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Samstag, 21. Juni 2025

Sprachmächtiger Spagat zwischen Krimi, Heimatroman und Psychothriller

Uta Maria Heim: "Wem sonst als Dir", Roman, Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen, 263 Seiten, 20 €

Diesen Roman gibt es schon seit 2013, da waren die Autorin und ich noch Kollegen bei SWR2 (sie beim Mundart-Hörspiel, ich in der Redaktion von Kultur aktuell) und ich befürchtete im Fall der vom Verlag erwünschten Rezension einen Interessenkonflikt. Ich habe das Buch damals nicht einmal gelesen, was aber daran lag, dass ich pflichtgemäß definitiv viel anderes zu besprechen hatte. Nun habe ich die Lektüre nachgeholt, und nach den mühsamen, gewöhnungsbedürftigen ersten 30 Seiten war ich begeistert, und eine Überraschung jagte die nächste. 

Was war so schwierig? - Das fing und fängt an mit der Wortwahl. Heim, die ich als spindeldürre Lyrikerin vor gefühlten Lichtjahren bei einer gemeinsamen Lesung des Schriftstellerverbandes in der bitter kalten, zugigen Vorhalle des Stuttgarter Hauptbahnhofs kennen lernte, wurde 1963 in Schramberg geboren, wo der Schwarzwald am schwärzesten ist. Den dortigen Dialekt hat sie mit der Muttermilch aufgesogen, der ist jedoch nicht unbedingt mainstreamfähig, nicht einmal in Schwaben. Dann zog sie nach Baden-Baden als Hörspieldramaturgin und veröffentlichte Krimis, was sie aus meinem Blickfeld verschwinden ließ, denn ich schrieb über vieles, aber so gut wie nie über Krimis. Schon auf der ersten Seite des Romans steht der im Prinzip nur im Kontext verständliche Satz "Ich bin der Sanftmütigen keiner, ich döbere (alemannisch für schimpfen, toben), wann und wie ich will." Auch die Vokabel "Schulerbub" steht da, und so geht es grad weiter: "Gosch auf", "Die macht Witz", "Hölder" für Hölderlin, "dahanne" und seltdanne. Zum Dialekt kommen teils eigenwillige, auf jeden Fall kreative Wortschöpfungen oder Ausdrücke wie "Wucherer des halben Herzens" oder "seelenblind" oder "der seelentrübe Spitz". Das ganze Buch ist voll davon.

Und dann immer wieder Sätze, die einen umhauen wie in Axthieb: "Die Gescheiten sind oft auch die Händelsüchtigen. Denken schafft Streit." Dazu kommen Wechsel der Erzählperspektive, die Orientierung erleichtert das nicht, bis man an der Sprechweise den Erzähler zu erkennen lernt: ein Ich-Erzähler in der geschlossenen Psychiatrie, Kriminalbeamte und durch Verhörprotokolle indirekt Zeugen, Kollegen und Nachbarn, ein ehemaliger Staatsanwalt und jetzt Richter, dessen Lebensgefährtin. Die Heim schreibt eine Sprache zwischen Klarheit und Rätsel. Darin versteckt, gern in Andeutungen, sind bröckenweise Stücke der Handlung. Die Rahmenhandlung nämlich ist ein Kriminalfall. 

Christian Schöller wurde in einem Indizienprozess zu 15 Jahren Gefängnis mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt, weil er seine Mutter erstochen haben soll. Der Vater Gustav kam todkrank aus russischer Gefangenschaft zurück und starb 1963, die Mutter Wilhelmine, Jahrgang 1920, heiratete erst nach dem Krieg, war Köchin und bekam ihre Kinder spät und zog sie allein auf. Christian kam 1956, Irene 1958 in Tübingen zur Welt. Irene geriet schon während der Gymnasialzeit über Sympathisantenkreise zur RAF und organisierte 1985 den Überfall auf einen Geldtransport. Dabei wurde der Fahrer erschossen, Irene kam aber als Täterin nicht in Frage, weil Zeugen einen großen, kräftigen Mann als Schützen beschrieben, und Irene war eher zierlich und klein. Sie wird in den Akten als unscheinbare Mitläuferin geführt. Im August 1990 nahm sie sich in der DDR das Leben, nachdem prominente RAF-Mitglieder dort aufgeflogen waren. 

Die Mutter Wilhelmine Schöller wurde an Abend des 17. November, einem Samstag, mit einem Küchenmesser erstochen. Ihr Sohn Christian rief den Notarzt, der die Polizei informierte, und erzählte, man habe gemeinsam Kartoffeln geschält. Er wollte keinen Anwalt, doch Zeugen sahen ihn und die Mutter durchs erleuchtete Küchenfenster hantieren. Er wurde festgenommen und beteuerte immer wieder seine Unschuld. Christian galt als fleißig, aber sonderbar, war als Gymnasiallehrer schon mit 34 Jahren zum Oberstudienrat befördert worden, schrieb an einer Doktorarbeit über Friedrich Hölderlin. Nach seiner Haftentlassung wurde er ins Psychiatrische Zentrum Freudenthal überführt, wo 1940 fast alle Insassen der Euthanasie zum Opfer fielen. "Weil man unsereinem am Kittel flickt, hier hat man Tausende von uns in graue Busse gesteckt, fortgekarrt und dann den Kamin hinaufgejagt." Seine Mutter hat in Grafeneck als Küchenhilfe gearbeitet, als die Nazis von dort fast 11.000 Menschen ins Gas schickten.   

