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Dienstag, 5. August 2025

Aufbau Literaturkalender: Ein Klassiker im Wandel

52 Wochenblätter aus dem Aufbau Verlag, Prinzenstraße 85 in 10969 Berlin, herausgegeben von Thomas Böhm und Catrin Polojachtof, 24 € 

Diesen literarischen Wegbegleiter durchs Jahr habe ich seit Jahrzehnten über dem Schreibtisch hängen (oder in der Nähe). Es gibt ihn seit 1966, da war ich noch kein Kritiker, sondern ein lausiger Gymnasiast mit Schwierigkeiten in Mathe und Griechisch in Bonn. Die jetzige Ausgabe ist also der Jahrgang 59. Das Interesse für DDR-Literatur, geweckt durch ein Germanistik-Studium, intensivierte sich durch die Heirat mit einer Magdeburgerin, deren Schulfreund aus Wendgräben, Verwandtschaftsbesuche und Urlaubsreisen. Beliebte Geschenke waren damals mangels Alternativen Spreewaldgurken, weihnachtliche Lichterdeko aus dem Erzgebirge - und Bücher. Am Ende eines jeden DDR-Besuchs stand der Besuch einer großen Buchhandlung, denn für uns gab es mit Ostmark nichts Besseres zu kaufen als Bücher. Vielleicht bin ich schon auf diese Weise als frisch verheirateter Journalist zu meinem ersten Aufbau Literaturkalender gekommen. Endgültig brachen jedoch goldene Zeiten für mich als literarischen Mauerspecht an, als sich die ersten Redakteure bei Zeitungen und Hörfunk für meine Quellen interessierten. Die meisten dieser Redakteure kannten die aktuell wichtigen DDR-Autoren und Neuerscheinungen nicht und hatten keine Zeit für die Pflege entsprechender Kontakte. Nun konnte ich einfach um regelmäßige Verlagsprospekte bitten und und bestellen, was mich interessierte. Spätestens damals, Anfang der achtziger Jahre, muss mir der erste Aufbau-Literaturkalender in die Hände gefallen sein.
Die selbstgestellte Aufgabe damals und heute, zum 80. Geburtstag des Verlages: "Dichterinnen und Dichter aus allen Zeiten und Himmelsrichtungen sollen Woche für Woche altbekannte Begleiter oder Überraschungsgäste sein, Jubilare mit ihren runden Geburts- und Sterbetagen werden bedacht, dazu gibt es Bilder aus ungewöhnlicher Sicht, biographische Ergänzungen und in den Zeitläuften längst gedachte Gedanken von brennender Aktualität. Das ständig aktualisierte Verzeichnis der Geburts- und Sterbedaten enthält über 5.000 Einträge". Stimmt alles, auch wenn ich da und dort einen Tropfen Wasser in den süßen Wein der Selbstbeweihräucherung gießen möchte. 

Da ist vor allem die Systematik. Kann sein, dass mich die eigene Erinnerung täuscht, aber darin kommt der Aufbau Literaturkalender als Abreiß-Lexikon der literarischen Welt vor, in dem es zu jedem Autor, jeder Autorin eine Kürzest-Biographie gab (Geboren, gestorben, Geburtsort und -Land). Weiß der Henker, wann und warum diese (mir kostbare und für lebende Schriftsteller wichtige) Systematik aufgegeben wurde oder verloren gegangen ist. Völlig überflüssigerweise übrigens, denn bis heute kaufen die Leute den Kalender nicht als literarisches Kreuzworträtsel, sondern als Informationsquelle mit Unterhatungswert. Bei WIKIPEDIA finden sich im Zweifelsfall die vernachlässigten Daten sowieso. Warum also diese Schluderei? 

