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Freitag, 5. Juni 2015

Abgeklärte Alterslyrik

SWR2 Buchkritik
Michael Krüger: „Ins Reine“. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin. 110 Seiten, 16 €

Wenn ich mich nicht verzählt habe, ist „Ins Reine“ der 16. Gedichtband von Michael Krüger. Der gelernte Verlagsbuchhändler aus Berlin arbeitete seit 1968 als Verleger bei Hanser in München und hatte am 9. Dezember 2010 seinen 67. Geburtstag. Da darf man ein Alterswerk vorlegen. Das fällt allerdings ziemlich frisch und frech aus, wie in „Tagesschau“:

Deutschland hat sein Geld verloren,
und wir sollen es, sagt der Sprecher,
wieder herbeischaffen, wenn auch
in drei Generationen. Außerdem
geht die Sonne unter um 19 Uhr 7.
Mord und Totschlag auf allen
fünf Erdteilen, die älteste Japanerin
hat sich vom Acker gemacht
und die ganze Welt mitgenommen.
Um 19 Uhr 10 ist es stockdunkel.
Der Autor beobachtet scharf, aktuell und genau. Und dann zieht er seine Schlüsse. Wie hier moralische, jahreszeitliche und ökonomische Finsternis in einem einzigen Bild beschrieben sind, das ist seit Jahrzehnten für Krüger-Gedichte typisch. Krüger war immer Zeuge, Weltbeobachter, auch in Naturgedichten. Da schwimmt die Zeit achtlos, da gibt es schludrige Wolken, und vor Gewittern ist das Wasser erregt und streitsüchtig. Die entlaubten Weinberge bei Tübingen sind eine „Takelage der Reben“, heißt es in einem Text für Georg Braungart. Michael Krüger lässt nicht einfach die Natur dichten, er kennt ihre Sprache und kann die dann übersetzen ins Menschenmaß. Da arbeitet etwas weiter beim Lesen oder Hören.

Lebensmüd arbeitet vor mir
das Holz vom vergangenen Jahr.
Wie totgeschlagen die Zeit,
wie geschwollen die Sprache.
Es mag Ihnen seltsam vorkommen,
aber auch Krähen haben ein Herz.
Das ist, in wenigen Worten,
die wahre Geschichte meines Lebens.
Da präsentiert sich eine schlichte, aber kraftvolle, weil genaue Sprache in natürlichen Rhythmen freier Verse, aber ohne Fisimatenten wie radikale Kleinschreibung oder den ach so modernen Verzicht auf Satzzeichen. Krüger hat es nicht nötig, durch die Verletzung von Spielregeln Aufmerksamkeit zu erschleichen. Er beherrscht sein Handwerk und macht kein Gewese darum.
Mit seinen Gedanken, seinen Wahrnehmungen und seiner Metaphernwelt ist es ähnlich. In diesen Gedichten begegnet dem Leser eine kleine Welt, eine äußerlich überschaubare und innerlich sehr weite Welt. Diese Welt scheint darauf zu bestehen, in ihrer Besonderheit wahrgenommen zu werden. Der Dichter bringt sie zur Sprache, wie sie ist. Vielleicht ist dies das Magische an der Poesie, eine Art drittes Auge, mit dem man hinter die Dinge blicken kann. So im Titelgedicht „Ins Reine“.

Ich sehe das, was ich nicht mehr bin,
aber ich sehe nicht mich.
Ein Apfel rollt vom Tisch
und bricht, wie Wörter brechen,
wenn man sie lang nicht benutzt.
Überlaß es den Vögeln, das Gekrakel
ins Reine zu schreiben, auf sie ist
Verlaß.
Ganz gelegentlich kommen ein paar dieser Verse ein bisschen breitbeinig oder dicke daher. Das haben auch Sprüche von Altpolitikern wie Helmut Schmidt oder Heiner Geißler so an sich. Es ist ziemlich oft vom Tod die Rede, und der ist eben ab einem bestimmten Alter ziemlich nah, zumindest im Bewusstsein. Krähen, Friedhöfe, der Westfälische Friede, der Spätsommer gehören zu diesem Vokabular bzw. Bildrepertoire. Da wird die eigene Poetik noch einmal bescheiden zusammengefasst als „Antworten der Dinge“. Gelegentlich hört man „aus den Klöstern der Nacht unklare Stimmen“, da geht es um Stilleben, unser finsteres Zeitalter, eine kleine Kirche oder Gnade.

Das Wort Gnade ging
von Satz zu Satz und bat
vergeblich um Einlaß.
Gröbere und härtere Wörter
hatten die Stühle besetzt
und führten ein Stück auf,
das Wirklichkeit hieß,
eine Tragödie, ohne Pause
und mit großem Erfolg.
Ein Stück über einsame Wörter.

Das ist ein Alterswerk ohne jede Larmoyanz: ein bisschen pessimistisch, ein bisschen schalkhaft, auf unaufdringliche Art weise und durchweht von melancholischen, doch keineswegs depressiven Todes- und Abschiedsgedanken. So abgeklärt möchte man abtreten dürfen. Aber vielleicht schreibt er ja weiter.

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