Zwanzig Jahre später nimmt der ehemalige Staatsanwalt K. auf der Suche nach Vergebung Kontakt zu Schöller auf. Er forderte damals die Höchstrafe und fürchtet heute, dass Schöller unschuldig weggesperrt wurde. Der Richter K. wühlt sich durch endlose Aktenberge, und der Fall wird immer undurchsichtiger. Und seine Lebensgefährtin Klara, die eine Tonbandkassette mit Irenes letzten Worten an ihren Bruder besitzt, von der K. nichts weiß und die eine Inzest-Beziehung zwischen den Geschwistern andeutet, muss hilflos mit ansehen, wie K. sich in eine Geschichte hineinsteigert, die sich nicht mehr ändern lässt. Der Plot und die Zusammenhänge entwickeln sich wie die Aufschriebe und Akten in einem Mordfall, d.h. nicht linear, sondern eher in konzentrischen Kreisen und abhängig von wechselnden Perspektiven. Da sich der Fall und seine Vorgeschichte so lange hinziehen, spielen Politik und Zeitgeschichte eine Rolle, bis hin zu den Gegensätzen zwischen Badenern und Schwaben oder Küchensünden wie Spargel mit Salzkartoffeln und Bausünden wie Stuttgart 21. 

Uta Maria Heim schreibt mit trockenem Humor, mit viel Freude an Tratsch und regionalen Eigenheiten. Sie gießt sanften Spott über die Genres Krimi und Heimatroman gleichermaßen, aber niemals von oben herab. Und sie dringt tief ein in die Fragen nach Schuld oder Unschuld. Tobias Gohlis schrieb darüber in der ZEIT, sie täusche Provinz an , "um unverbrüdert vom Chaos Leben zu erzählen". Wohl wahr! 

 

Freitag, 13. Juni 2025

Mittagspause mit Musik im Museum

Der alte Fruchtkasten an der Stuttgarter Stiftskirche

Der Fruchtkasten am Schillerplatz ist jeden Freitag Schauplatz einer kleinen, aber feinen Konzertreihe des Landesmuseums in Zusammenarbeit mit der Musikhochschule. Im "Haus der Musik" hat das Landesmuseum im benachbarten Alten Schloss nach der Renovierung die Sammlung historischer Musikinstrumente untergebracht. Hier  finden Musiker Proberäume, und mitten in der Ausstellung gibt es Freitags von 12.30 bis 13 Uhr Musik vom Feinsten. Dozentinnen und Dozenten der Musikhochschule sowie Mitglieder ihrer Meisterklassen bieten für wenig Geld (derzeit kostet der Eintritt 4 Euro) eine musikalische Mittagspause. 

 

Eine Rose für Maestro Paganini 
Das Publikum kommt einfach vom Einkaufen oder aus dem Büro, leger gekleidet und gut drauf. In den klimatisierten Räumen spielte z.B. am 16. Mai der bekannte italienische Organist Pietro Paganini auf der klassizistischen Salonorgel Werke von Robert Schumann, Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy, César Franck und Johannes Brahms. 

Paganini ist in ganz Europa mit der Orgel, dem Cembalo und dem Klavier unterwegs. Er spielt als Solist und mit großen Orchestern und tritt bei Festivals auf, hat zahlreiche Preise gewonnen und war unter anderem schon im Musikgebow Amsterdam, in der New Yorker Carnegie Hall und der Philharmonie Paris zu hören. Seit 2022 ist er Orgsanist an einer Orgel aus dem Jahr 1795 in Amsterdam.

Sine Winter am Flügel
Nicht die Spur abergläubisch (an einem Freitag, 13. Juni) war die australische Pianistin Sine Winter aus der Meisterklasse von Florian Wiek. Sie begann schon im zarten Alter von 5 Jahren mit Klavierunterricht, hat bereits viel Erfahrung als Solistin und Kammermusikerin und gewann in Queensland und Sidney namhafte Wettbewerbe. Sie stammt aus einer dänisch-chinesischen Musikerfamilie, lebt aber seit 2020 in Deutschland. In ihrem Fruchtkastenkonzert spielte sie eine fulminante Interpretation der Klaviersonate Nr. 23 f-Moll op 57 Ludwig van Beethovens, bekannt als "Appassionata". Ihr Vortrag war technisch brilliant, kraftvoll und vor allem in den zahlreichen schnellen Läufen traumhaft sicher: ein wahrhaft leidenschaftlicher Auftritt, der mit viel Applaus und begeisterten Bravo-Rufen belohnt wurde. Es war einmel mehr herzerwärmend zu erleben, wie sonst eher zurückhaltende Schwaben aller Altersgruppen bei Musik aus sich herausgehen.