Tröstlich ist dennoch allemal, dass auch die Schluderei unsystematisch bleibt: Einmal fehlen die Daten komplett, ein andermal teilweise, mal sind sie wunderschön eingebettet in eine bibliphile Kostbarkeit (z.B.bei Johann Peter Hebel, dem badischen Erfinder der Kalendergeschichten), ein historisches Faksimile (etwa bei der Marlitt alias Friederike Henriette Christiane Eugenie John aus Thüringen, der ersten deutschen Bestsellerautorin) oder Graphiken alter Briefmarken (bei James Fenimore Cooper, dem bekannten und meistens verkannten Autor des "Lederstrumpf"). Manchmal ist die Auswahl nachvollziehbar, manchmal nicht, manche Berühmtheit erklärt sich von selbst, andere nicht, das ist das Vorrecht der Herausgeber. Manche der stets abgedruckten Werkproben sind typisch, aussagekräftig oder schön, manche wirken beliebig. Doch immer gibt es Überraschungen, Vielfalt und ein Stück Literaturgeschichte, die übrigens auch zu DDR-Zeiten niemals nur eine des Ostblocks war. Diese Offenheit, Neugier und Toleranz gehörte wohl immer zur DNA des Verlags und seiner diversen Töchter.

 "1945 in Berlin gegründet, entstand Aufbau aus der Vision heraus, dass Bücher helfen können, die Welt zu verändern – damit sich Katastrophen wie der Zweite Weltkrieg nie wiederholen", heißt es in einer Pressemitteilung des Hauses am Moritzplatz zum Jubiläum. Und: "Werte wie Humanismus, kritische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und der Anspruch, mit Literatur etwas in Bewegung zu setzen, prägen die Aufbau Verlage bis heute". Der Literaturkalender war immer faktenbasiert und nie ideologisch, Trumps "alternative Fakten" gab es noch nicht und sie spielen auch in Kalendern bis jetzt keine Rolle.

Alles verändert sich, auch der Aufbau Literaturkalender, ein Klassiker im Wandel der Zeit. Über acht Jahrzehnte hinweg hat sich der Verlag immer wieder verändert und dennoch seine Haltung bewahrt: die sachliche Orientierung an Fakten. 

 



 

Freitag, 18. Juli 2025

Muzi Li im "Haus der Musik": Musikalische Weltreise in Stuttgart

Muzi Li beim Schlussapplaus

 Am 18. Juli spielte die chinesische Pianistin Muzi Li in der Konzerteihe "Musik Pause" im Fruchtkasten am Stuttgarter Schillerplatz. Salzburg, Berlin, Venedig, Neapel, Madrid: Erst 27 Jahre alt und ausgebildet an der Musikhochschule Hanns Eisler Berlin, an der Universität der Künste Berlin und aktuell im Konzertexamen der Musikhochschule Stuttgart in der Meisterklasse von Florian Wiek, ist sie bereits überall auf der Welt zu Hause, hat zahlreiche Wettbewerbe gewonnen und Konzerte in 18 Ländern auf fünf Kontinenten gegeben. Kritiker haben die junge Frau als "Rising Star" in den höchsten Tönen gelobt, doch bis jetzt ist sie bescheiden und nahbar geblieben. Sie war schon einmal im Fruchtkasten zu Gast, der Konzertsaal platzte aus allen Nähten und sie hatte eine hörbare Fangemeinde aus der Musikhochschule mitgebracht, die zusammen mit dem Landesmuseum die Konzertreihe  veranstaltet.

Hoch konzentriert spielte sie die ursprünglich für Cembalo komponierte Sonate in A-Dur K. 301 von Domenico Scarlatti (1685 - 1757), eher eine einsätzige, doch anspruchsvolle Fingerübung zum Aufwärmen. Es fogte die Sonate in A-Dur Nr 28 op 101 in vier Sätzen von Ludwig van Beethoven (1770 - 1827). Der erste Satz "Etwas lebhaft und mit der innigsten Empfindung", der zweite "lebhaft und marschmäßig", der dritte "langsam und sehnsuchtsvoll" und der vierte "geschwind, doch nicht zu sehr, und mit Entschlossenheit" (was immer das auch heißen mag, denn das Klavier ist kein Instrument für Unentschlossene). Die Interpretation war empathisch, die Spieltechnik kraftvoll und zugleich empfindsam, die Intonation perfekt, der Gesamteindruck brilliant.

