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Sonntag, 17. Mai 2015

Ein furioser Einstand: Jubel über Pietari Inkinen in Ludwigsburg

Eröffnungskonzert der Ludwigsburger Schlossfestspiele 2015 mit "Kullervo"
Seit vielen Jahren schon war ein Eröffnungskonzert der Ludwigsburger Schlossfestspiele kein solcher Publikumserfolg mehr. Der neue Chefdirigent Pietari Inkinen trat sein Amt am 15. Mai mit einem furiosen Einstand an, zu dem er einen Männerchor mit dem schönen Namen Ylioppilaskunnen Laulaajat aus seiner finnischen Heimat mitgebracht hatte. Schon dessen erster kurzer Auftritt mit zwei hierzulande völlig unbekannten Liedern von Jean Sibelius war eindrucksvoll: melodiös, kraftvoll und archaisch, orientieren sie sich am traditionellen finnischen Runengesang. Was auf Mitteleuropäer fremd wirkt an der finnischen Sprache, war hier in Rhythmus und mehrstimmigen Wohlklang von einer Kraft geronnen, die man auch in russischen Volksliedern findet. Die ebenfalls traditionelle Eröffnungsrede zum Festival-Motto "Identität" hielt Cem Özdemir. Der Bundesvorsitzende der Grünen ist in Bad Urach an der Schwäbischen Alb geboren, hat anatolische Wurzeln und ist mit einer Argentinierin verheiratet, konnte sich also mit Charme und Recht als Fachmann für kulturelle Vielfalt präsentieren: "Vom Mischen verstehe ich wirklich was". Nicht eine Identität, die bis aufs Blut mit anderen konkurriere, sondern viele Identitäten machen sowohl den einzelnen Menschen als auch die Gesellschaft aus - in Deutschland, aber vor allem in Baden-Württemberg mit dem hohen Migrantenanteil seiner Städte.
Pietari Inkinen
Im Sine dieser Wahrheit und dieses Mottos hat der neue musikalische Leuter der Festspiele gleich zu Beginn deutliche Akzente gesetzt. Gerade durch seine finnischen Freunde ist er ganz und gar in Schwaben angekommen - aber auch beim Publikum. Noch vor der Pause präsentierte er sich auch als Violinvirtuose und Solist - mit einem urdeutschen Musikstück. Zusammen mit Gustavo Surgik, dem brasilianischen Geiger, der seit 2000 Konzertmeister des Festivalorchesters ist, spielte er das Doppelkonzert für zwei Violinen d-Moll von Johann Sebastian Bach. Ihre Interpretation war mehr als eine bloße Verbeugung vor einem Leuchtturm der deutschen Musikgeschichte, sie war in ihrer emotionalen Intensität und virtuosen Aneignung auch ein Stück gelebte Integration. Dass die keine Einbahnstraße ist, zeigte sich noch schöner nach der Pause.
Das Festspielorchester mit Inkinen am Dirigentenpult, der finnische Männerchor unter der Leitung von Pasi Hyökki, die Sopranistin Helena Juntunen und der Bassbariton Jorma Hynninen stellten eine Aufführung des "Kullervo" auf die Bühne, die Sibelius 1882 zum Nationalkomponisten Finnlands machte und 2015 das Publikum in Ludwigsburg zu wahren Begeisterungsstürmen hinriss: Was könnte mehr geeignet sein zu einer großartigen Feier der Vielfalt? Das anderhalbstündige Stück war eine optimale Wahl zu diesem Anlass. Angeregt durch das finnische Nationalepos "Kalevala", erzählt es die Geschichte des tragischen Helden Kullervo nach in Form einer archaischen Sinfonie mit Männerchor und Gesangssolisten.
Das "Kullervo" hat die dramaturgische Wucht, die lyrische Feinnervigkeit und musikalische Kraft der "Carmina Burana" von Carl Orff, der ja ebenfalls mittelalterliche Quellen nutzte. Es ist ein tragisches Werk, in dem viel Blut fließt, und das Teil der finnischen Identität im Freiheitskampf gegen russische Großmachtinteressen wurde - auch über die staatliche Unabhängigkeitserklärung Finnlands im Jahr 1917 hinaus. Wie ein deutsches Orchester, darin auch Musiker aus mehreren asiatischen und anderen Ländern, sich dieses monumentale Werk angeeignet haben, verdient mehr als Respekt; das war einfach großartig.
Das Publikum bedankte sich für dieses Fest der musikalischen Integration und kulturellen Regenbogen-Identität auf höchstem Niveau mit begeisterten Bravo-Rufen und lang anhaltendem Applaus. Es war ein Jubel, bei dem wohl auch ein wenig die Erleichterung über das Ende einer lange Durststrecke des Festivals seit dem Ende der Ära Wolfgang Gönnenwein mitschwang. Intendant Thomas Wördehoff, der das Festival neu aufgestellt hat und mit seinen Neuerungen nicht immer ungeteiltes Lob bekam, wirkte danach ebenso glücklich und gelöst wie Künstler und Publikum: Ein Auftakt nach Maß, wie er besser nicht hätte gelingen können. Chapeau!



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