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Dienstag, 5. August 2025

Aufbau Literaturkalender: Ein Klassiker im Wandel

52 Wochenblätter aus dem Aufbau Verlag, Prinzenstraße 85 in 10969 Berlin, herausgegeben von Thomas Böhm und Catrin Polojachtof, 24 € 

Diesen literarischen Wegbegleiter durchs Jahr habe ich seit Jahrzehnten über dem Schreibtisch hängen (oder in der Nähe). Es gibt ihn seit 1966, da war ich noch kein Kritiker, sondern ein lausiger Gymnasiast mit Schwierigkeiten in Mathe und Griechisch in Bonn. Die jetzige Ausgabe ist also der Jahrgang 59. Das Interesse für DDR-Literatur, geweckt durch ein Germanistik-Studium, intensivierte sich durch die Heirat mit einer Magdeburgerin, deren Schulfreund aus Wendgräben, Verwandtschaftsbesuche und Urlaubsreisen. Beliebte Geschenke waren damals mangels Alternativen Spreewaldgurken, weihnachtliche Lichterdeko aus dem Erzgebirge - und Bücher. Am Ende eines jeden DDR-Besuchs stand der Besuch einer großen Buchhandlung, denn für uns gab es mit Ostmark nichts Besseres zu kaufen als Bücher. Vielleicht bin ich schon auf diese Weise als frisch verheirateter Journalist zu meinem ersten Aufbau Literaturkalender gekommen. Endgültig brachen jedoch goldene Zeiten für mich als literarischen Mauerspecht an, als sich die ersten Redakteure bei Zeitungen und Hörfunk für meine Quellen interessierten. Die meisten dieser Redakteure kannten die aktuell wichtigen DDR-Autoren und Neuerscheinungen nicht und hatten keine Zeit für die Pflege entsprechender Kontakte. Nun konnte ich einfach um regelmäßige Verlagsprospekte bitten und und bestellen, was mich interessierte. Spätestens damals, Anfang der achtziger Jahre, muss mir der erste Aufbau-Literaturkalender in die Hände gefallen sein.
Die selbstgestellte Aufgabe damals und heute, zum 80. Geburtstag des Verlages: "Dichterinnen und Dichter aus allen Zeiten und Himmelsrichtungen sollen Woche für Woche altbekannte Begleiter oder Überraschungsgäste sein, Jubilare mit ihren runden Geburts- und Sterbetagen werden bedacht, dazu gibt es Bilder aus ungewöhnlicher Sicht, biographische Ergänzungen und in den Zeitläuften längst gedachte Gedanken von brennender Aktualität. Das ständig aktualisierte Verzeichnis der Geburts- und Sterbedaten enthält über 5.000 Einträge". Stimmt alles, auch wenn ich da und dort einen Tropfen Wasser in den süßen Wein der Selbstbeweihräucherung gießen möchte. 

Da ist vor allem die Systematik. Kann sein, dass mich die eigene Erinnerung täuscht, aber darin kommt der Aufbau Literaturkalender als Abreiß-Lexikon der literarischen Welt vor, in dem es zu jedem Autor, jeder Autorin eine Kürzest-Biographie gab (Geboren, gestorben, Geburtsort und -Land). Weiß der Henker, wann und warum diese (mir kostbare und für lebende Schriftsteller wichtige) Systematik aufgegeben wurde oder verloren gegangen ist. Völlig überflüssigerweise übrigens, denn bis heute kaufen die Leute den Kalender nicht als literarisches Kreuzworträtsel, sondern als Informationsquelle mit Unterhatungswert. Bei WIKIPEDIA finden sich im Zweifelsfall die vernachlässigten Daten sowieso. Warum also diese Schluderei? 

Tröstlich ist dennoch allemal, dass auch die Schluderei unsystematisch bleibt: Einmal fehlen die Daten komplett, ein andermal teilweise, mal sind sie wunderschön eingebettet in eine bibliphile Kostbarkeit (z.B.bei Johann Peter Hebel, dem badischen Erfinder der Kalendergeschichten), ein historisches Faksimile (etwa bei der Marlitt alias Friederike Henriette Christiane Eugenie John aus Thüringen, der ersten deutschen Bestsellerautorin) oder Graphiken alter Briefmarken (bei James Fenimore Cooper, dem bekannten und meistens verkannten Autor des "Lederstrumpf"). Manchmal ist die Auswahl nachvollziehbar, manchmal nicht, manche Berühmtheit erklärt sich von selbst, andere nicht, das ist das Vorrecht der Herausgeber. Manche der stets abgedruckten Werkproben sind typisch, aussagekräftig oder schön, manche wirken beliebig. Doch immer gibt es Überraschungen, Vielfalt und ein Stück Literaturgeschichte, die übrigens auch zu DDR-Zeiten niemals nur eine des Ostblocks war. Diese Offenheit, Neugier und Toleranz gehörte wohl immer zur DNA des Verlags und seiner diversen Töchter.

 "1945 in Berlin gegründet, entstand Aufbau aus der Vision heraus, dass Bücher helfen können, die Welt zu verändern – damit sich Katastrophen wie der Zweite Weltkrieg nie wiederholen", heißt es in einer Pressemitteilung des Hauses am Moritzplatz zum Jubiläum. Und: "Werte wie Humanismus, kritische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und der Anspruch, mit Literatur etwas in Bewegung zu setzen, prägen die Aufbau Verlage bis heute". Der Literaturkalender war immer faktenbasiert und nie ideologisch, Trumps "alternative Fakten" gab es noch nicht und sie spielen auch in Kalendern bis jetzt keine Rolle.

Alles verändert sich, auch der Aufbau Literaturkalender, ein Klassiker im Wandel der Zeit. Über acht Jahrzehnte hinweg hat sich der Verlag immer wieder verändert und dennoch seine Haltung bewahrt: die sachliche Orientierung an Fakten.