Charmant bedankte sich Muzi in fließendem Deutsch beim zahlreichen Publikum für den langen Applaus und die Bravo-Rufe. Und dann - durchaus ungewöhnlich in der durchgetakteten Reihe dieser kleinen Konzerte, gab sie eine fulminante Zugabe: Die "Spanische Rhapsodie" von Franz-Liszt. Der österreich-ungarische Komponist und Starpianist schrieb das kurze Stück für Klavier Solo 1858, inspiriert von einer Tournee im Jahr 1845 durch Spanien und Portugal. Wunderbare Musik und schwer zu spielen, aber was der Komponist und viele Kritiker als "charmante Elemente der spanischen Folklore" bezeichnet haben, ist ziemlicher Unsinn. Wer Ohren zu hören hat, erkennt die alpinen Ländler-Motive aus Österreich sofort. Die Volkstänze "Folia" und "Jota Aragonese" dagegen sind in anderen Gehörgängen zu Hause. Aber was soll´s: Wenn man so viel auf Tourneereisen unterwegs ist wie Liszt, kann einem schon mal etwas die Erinnerung verrutschen. Muzi Li kann nichts dafür, und den Zuhörern war´s egal. Da Capo!

 

 

Freitag, 11. Juli 2025

Reife Leistung: Demian Martin als Impro-Pianist im Haus der Musik

Der Pianist Demian Martin
Am 1. Juli spielte der Stuttgarter Pianist Demian Martin im der kleinen, aber feinen Konzertreihe "Musik Pause" im Haus der Musik am Stuttgarter Schillerplatz. Der 27jährige klassisch ausgebildete Pianist und Kirchenorganist studiert derzeit in der Meisterklasse von Noam Sivan, der an der Musikhochschule Stuttgart eine Professur für das seltene Spezialfach "Künstlerische Klavier-Improvisation" hat und ihm auch ermöglichte, im Rahmen des Erasmus-Förderprogramms ein Jahr lang die Improvisationsklasse eines legendären Kollegen zu besuchen: Jean-Francois Zygel vom Conservatoire de Paris. Und als ob das nicht genug der Ausbildung wäre, hat der vielseitig begabte Martin noch ein Projektstudium für Filmmusik und Sounddesign an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg absolviert.

Das Ergebnis konnte sich hören lassen: Improvisation auf Zurufe aus dem Publikum ("Nennen Sie mir drei Töne, und ich improvisiere dann etwas dazu"). Oft sind auch Genre, Stilrichtung und Thema frei wählbar, aber dafür reichte diesmal die Zeit nicht. Diese Form der improvisierten Musik stammt aus dem Theater ("Impro-Theater" oder "Theatersport" haben da Pate gestanden). Eine "Hochschule für Musik und Darstellende Kunst" wie die in Stuttgart ist sicher prädestiniert dafür. Aber eigentlich ist improvisierte Musik, vom Jazz bis zum Volkslied, schon seit Jahrtausenden da: eine Musik des Augenblicks, einmalig und ohne Noten, wiederholbar höchstens in Teilen und durch vielmaliges Hören und Auswendiglernen. Demian Martin konzertiert oft auch mit seinem Bruder Lionel, der Cello spielt und schon vor Jahren als SWR New Talent gefördert wurde.

Was hat Demian Martin denn nun gespielt? - Improvisationen mit Phantasietiteln wie "Drei Sarkasmen inspiriert von Sergej Prokofjeff", die nur eine Richtung weisen und an denen eben durch die Tonvorgaben auch das Publikum beteiligt war: "Die herrenlose Pferdefliege", "Der verbotene Regenschirm" und "Die weggelaufene Nase". Sergej Prokowjeff (1891 - 1953) litt unter dem real existierenden Sozialismus und schrieb daher eine eher böse, sarkastische Musik bis auf das populäre Märchenstück "Peter und der Wolf". Ein Geistesverwandter dürfte der futuristisch-absurde Lyriker und Kinderbuchautor Daniil Charms gewesen sein (1906 - 1942). In den Jahren 1925 bis 1939 trat er häufig bei Life-Lesungen auf, weil seine Gedichte unter Stalin nicht gedruckt werden durften. 1941 wurde er verhaftet, und während der Belagerung von Leningrad ließ man ihn wohl 1942 im Gefängnis einfach verhungern.

