Altpapier und Träume
Ich habe wirklich ziemlich viele Bücher von Autoren aus Diktaturen oder ehemaligen Diktaturen gelesen. Doch bisher war niemand darunter, der so hellsichtig und schonungslos über den Zusammenhang zwischen Glanz und Elend der scheinbaren Symbiose zwischen Autoren und ihren Lesern geschrieben hat wie Ana Blandiana:
"Der Schriftsteller in der Diktatur wird ... geliebt, weil er das ausspricht, was seine Leser selbst zu äußern sich fürchten, auch wenn sie dies gern tun würden. Wenn jedoch die Diktatur verschwindet, verschwindet auch der Grund für die Kritik und gefährdet implizit den Erfolg dieses einstigen Superstars. Denn Freiheit bedeutet nicht nur das Verschwinden des Diktators, sondern auch die Freiheit, das Lesen einzustellen. Merkwürdigerweise sind das Wort und der Autor, der es zum Überleben gebraucht hat, am stärksten betroffen. Andererseits bedeutet beliebt zu sein nicht unbedingt, erfolgreich zu sein".
Im Jahr 1990 war ich für eine Radio-Dokumentation über die Folgen des Mauerfalls für Autoren, Verleger, Leser und Literaturkritik in der DDR unterwegs und stellte radikale, beunruhigende Veränderungen im "Leseland DDR" fest. Wenn wir früher Verwandte oder Freunde in der DDR besuchten, gaben wir zum Schluss den großen Rest unserers Zwangsumtausches in Ostmark für Bücher aus: Klassiker der deutschen und internationalen Literatur in guten, kommentierten Ausgaben mit Leineneinband und Fadenheftung oder neue zeitgenössische Lyrik, Theatertexte, Romane und Essays aus der DDR zu Spottpreisen. Für mich als Kritiker waren die riesigen Grabbeltische eine Fundgrube. Und nun gab es in den gleichen Buchhandlungen über Nacht fast nur noch Computerhandbücher, Lexika, Reiseführer und Pornographie. Die schockierende Antwort von Buchhändlern und Verlegern auf die Frage, wo denn das ganzen Belletristik-Angebot aus der DDR geblieben sei: "Auf den Müllhalden". Aber so auf den Punkt präzise erklären wie Ana Blandiana konnte ich das nicht.
Sozialismus & Postsozialismus
Blandianas Buch schildert eine Dimension des Hasses, der Manipulation und gesellschaftlichen Spaltung, die sie für typisch rumänisch und das Erbe der Securitate hält. Doch ich vermute, das greift zu kurz. Ich sehe Muster, die sich vor allem seit Putin auf der ganzen Welt wiederholen, vorwiegend aber in Europa. Es ist das Mysterium iniquitatis (Thomas von Aquin), das Geheimnis des Bösen, das sie zu Recht so umtreibt. Mich auch. Aber es es ist nicht bloß rumänisch, es ist universal. Die Erben Francos, der Stasi oder des KGB leben ja ebenfalls alle noch (auch große Teile des Stasi-Vermögens sind übrigens bis heute unauffindbar verschwunden). Blandiana geht bis über die Schmerzgrenze hinaus der Frage nach, woher dieser Hass kommt, die Lust am Bösen. Und das ist schwer auszuhalten. Die beschriebenen Manipulationsformen, die Techniken der Desinformation, die Psychologie und Methoden der Einschüchterung zur "Zersetzung des persönlichen Umfeldes" sind durch erlebte, teils wirklich skurrile Beispiele bis zu einem gewissen Grad spannend, auch unterhaltsam oder lehrreich.
