war dann auch der Applaus.

Samstag, 5. Juli 2025

Miyu Matsumoto interpretiert Schubert meisterhaft

Miyu Matsumoto
An diesem Wochenende war schon vor Beginn viel los. Doch trotz der populären Jazz Open auch auf dem nahe gelegenen Stuttgarter Schlossplatz war der Fruchtkasten neben der Stiftskirche zur Musik Pause um 12.30 Uhr rappelvoll. Die Japanerin Miyu Matsumoto spielte auf dem historischen Schiedmayer-Konzertflügel aus den goldenen Zeiten der Stuttgarter Klavierbauindustrie Werke von Olivier Messiaen (1908 - 1992) und Robert Schumann (1810 - 1856). Zu hören waren aus den Preludes von Messiaen Nr. I "La Colombe" (Die Taube) und Nr. III "Le Nombre léger" (Die leichte Zahl). Es folgte Schumanns Klaviersonate Nr. 2 g-Moll, ein Meisterwerk der Romantik in einer wahrhaft meisterhaften Interpretation.

War die nach Angaben des Komponisten "natürliche" Klangfarbenmalerei noch eine angemessen kurze Fingerübung aus der Feder des zeitgenössischen Komponisten aus dem französischen Avignon, so wurde sie doch von Matsumoto nicht als gering abgetan. Sie zeigte schon hier viel Fingerspitzengefühl für Rhythmik und Klangfarben sowie absolute technische Präzision. Seine Klaviersonate g-Moll hat Robert Schumann selbst einmal ein "ziemlich wildes Stück" genannt. Doch die an Bach geschulte Meisterschülerin von Florian Wiek von der Stuttgarter Musikhochschule ritt diesen Tiger mit Bravour. Schon das Tempo-Notat zum ersten Satz ist ungewöhnlich ("So rasch wie möglich"). Es folgten ein getragener, kurzer zweiter Satz ("Andantino"), ein Scherzo im dritten Satz (Sehr rasch und markiert") und ein furioses Rondo zum Abgang im vierten Satz ("Presto"). Ein souveräner Vortrag, begeisterter Applaus.

Miyu Matsumoto wurde 2005 in Japan geboren und debütierte schon als Schülerin mit dem Klavierkonzert Nr. 1 von Johann Sebastian Bach. 2023 war sie Organistin in einer Kirche in Nara (Japan) und nahm an dem dem Meisterkurs "Virtuoso & Belcanto" in Lucca teil, wo sie u.a. Unterricht bei Peter Nagy, Till Fellner und Riccardo Cecchetti erhielt. 2024 spielte sie ein Klavierkonzert als Solistin in Kyoto und erhielt ein Stipendium bei der Internationalen Sommerakademie Radolfzell. Seit März 2025 studiert sie bei Professor Florian Wiek und erhielt im April den Platinum Award der Brahms International Online Competition. Ich glaube, von dieser Pianistin werden wir noch öfter hören.
 

 

 

 


 

 

 

Samstag, 21. Juni 2025

Hochbegabt: Julia Schwalbe im Stuttgarter Fruchtkasten

Pianistin Julia Schwalbe mit dem begeisterten Autor
Am 20. Juni spielte die Pianistin Julia Schwalbe im Alten Fruchtkasten am Schillerplatz Meisterwerke in Moll: Präludium und Fuge e-Moll aus dem Wohltemperierten Klavier BWV 879 von Johann Sebastian Bach (1685 - 1750) und die Klaviersonate a-Moll D 784 von Franz Schubert (1797 - 828). Die mehrfache Preisträgerin bei "Jugend musiziert" wurde 2002 in Karlsruhe geboren und bekam seit dem achten Lebensjahr Klavierunterricht. Bereits mit zehn Jahren erhielt sie das erste Hochbegabtenstipendium, 2016 trat sie beim Europäischen Konzert in Helsinki auf, und 2018 debütierte sie als Solistin mit Orchester beim Klavierfest

des Piano-Podiums der Musikhochschule Karlsruhe. Seit 2021 studiert Julia Schwalbe an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, und seit 2024 setzt sie ihren Bachelor aus der Meisterklasse von Franziska Lee von der Musikhochschule Stuttgart fort. Sie spielte auswendig und technisch perfekt. Ihre Interpretation war kraftvoll und einfühlsam. Auch jenseits der mathematischen Präzision Bachs konnte ihre virtuose, stilsichere Umsetzung des intensiven melancholischen Gefühlsausdrucks bei Schubert auch die versierten Zuhörer überzeugen, von denen einige sogar die Noten mitlasen. Der Lohn war lang anhaltender Beifall.

Obwohl Spitzenmusiker wie Spitzensportler in den letzten Jahren immer jünger werden, ist Julia Schwalbe schon eine erfolgreiche Konzertpianistin. Um ihnen frühzeitig noch mehr praktische Erfahrungen zu ermöglichen, hat die Musikhochschule zusammen mit dem Landesmuseum Württemberg im Fruchtkasten am Schillerplatz die kleine, aber feine Konzertreihe Musikpause eingerichtet, in der Dozenten und Teilnehmerinnen der Meisterklassen zu hören sind. In der stilvollen Umgebung der Musikinstrumentensammlung gibt es jeden Freitag von 12.30 bis 13 Uhr preiswerte klassische Musik und viele Kontakte mit dem interessierten Publikum aus allen Altersgruppen.