Nach den von Prokofjeff inspirierten Improvisationen folgten die Titel "Wasser", "Luft", "Feuer" und "Erde" als Charakterstücke nach den "Vier Elementen" im Stil von Maurice Ravel (1875 - 1937). Der neben Claude Debussy bedeutendste französische Impressionist schrieb viele Naturstücke. Sein bekanntestes Werk ist der Boléro".

Demian Martin wurde 1998 in einer Stuttgarter Musikerfamilie geboren. Er improvisiert und komponiert, seit er als Sechsjähriger mit dem Klavierspielen anfing. Heute gehört die Improvisation auf Zuruf ebenso selbstverständlich zu seinen Auftritten wie Konzertmoderationen und kabarettistische Formate. Sehr amüsant das Ganze. Das fand nicht nur der Künster selbst, sondern auch eine Schulklasse des (naturwissenschaftlichen!) Lise-Meitner-Gymnasiums aus Böblingen oder reifere Semester wie der Schreiber dieser Zeilen. Die technische Brillianz des Pianisten Martin war nicht weniger beeindruckend wie sein stilistisches Einfühlungsvermögen, seine wache Reaktion auf das Publikum und sein musikpädagogisches Talent. So sollte Musikunterricht aussehen! Der Mann hatte erkennbar Spaß an seiner Arbeit, und entsprechend begeistert war dann auch der Applaus.

Samstag, 5. Juli 2025

Miyu Matsumoto interpretiert Schubert meisterhaft

Miyu Matsumoto
An diesem Wochenende war schon vor Beginn viel los. Doch trotz der populären Jazz Open auch auf dem nahe gelegenen Stuttgarter Schlossplatz war der Fruchtkasten neben der Stiftskirche zur Musik Pause um 12.30 Uhr rappelvoll. Die Japanerin Miyu Matsumoto spielte auf dem historischen Schiedmayer-Konzertflügel aus den goldenen Zeiten der Stuttgarter Klavierbauindustrie Werke von Olivier Messiaen (1908 - 1992) und Robert Schumann (1810 - 1856). Zu hören waren aus den Preludes von Messiaen Nr. I "La Colombe" (Die Taube) und Nr. III "Le Nombre léger" (Die leichte Zahl). Es folgte Schumanns Klaviersonate Nr. 2 g-Moll, ein Meisterwerk der Romantik in einer wahrhaft meisterhaften Interpretation.

War die nach Angaben des Komponisten "natürliche" Klangfarbenmalerei noch eine angemessen kurze Fingerübung aus der Feder des zeitgenössischen Komponisten aus dem französischen Avignon, so wurde sie doch von Matsumoto nicht als gering abgetan. Sie zeigte schon hier viel Fingerspitzengefühl für Rhythmik und Klangfarben sowie absolute technische Präzision. Seine Klaviersonate g-Moll hat Robert Schumann selbst einmal ein "ziemlich wildes Stück" genannt. Doch die an Bach geschulte Meisterschülerin von Florian Wiek von der Stuttgarter Musikhochschule ritt diesen Tiger mit Bravour. Schon das Tempo-Notat zum ersten Satz ist ungewöhnlich ("So rasch wie möglich"). Es folgten ein getragener, kurzer zweiter Satz ("Andantino"), ein Scherzo im dritten Satz (Sehr rasch und markiert") und ein furioses Rondo zum Abgang im vierten Satz ("Presto"). Ein souveräner Vortrag, begeisterter Applaus.

Miyu Matsumoto wurde 2005 in Japan geboren und debütierte schon als Schülerin mit dem Klavierkonzert Nr. 1 von Johann Sebastian Bach. 2023 war sie Organistin in einer Kirche in Nara (Japan) und nahm an dem dem Meisterkurs "Virtuoso & Belcanto" in Lucca teil, wo sie u.a. Unterricht bei Peter Nagy, Till Fellner und Riccardo Cecchetti erhielt. 2024 spielte sie ein Klavierkonzert als Solistin in Kyoto und erhielt ein Stipendium bei der Internationalen Sommerakademie Radolfzell. Seit März 2025 studiert sie bei Professor Florian Wiek und erhielt im April den Platinum Award der Brahms International Online Competition. Ich glaube, von dieser Pianistin werden wir noch öfter hören.
 