Das erste Beispiel stammt aus Blandianas Kindheit. Als sie fünf oder sechs Jahre alt war, die Mutter zu Besuch bei ihrer Schwester und das Kind allein mit dem Vater, einem orhodoxen Pfarrer, gab es eine (natürlich überfallartige) Haussuchung der Securitate. Der Chef erklärte, man brauche einen Zeugen, und schickte einen Kollegen hinaus, um einen aufzutreiben. Der kam aber gleich wieder und forderte, Vater solle ihm das Tor öffnen. Der Vater staunte, denn das Tor hatte gar kein Schloss, ging aber mit hinaus und sagte dem Kind, es solle im Haus bleiben. Das Kind hatte aber Angst, mit den Fremden allein zu bleiben, und folgte dem Vater hinaus. Der Mann murmelte eine Entschuldigung, denn das Tor stand definitiv offen, ging hinaus und kam bald mit einem invaliden Nachbarn zurück, der nur Ungarisch sprach und kein Wort Rumänisch verstand. Die Leute der Securitate stellten vom Keller bis zum Dachboden das ganze Haus auf den Kopf, ohne etwas Blastendes zu finden. Der Anführer saß schon an den Küchentisch, zog Papiere aus seiner Aktentasche und erkärte, nun müsse man ein Protokoll aufsetzen. "Aber Chef", wandte der Jüngste unter ihnen ein, ein dunkelhäutiger Hänfling, unterwürfig und frech zugleich und im gleichen Maße, "die Schubladen des Schminktischs haben wir nicht kontrolliert." In der oberen befanden sich die Schmink- und Toilettenartikel der Mutter, in einer zweiten die Spielsachen des Kindes, vor allem Puppen. In der wurde nun eine Pistole "gefunden", die der freche Securitate-Jüngling dort deponiert hatte, als Vater und Tochter draußen am Tor waren, und der Invalide von der ungarischen Minderheit musste das Protokoll unterschreiben. Der Vater der Autorin wurde wegen illegalen Waffenbesitzes festgenommen und musste dafür jahrelang ins Gefängnis. "Monatelang, selbst nach Vaters Rückkehr, schreckte ich nachts schreiend und weinend auf, weil mich stets dieselbe Szene im Traum verfolgte, in der ich wusste, dass ich mit dem Geheimdienstlern im Haus bleiben muss, aber den Mut nicht hatte und schuldig wurde an dem, was in der Folge passieren sollte, wieder und wieder."
Offen und daher wirklich bedrückend bleibt auch für mich, woher das kommt, aus welcher Quelle das Gift fließt. Damit ist nicht nur die kommunistische Partei gemeint oder die Securitate und korrupte Beamte. Es ist die auch bei den "normalen" Bürgern allgegenwärtige Schadenfreude und Lust an der Denunziation, der Hass auf Intellektuelle ("die sollen erst mal lernen, richtig zu arbeiten"), die Bereitschaft zur Verbreitung übler Gerüchte, das Ausspähen von Nachbarn und anderen Formen der Mittäterschaft. Das betrifft nicht nur die Welt der Politik und Arbeitswelt, sondern auch und besonders den Literaturbetrieb mitsamt den Verbänden, Verlagen, Zeitungen, Zeitschriften, Akademien, Veranstaltungen und Kontrollbehörden.
Lange nach der "Wende", so schildert Blandiana, waren sie und ihr Mann auf der Suche nach einem Stück Blech für eine Reparatur am undichten Dach ihres Ferienhauses. Doch niemad hatte Blech, auch Handwerker und Dachdecker nicht. Ein "hilfreicher" Nachbar brachte das Paar zu jemandem, der angeblich helfen konnte: dem früheren Securitate-Chef des Kreises, der sich als Unternehmer mit einem ergaunerten Materiallager im Wald hinter Palisaden mit Alarmanlage und Überwachungskameras verschanzt hat. Er nennt seinen Namen nicht, stellt sich aber mit den Worten vor "Ich bin der ehemalige Chef der Securitate des Kreises. Prost!" Er bewirtet das Paar leutselig und redet freimütig über seinen Stolz, die berühmten Schriftsteller endlich persönlich kennen lernen zu dürfen.
Als die Autorin ihre Verblüffung überwunden hat, lobt sie bewundernd das schöne, gesunde Holz der "Umzäunung" und erwähnt, sie habe lange vergeblich nach einem Brett gesucht, um einen Zaun zu reparieren. "Das Holz habe ich von einem Kollegen aus der Bukowina bekommen", antwortete er ernsthaft, nachdem er sich vergewissert hatte, dass ich es nicht spöttisch gemeint hatte. "Derlei Probleme gibt es für uns nicht, denn wir sind untereinander vernetzt und es gibt keinen Bereich, in dem man nicht einen Kollegen findet,der bereit ist, einem zu helfen. Präsent waren und sind wir im ganzen Land, auch wenn wir jetzt zur Wirtschaft übergegangen sind, uns neu ausgerichtet haben. Auch wenn es die Institution nicht mehr gibt, das Netzwerk ist weiterhin funktionstüchtig."
