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Freitag, 12. Dezember 2025

Rising Star: Stuttgarter Eigengewächs beim Staatsorchester

Mira Foron (Foto: Veit  Mette)

Mira Foron ist ein begnadeter und fröhlicher Rotschopf von  23 Jahren aus Stuttgart. In der Spielzeit 2023/24 debütierte sie beim Staatsorchester mit dem Violinkonzert Nr. 1 von Dmitrij Schostakowitsch, und am 7. Dezember 2025 kehrte sie zum Jubel des Publikums zurück. Diesmal mit dem Violinkonzert D-Dur von Peter Tschaikowsky (1840 - 1893), dem einzigen des großen russischen Komponisten, das aber zu den bekanntesten und meist gespielten Violinkonzerten der Welt gehört. Nicht zufällig erinnert es in Schwierigkeitsgrad, Tonart und Stimmung an das Violinkonzert Nr. 1 D-Dur von Niccolo Paganini, zu dem die Solistin ebenfalls ein besonderes Verhältnis hat (Sie spielte als Zugabe Paganinis Capriccio Nr. 15). Das Violinkonzert Tschaikoswskys ist ein Mount Everest für alle Geiger, und Mira Foron nahm diese Herausforderung nicht nur an, sie bewältigte die Herkulesaufgabe mit Bravour. Sie ritt den Tiger und erreichte schon im Kopfsatz (Allegro moderato) eine souveräne Balance zwischen Schönklang, Ausdruck und Virtuosität. Die elegische Innerlichkeit des zweiten Satzes (Canzonetta. Andante) entfaltet sich, ist die Herausforderung des Technischen und Sich-Durchsetzens gegen das Orchester erst einmal bewältigt, berührend zart und melodisch. Das furiose Finale des dritten Satzes (Allegro vivacissimo) dirigierte Generalmusikdirektor Cornelius Meister wie erwartet sehr effektvoll, und die Solistin warf sich temperamentvoll in diesen Dialog. Geradezu tiefenentspannt bewältigte sie mit traumwandlerischer Sicherheit die rasanten Läufe und haarigen Doppelgriffe dieser musikalischen Wildwasserfahrt. Minutenlange Standing Ovations und Bravo-Rufe waren der Lohn. Hier durfte man das Gefühl haben, den Aufstieg eines neuen Sterns an einem Himmel voller Geigen zu erleben. Das Stuttgarter Eigengewächs Mira Foron hat schon viel Konzerterfahrung und wird die Welt erobern, aber zu Hause immer willkommen sein.

"Final(ment)e. Beziehungsweisen für zwei Trompeten und Orchester" (2021) heißt das nachfolgende Stück des Schweizers David Philip Hefti (*1975). Die Solisten Lennard Czakaj und Alexander Kirn spielten sich von den Seitenwänden des Beethovensaals aus über die Köpfe der Zuhörer hinweg mit Flügelhörnern, C-Trompeten und einer Piccolo-Trompete kurze Motive zu und erzeugte in einer großen Bandbreite von Klangfarben und die räumliche Distanz (auch vom Orchester auf der Bühne) Nachhall-Effekte und eine gezielt erzeugte Unschärfe im dialogischen Zusammenspiel. Tastende Suchbewegungen über 16 Minuten.

Cornelius Meister Foto: Matthias Baus

Nach der Pause dirigierte Cornelius Meister zehn der 21 "Ungarischen Tänze" von Johannes Brahms (1833 - 1897) in der Fassung für Orchester. Tschaikowsky und Brahms zählen beide zu den bedeutendsten Komponisten der Romantik und kannten sich auch persönlich. So unterschiedlich sie auch waren, sie verstanden sich prächtig. Sie begegneten sich zum ersten Mal am Heiligabend 1887 beim Essen im Haus des Geigers Adolph Brodsky, damals Konzertmeister des Gewandhausorchesters in Leipzig, der später als Solist die Uraufführung des Violinkonzerts spielen sollte. Anna Brodsky, die Ehefrau des Gastgebers, schildert in ihren Memoiren diese Begegnung auf amüsante Weise und wurde dankenswerterweise im Programmheft zitiert.

Cornelius Meister dirigierte die Orchesterfassung der Ungarischen Tänze, mit denen dem Pianisten Brahms der Durchbruch beim breiten Publikum gelang, mit viel Temperament und großer Gestik. Der satte, weiche Streicherklang kam manchmal etwas übertrieben daher - vielleicht, weil Meister, seit seiner Jugend selbst Pianist und erst seit 1997 zusätzlich Dirigent, den Eindruck vermeiden wollte, dem Pianisten Brahms zu viel Raum zu lassen. Brahms hatte nämlich als junger Pianist den ungarischen Violinvirtuosen Eduard Reményi auf einer Deutschland-Tournee begleitet und dabei die charakteristischen Melodien, Harmonien und Rhythmen der populären ungarischen Volksmusik kennen gelernt, mit denen Reményi seine Konzerte gern anreicherte. Das war allerdings schon eine Form der Kunstmusik, die Caféhausmusik der Roma, die Brahms sehr faszinierte. Folglich waren die Csárdás-Tänze, die Brahms 1869 und 1880 aufschrieb, zunächst eigentlich nur Klaviersätze. Brahms verstand sich hier bewusst nicht so sehr als Komponist, sondern eher als Arrangeur von Volksmusik. Diese Bescheidenheit ehrt den Meister. Dem Publikum war´s egal. Die Leute feierten ihren Generalmusikdirektor in seiner letzten Spielzeit. Meister, geboren 1980 in Hannover, leitet seit 2018 Staatsoper und Staatsorchester in Stuttgart. Davor war er von 2010 bis 2018 Chefdirigent des ORF-Radio-Symphonieorchesters in Wien.