 

 

 


 

 

 

Samstag, 21. Juni 2025

Hochbegabt: Julia Schwalbe im Stuttgarter Fruchtkasten

Pianistin Julia Schwalbe mit dem begeisterten Autor
Am 20. Juni spielte die Pianistin Julia Schwalbe im Alten Fruchtkasten am Schillerplatz Meisterwerke in Moll: Präludium und Fuge e-Moll aus dem Wohltemperierten Klavier BWV 879 von Johann Sebastian Bach (1685 - 1750) und die Klaviersonate a-Moll D 784 von Franz Schubert (1797 - 828). Die mehrfache Preisträgerin bei "Jugend musiziert" wurde 2002 in Karlsruhe geboren und bekam seit dem achten Lebensjahr Klavierunterricht. Bereits mit zehn Jahren erhielt sie das erste Hochbegabtenstipendium, 2016 trat sie beim Europäischen Konzert in Helsinki auf, und 2018 debütierte sie als Solistin mit Orchester beim Klavierfest

des Piano-Podiums der Musikhochschule Karlsruhe. Seit 2021 studiert Julia Schwalbe an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, und seit 2024 setzt sie ihren Bachelor aus der Meisterklasse von Franziska Lee von der Musikhochschule Stuttgart fort. Sie spielte auswendig und technisch perfekt. Ihre Interpretation war kraftvoll und einfühlsam. Auch jenseits der mathematischen Präzision Bachs konnte ihre virtuose, stilsichere Umsetzung des intensiven melancholischen Gefühlsausdrucks bei Schubert auch die versierten Zuhörer überzeugen, von denen einige sogar die Noten mitlasen. Der Lohn war lang anhaltender Beifall.

Obwohl Spitzenmusiker wie Spitzensportler in den letzten Jahren immer jünger werden, ist Julia Schwalbe schon eine erfolgreiche Konzertpianistin. Um ihnen frühzeitig noch mehr praktische Erfahrungen zu ermöglichen, hat die Musikhochschule zusammen mit dem Landesmuseum Württemberg im Fruchtkasten am Schillerplatz die kleine, aber feine Konzertreihe Musikpause eingerichtet, in der Dozenten und Teilnehmerinnen der Meisterklassen zu hören sind. In der stilvollen Umgebung der Musikinstrumentensammlung gibt es jeden Freitag von 12.30 bis 13 Uhr preiswerte klassische Musik und viele Kontakte mit dem interessierten Publikum aus allen Altersgruppen.


 

Sprachmächtiger Spagat zwischen Krimi, Heimatroman und Psychothriller

Uta Maria Heim: "Wem sonst als Dir", Roman, Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen, 263 Seiten, 20 €

Diesen Roman gibt es schon seit 2013, da waren die Autorin und ich noch Kollegen bei SWR2 (sie beim Mundart-Hörspiel, ich in der Redaktion von Kultur aktuell) und ich befürchtete im Fall der vom Verlag erwünschten Rezension einen Interessenkonflikt. Ich habe das Buch damals nicht einmal gelesen, was aber daran lag, dass ich pflichtgemäß definitiv viel anderes zu besprechen hatte. Nun habe ich die Lektüre nachgeholt, und nach den mühsamen, gewöhnungsbedürftigen ersten 30 Seiten war ich begeistert, und eine Überraschung jagte die nächste. 

Was war so schwierig? - Das fing und fängt an mit der Wortwahl. Heim, die ich als Lyrikerin vor gefühlten Lichtjahren bei einer Lesung des Schriftstellerverbandes in der bitter kalten, zugigen Vorhalle des Stuttgarter Hauptbahnhofs kennen lernte, wurde 1963 in Schramberg geboren, wo der Schwarzwald am schwärzesten ist. Den dortigen Dialekt hat sie mit der Muttermilch aufgesogen, der ist jedoch nicht unbedingt mainstreamfähig, nicht einmal in Schwaben. Dann zog sie nach Baden-Baden als Hörspieldramaturgin und veröffentlichte Krimis, was sie aus meinem Blickfeld verschwinden ließ, denn ich schrieb über vieles, aber so gut wie nie über Krimis. Schon auf der ersten Seite des Romans steht der im Prinzip nur im Kontext verständliche Satz "Ich bin der Sanftmütigen keiner, ich döbere (alemannisch für schimpfen, toben), wann und wie ich will." Auch die Vokabel "Schulerbub" steht da, und so geht es grad weiter: "Gosch auf", "Die macht Witz", "Hölder" für Hölderlin, "dahanne" und seltdanne. Zum Dialekt kommen teils eigenwillige, auf jeden Fall kreative Wortschöpfungen oder Ausdrücke wie "Wucherer des halben Herzens" oder "seelenblind" oder "der seelentrübe Spitz". Das ganze Buch ist voll davon.