So sind die Unsitten der durch und durch moralisch verrottetten, balkanisch (historisch gesehen orientalisch, nämlich durch die Invasion der Osmanen importiert) hinterhältig-gewalttätigen Ceaușescu-Diktatur nahtlos überführt worden in eine nicht weniger menschenverachtende postsozialistische Konsum- und Kapitalistengesellschaft. Der Übersetzer Georg Aescht schreibt dazu: "Das gewissenlose Personal von einst hat den Sprung von der ideologisch maskierten zur unverhohlen mafiosen Korruption nachgerade akrobatisch bewältigt."
Absurdes Theater im wirklichen Leben
Das absurde Theater bei seinem führenden Vertreter Eugène Ionesco ist bei Blandiana die brutale Realität der rumänischen Kontroll - und Securitate-Realität. Da sind Fälle von Zensur, Schikane und Manipulation beschrieben, die von Kafka sein könnten. Keine Phantasie kann so einen Irrsinn erfinden. Ionesco wusste natürlich davon durch Freunde und Kollegen, die ihn in seinem Pariser Exil besucht haben. Erstaunlich finde ich nur, dass man hierzulande auch Emil Cioran oder Mircea Eliade kennt, nicht aber Ana Blandiana, die doch weltweit bekannt und in 28 Sprachen übersetzt ist und zahlreiche Preise erhalten hat. Besonders groteske Formen nimmt die absurde Realität in einer langen Anekdote an, die Blandiana von einer Audienz bei Suzana Gadea, der Kulturministerin bzw. Vorsitzenden des Rates für Kultur und sozialistische Erziehung anlässlich der Einladung zur Verleihung des Herder-Preises in Wien im Jahr 1982 erzählt. Der Schriftstellerverband hatte rechtzeitig einen offiziellen Antrag auf ein Visum gestellt, das dafür erforderlich war. Das Ticket nach Wien und die bestätigte Hotelbuchung lagen seit Monaten vor, doch zwei Wochen vor der Verleihung gab es immer noch keine Antwort. Also bat Blandiana umgehend um eine Audienz, die Sache eilte, und erhielt einen Termin für eine Woche später.
Blandiana und Ehemann fanden sich zur festgesetzten Stunde ein und ein zurückhaltender "Kabinettschef" bat sie, Platz zu nehmen und zu warten. Beunruhigt, weil sie nicht wussten, ob er sie angemeldet hatte, fragten sie nach einer halben Stunde, ob die Genossin Minister wisse, das sie da seien. "Nein", gab er mit größter Selbstverständlichkeit zurück. Ich darf sie nur benachrichtigen, wenn sie mich ruft." Nach etwa drei Stunden ertönte eine Klingel, der Beamte nahm eine Mappe, richtete seine Krawatte, trat ein und kam nach wenigen Minuten zurück. "Ich habe es ihr gesagt", begegnete er unseren fragenden Blicken.
"Und?" - Sie wird mir mitteilen, wann ich Sie hineinführen soll. Die beiden dachten, das wäre nun eine Frage von Minuten. Weit gefehlt, es wurden noch einmal zwei Stunden. Irgendwann folgte die unvermeidliche Frage an den Beamten mit Blick auf die Tür: "Was macht sie eigentlich dort?"
Und der arme Kerl antwortet wahrheitsgemäß: "Was wird sie schon tun? Sie schläft, sie isst... Sie hat ja einen Kühlschrank, auch ein Sofa..."
Zwei weitere Stunden später (nach Dienstschluss) wurden sie in das Büro der Ministerin geführt, die säuselte: "Kommt, Kinder, kommt herein, ich wollte euch ja immer schon rufen, damit ihr mir erzählt, wie das war beim Erdbeben." Das große Erdbeben von Bukarest war fünf Jahre her. Und nach neun Stunden Wartezeit nun das? Blandiana platzt diplomatisch der Kragen.
"Wir haben gebeten, von Ihnen empfangen zu werden, und haben stundenlang im Vorzimmer gewartet, um Ihr Einverständnis zu einem Ausreisevisum zu erhalten, mit dem ich zur Teilnahme an der Verleihungszeremonie des Herder-Preises fahren möchte, dessen diesjährige Trägerin ich bin." ...
"Aber, aber, Genossin Blandiana, da sind Sie an der falschen Adresse. Ich habe nicht das Recht, Ihnen diese Genehmigung zu erteilen, ich habe hier die Parteibeschlüsse auszuführen, nicht selbst Beschlüsse zu fassen. Was wäre, wenn jeder nach Gutdünken Beschlüsse fassen würde? Wir sind nichts als disziplinierte Soldaten der Partei." ...