Donnerstag, 4. Dezember 2025

Zeitweilige Distanz in Nahaufnahme: Gedichte aus dem Krieg

Oksana Maksymchuk: "Tagebuch einer Invasion". Gedichte. Edition Lyrik bei Hanser,  München. 112 Seiten, 24  €. Deutsch von Matthias Kniep. Mit einem Nachwort von Ilya Kaminsky

Oxana Maksymchuk 
© Natalya Mykhailychenko

Noch nie habe ich Gedichte gelesen, die so nah am Krieg waren. Es sind keine Gedichte über den Krieg, es sind Gedichte aus dem Krieg. Dabei hat die Autorin weder im Schützengraben noch im Luftschutzkeller gesessen. Aber sie hat die russische Invasion im Kopf und im Herzen wie MiIlionen ihrer Landsleute, permanent. Wie kann man da noch Gedichte schreiben?

Meine Cousine schreibt
sie sei in einem Keller
mit ihrer einjährigen Tochter
ihr Mann eingezogen
...
Das Baby, früher war es verängstigt
durch Eplosionen 
jetzt singt sie es 
in den Schlaf 
...
Unsere Stadt, sie mag aussehen wie ein
Haufen Schutt,
aber sie besteht aus demselben Stoff                                                            nur die Form hat sich verändert 

Das Buch strahlt eine unterkühlte Hellsichtigkeit aus, ist auf eine gespenstische Weise distanziert und wohl gerade deshalb von geradezu durchdringender Konzentration. In der unerbittlichen Präzision und Genauigkeit der Gedichte liegen nicht nur Angst und Grauen offen, sondern auch das Gegengift: Widerstandsfähigkeit. Immer wieder zeigt sich eine Resilienz, die das Buch zu einem Leitfaden für seelisches Überleben macht. Die Natur bleibt ungerührt immer die Natur.

Keine Brücke mehr jetzt 
aber der Fluss
fließt wie zuvor 
...
er weint nicht
wenn er die Leichen wiegt
und mit den Überresten spielt
...
neutral
wie der Fluss eines Gedichts
...
reflektiert alles
ändert nichts 
 

Oksana Maksymchuk wurde 1982 in Lviv/Lemberg in der Ukraine geboren. 1997 zog sie mit ihrer Mutter nach Illinois/USA. Als promovierte Philosophin kehrte sie in ihre Heimatstadt Liv zurück, befand sich jedoch bei Kriegsausbruch im Februar 2022 mit ihrem Sohn auf einer Reise in Ungarn und lebt seitdem im Exil. Die zweisprachige Dichterin ist Autorin mehrerer Gedichtbände in ukrainischer Sprache sowie Mitherausgeberin der Anthologie "Words for War: New Poems from Ukraine".

Bilder dieser zeitweiligen Distanz in Nahaufnahme zeigen zuerst ein extremes Bemühen um Sachlichkit, Objektivität, (einen "kühlen Kopf", wenn man so will). Das Buch entstand zudem in englischer Sprache, weil, so Maksymchuk in einem Interview mit Sasha Dugale für PN Review, das Englische ihr die "Illusion einer zeitweiligen Distanzierung" gegeben habe, die es ihr erlaubte, mit "einer freieren, ausgeglicheneren Stimme" zu sprechen. Eine zusätzliche Ebene der Distanzierung entsteht noch durch die Übersetzung ins Deutsche. Leser dieser Texte sollten aber nie vergessen, dass die Dichterin auch eine gelernte Philosophin ist. 

Ich kenne aus eigener Erfahrung die Macht der Versuchung, aus einem Gedicht immer dann, wenn es besonders wichtig wird, einen Essay zu machen. Und ich verdanke Johannes Poethen die mitunter schmerzvolle Lehre: Mach kein Gedicht zum Essay, das geht schief. Da hilft nur, gnadenlos zu streichen und zu kürzen (manchmal). Das Gedicht "Ordnungen der Dringlichkeit" ist für mich zum einen die hohe Schule dieser Vermeidungslehre und zum anderen ein grandioses Plädoyer für ein poetisches Dennoch, das zu einem Akt des Überlebens und Widerstandes wird:

Vor allem anderen 
ist die Welt zuerst ein Gedicht,
das sich aus einer Öffnung heraus entfaltet 
...
Liebe ist alt wie die Zwietracht,
letzte Ursachen sind auch erste 
Sein geht aller Zeit voraus - 
also erst Ontologie,
dann Temporalität
 
Und das Gedicht, das ich verfasse 
vor deinen Augen
in genau diesem Augenblick
 
(ausgeklammert das Geräusch
meines schwergehende Atems 
während die Luftschutzsirene heult) 
 
ja, 
es ist, für einen Moment nur, dem letzten
in der Abfolge der Dinge,
 
die entstehen, 
ihren Höhepunkt erreichen, vergehen, 
sich widersetzen dem Vergessen 
 

Ansingen gegen das Vergessen: die vornehmste Aufgabe der Literatur. Das ist die reine Selbstbehauptung und Selbstermächtigung gegen Angst, Tod und Zerstörung, letztlich etwas Unzerstörbares und der Grund, warum Diktatoren Poesie und Poeten fürchten und verfolgen.