Und dann immer wieder Sätze, die zuschlagen wie eine Axt: "Die Gescheiten sind oft auch die Händelsüchtigen. Denken schafft Streit." Dazu kommen Wechsel der Erzählperspektive, die Orientierung erleichtert das nicht, bis man an der Sprechweise den Erzähler zu erkennen lernt: ein Ich-Erzähler in der geschlossenen Psychiatrie, Kriminalbeamte und durch Verhörprotokolle indirekt Zeugen, Kollegen und Nachbarn, ein ehemaliger Staatsanwalt und jetzt Richter, dessen Lebensgefährtin. Die Heim schreibt eine Sprache zwischen Klarheit und Rätsel. Darin versteckt, gern in Andeutungen, sind bröckchenweise Stücke der Handlung. Die Rahmenhandlung nämlich ist ein Kriminalfall. 

Christian Schöller wurde in einem Indizienprozess zu 15 Jahren Gefängnis mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt, weil er seine Mutter erstochen haben soll. Der Vater Gustav kam todkrank aus russischer Gefangenschaft zurück und starb 1963, die Mutter Wilhelmine, Jahrgang 1920, heiratete erst nach dem Krieg, war Köchin, bekam ihre Kinder spät und zog sie allein auf. Christian kam 1956, Irene 1958 in Tübingen zur Welt. Irene geriet schon während der Gymnasialzeit über Sympathisantenkreise zur RAF und organisierte 1985 den Überfall auf einen Geldtransport. Dabei wurde der Fahrer erschossen, Irene kam aber als Täterin nicht in Frage, weil Zeugen einen großen, kräftigen Mann als Schützen beschrieben, und Irene war eher zierlich und klein. Sie wird in den Akten als unscheinbare Mitläuferin geführt. Im August 1990 nahm sie sich in der DDR das Leben, nachdem prominente RAF-Mitglieder dort aufgeflogen waren. 

Die Mutter Wilhelmine Schöller wurde an Abend des 17. November, einem Samstag, mit einem Küchenmesser erstochen. Ihr Sohn Christian rief den Notarzt, der die Polizei informierte, und erzählte, man habe gemeinsam Kartoffeln geschält. Er wollte keinen Anwalt, doch Zeugen sahen ihn und die Mutter durchs erleuchtete Küchenfenster hantieren. Er wurde festgenommen und beteuerte immer wieder seine Unschuld. Christian galt als fleißig, aber sonderbar, war als Gymnasiallehrer schon mit 34 Jahren zum Oberstudienrat befördert worden, schrieb an einer Doktorarbeit über Friedrich Hölderlin. Nach seiner Haftentlassung wurde er ins Psychiatrische Zentrum Freudenthal überführt, wo 1940 fast alle Insassen der Euthanasie zum Opfer fielen. "Weil man unsereinem am Kittel flickt, hier hat man Tausende von uns in graue Busse gesteckt, fortgekarrt und dann den Kamin hinaufgejagt." Seine Mutter hat in Grafeneck als Küchenhilfe gearbeitet, als die Nazis von dort fast 11.000 Menschen ins Gas schickten.   