"Beim Passamt hat man uns aber gesagt, wir brauchen Ihr Einverständnis, es hängt von Ihnen ab ..." ...
"Von mir hängt es ab, ob ich Ihren Antrag nach oben weiterleite."
Ende der Audienz. Es war Freitag Abend. In der Überzeugung, das alles gelaufen war und aus der Reise nichts würde, fuhren Blandiana und ihr Mann in ihr Wochenendhaus auf dem Land. Als sie am Montag gegen Abend zurückkamen, läutete das Telefon Sturm, es war schon auf der Straße zu hören. Und als sie im Laufschritt die Treppen hochgerannt war und atemlos den Hörer abnahm, hörte sie:
"Genossin Blandiana, wo treiben Sie sich denn herum? Wir telefonieren Ihnen seit Tagen hinterher, und Sie gehen nicht einmal dran. Sie müssen schnellstens mit dem Genossen Rusan kommen und Ihre Pässe abholen. In zwei Tagen müssen Sie in Wien sein. Es geht um das Prestige von Rumänien."
Noch Fragen? Ich bitte um Nachsicht für dieses lange Zitat. Ich habe schon Zwischentexe ausgelassen; noch mehr zu kürzen, hätte die Anekdote zu sehr entstellt, die aber meines Erachtens wesentlich ist für die Art und Eigenart der rumänischen Bürokratie. Die ausführlich beschriebenen Beispiele stehen für zahlreiche weitere zwischen den Polen Kommunismus und Postkommunismus. Das Buch ist nicht streng chronologisch aufgebaut und in ersten Linie ein Erinnerungsbuch mit autobiographischen Zügen, ohne eine Autobiogreahie zu sein.
Ana Blandiana (Pseudonym von Otilia Valeria Coman) wurde 1942 im rumänischen Timisoara / Temeswar geboren, hat zahlreiche Lyrik-, Prosa und Essaybände, mehrere Kinderbücher und einen Roman veröffentlicht. Sie zeichnet sich durch eine außerordentliche Beobachtungsgabe aus und setzt sich abseits modischer Trends in unverwechselbarer Sprache besorgt, kritisch und leidenschaftlich mit dem Verlust von Freiheit auseinander. Für die rumänische Literatur hat sie eine vergleichbare Bedeutung wie Anna Achmatowa in Russland oder Václav Havel in der tschechischen Republik. Radikal verweigert sie sich grundsätzlich allen offiziellen Ämtern und Funktionen zugunsten ihrer Unabhängigkeit. Neben ihrer Lyrik und Prosa hat sie in den Wifren der Jahre nach dem Sturz Ceaușescus mit öffentlichen Auftritten und Initiativen versucht, den Aufbau einer neuen, freiheitlich-demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung zu fördern. Sie war Gründerin und treibende Kraft des überparteilichen Bündnisses "Bürgerallianz". Gemeinsam mit ihrem Mann Romulus Rusan hat sie unter der Schirmherrschaft des Europarates in einem ehemaligen stalinistischen Gefängnis die Gedenkstätte Memorial Sighet geschaffen.
Deutsche Leser stoßen in diesem grandiosen Buch gewiss manchmal an Verständnisgrenzen, die dem Übersetzer nicht gesetzt sind. Georg Aescht wurde selbst 1953 im rumänischen Zeiden/Codlea (Siebenbürgen) geboren, studierte Germanistik in Klausenburg und war zunächst dort Deutschlehrer. Nach seiner Ausreise 1984 war er Korrektor einer Setzerei in Bonn, Redakteur bei der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat und arbeitete neben seiner Übersetzertätigkeit als Literaturkritiker und beim Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas in München.
Auch die Namen des politischen und literarischen Personals in diesem Buch sind für deutsche Leser nicht immer einzuordnen, gelegentliche Eitelkeiten oder sprachliche Umständlichkeiten sind bedeutungslos. Weniger nachvollziehbar ist aus philosophischer Sicht manchmal ein sehr weit gefasster Begriff dessen, was die Autorin unter Manipulation versteht. Sie spricht teilweise von Selbstmanipulation, wo andere eher Lernprozesse oder legitime Anpassungen und praktische Kompromisse sehen. Jede Zusammenarbeit mit anderen zugunsten einer künstlerischen Einsamkeit als Manipulation abzulehnen, geht meines Erachtens zu weit. Zieht man jedoch alle potenziell fragwürdigen Beispiele ab, bleibt eine überwältigende Zahl massiver Fälle unbesteitbarer Manipulation übrig.