Zwanzig Jahre später nimmt der ehemalige Staatsanwalt K. auf der Suche nach Vergebung Kontakt zu Schöller auf. Er forderte damals die Höchstrafe und fürchtet heute, dass Schöller unschuldig weggesperrt wurde. Der Richter K. wühlt sich durch endlose Aktenberge, und der Fall wird immer undurchsichtiger. Und seine Lebensgefährtin Klara, die eine Tonbandkassette mit Irenes letzten Worten an ihren Bruder besitzt, von der K. nichts weiß und die eine Inzest-Beziehung zwischen den Geschwistern andeutet, muss hilflos mit ansehen, wie K. sich in eine Geschichte hineinsteigert, die sich nicht mehr ändern lässt. Der Plot und die Zusammenhänge entwickeln sich wie die Aufschriebe und Akten in einem Mordfall, d.h. nicht linear, sondern eher in konzentrischen Kreisen und abhängig von wechselnden Perspektiven. Da sich der Fall und seine Vorgeschichte so lange hinziehen, spielen Politik und Zeitgeschichte eine Rolle, bis hin zu den Gegensätzen zwischen Badenern und Schwaben oder Küchensünden wie Spargel mit Salzkartoffeln und Bausünden wie Stuttgart 21. 

Uta Maria Heim schreibt mit trockenem Humor, mit viel Freude an Tratsch und regionalen Eigenheiten. Sie gießt sanften Spott über die Genres Krimi und Heimatroman gleichermaßen, aber niemals von oben herab. Und sie dringt tief ein in die Fragen nach Schuld oder Unschuld. Tobias Gohlis schrieb darüber in der ZEIT, sie täusche Provinz an , "um unverbrüdert vom Chaos Leben zu erzählen". Wohl wahr! 

 

Freitag, 13. Juni 2025

Mittagspause mit Musik im Museum

Der alte Fruchtkasten an der Stuttgarter Stiftskirche

Der Fruchtkasten am Schillerplatz ist jeden Freitag Schauplatz einer kleinen, aber feinen Konzertreihe des Landesmuseums in Zusammenarbeit mit der Musikhochschule. Im "Haus der Musik" hat das Landesmuseum im benachbarten Alten Schloss nach der Renovierung die Sammlung historischer Musikinstrumente untergebracht. Hier  finden Musiker Proberäume, und mitten in der Ausstellung gibt es Freitags von 12.30 bis 13 Uhr Musik vom Feinsten. Dozentinnen und Dozenten der Musikhochschule sowie Mitglieder ihrer Meisterklassen bieten für wenig Geld (derzeit kostet der Eintritt 4 Euro) eine musikalische Mittagspause. 

 

Eine Rose für Maestro Paganini 
Das Publikum kommt einfach vom Einkaufen oder aus dem Büro, leger gekleidet und gut drauf. In den klimatisierten Räumen spielte z.B. am 16. Mai der bekannte italienische Organist Pietro Paganini auf der klassizistischen Salonorgel Werke von Robert Schumann, Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy, César Franck und Johannes Brahms. 

Paganini ist in ganz Europa mit der Orgel, dem Cembalo und dem Klavier unterwegs. Er spielt als Solist und mit großen Orchestern und tritt bei Festivals auf, hat zahlreiche Preise gewonnen und war unter anderem schon im Musikgebow Amsterdam, in der New Yorker Carnegie Hall und der Philharmonie Paris zu hören. Seit 2022 ist er Orgsanist an einer Orgel aus dem Jahr 1795 in Amsterdam.

Sine Winter am Flügel
Nicht die Spur abergläubisch (an einem Freitag, 13. Juni) war die australische Pianistin Sine Winter aus der Meisterklasse von Florian Wiek. Sie begann schon im zarten Alter von 5 Jahren mit Klavierunterricht, hat bereits viel Erfahrung als Solistin und Kammermusikerin und gewann in Queensland und Sidney namhafte Wettbewerbe. Sie stammt aus einer dänisch-chinesischen Musikerfamilie, lebt aber seit 2020 in Deutschland. In ihrem Fruchtkastenkonzert spielte sie eine fulminante Interpretation der Klaviersonate Nr. 23 f-Moll op 57 Ludwig van Beethovens, bekannt als "Appassionata". Ihr Vortrag war technisch brilliant, kraftvoll und vor allem in den zahlreichen schnellen Läufen traumhaft sicher: ein wahrhaft leidenschaftlicher Auftritt, der mit viel Applaus und begeisterten Bravo-Rufen belohnt wurde. Es war einmel mehr herzerwärmend zu erleben, wie sonst eher zurückhaltende Schwaben aller Altersgruppen bei Musik aus sich herausgehen.