Donnerstag, 1. Mai 2025

Wie man Diktaturen möglich macht

Wolfgang Schorlau (links) und Historiker Wolfgang Niess im Gespräch über dessen Buch "Schicksalsjahr 1925. Als Hindenburg Präsident wurde" (C.H. Beck, 30 Seiten, 28 € . Sehr kenntnisreich und aktuell berichtet der ehemalige SWR-Moderator über die Vorgeschichte der Hitlerdiktatur in der Weimarer Republik. Wer alles die Machtergreifung der Nazis mehr oder weniger direkt vorbereitet und ermöglicht hat, das ist unglaublich. Eine Lektion für alle, die heute wieder die Demokratie verteidigen - auch gegen zahllose Zeitgenossen, die den Schuss immer noch nicht gehört haben.

Aus dem Pressetext:  "Im Februar 1925 stirbt der Sozialdemokrat Friedrich Ebert, der erste von der Weimarer Nationalversammlung ernannte Reichspräsident, der Deutschland durch die Krisen der Revolutions- und Nachkriegszeit geführt hatte. Wer wird sein Nachfolger? Wolfang Niess schildert die Hintergründe der Schicksalswahl von 1925 in bisher ungekannter Tiefe. Einflussreiche Kräfte einer neuen Rechten wollten sie nutzen, um einen Keil zwischen bürgerliche Demokraten und Sozialdemokraten zu treiben. Sie suchten eine Art zweiten Bismarck, der Parteien und Parlament zurückdrängen und die Demokratie Schritt für Schritt beseitigen sollte. Doch eigentlich standen die Chancen für die Republikaner gut, die Wahl zu gewinnen. Wie konnten sie diese Chancen verspielen? Wie konnte ein Antidemokrat in das höchste Amt des Staates gelangen? Und wieso übersahen viele, was der neue Amtsinhaber langfristig vorhatte? Die genaue Analyse der Wahl von 1925 ist der Schlüssel für eine Neuinterpretation der Rolle Hindenburgs bei der Errichtung der NS-Diktatur. Denn manchmal entfalten Wahlergebnisse ihr zerstörerisches Potential nicht sofort, sondern erst nach Jahren." 

Diese Wahl war eine Intelligenzprüfung, bei der die Hälfte der deutschen Wähler durchgefallen ist. Man hätte das alles kommen sehen müssen, was dann kam - so wie heute.

Dienstag, 29. April 2025

Ziel Staatszerstörung: Die gefährlichen Utopien der Neoliberalen und Libertären

Der kanadische Historiker Quinn Slobodian wurde 2020 für sein Buch "Globalisten - Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus" gefeiert, weil er überzeugend und konsesquent diverse Versuche beschrieb, ökonomische Fragen der demokratischen Willensbildung zu entziehen, etwa durch internationale Orgnisationen. Jetzt geht er einen wichtigen Schritt weiter, indem er Vordenker und Geschäftsmodelle nennt. Sein Buch "Kapitalismus ohne Demokratie - Wie Marktradikale die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen zerlegen wollen" (Suhrkamp Verlag Frankfurt a.M., 2023, 428 S., 32 €) ist die Analyse eines Generalangriffs auf den Staat und eine regelbasierte Ordnung der Welt.

Leute wie Elon Musk und Donald Trump dürften nicht die nötige Geduld haben, um solche Bücher zu lesen. Aber sie handeln perfekt danach. Peter Thiel, der PayPal gegründet hat und mit einer frühen Investition in Mark Zuckerbergs Firma Facebook ein Vermögen verdient hatte, verlor in der Finanzkrise 2008 viel Geld. Danach wollte er nur noch dem demokratischen Staat entkommen, der ihn zwang, Steuern zu zahlen. "Ich glaube nicht mehr, dass Freiheit und Demokratie vereinbar sind", schrieb er. "Die große Aufgabe der Libertären besteht darin, einen Weg zu finden, um der Politik in all ihren Formen zu entkommen." Es gehe darum, unkontrollierte Zufluchtsorte für das Geld zu finden, am besten in vielen kleinen Staaten oder staatsähnlichen Gebilden wie "Sonderzonen" mit Steuerprivilegien, z.B. Liechtenstein, Malta oder Irland, die bei jeder Steueranhebung fürchten müssten, die Gans zu verscheuchen, die golderne Eier legt. Die EU-Kommission hat das bis heute nicht wirklich verstanden, sonst würden solche "Geschäftsmodelle" verhindert.

Zwei internationale libertäre Organisationen bzw. Thinktanks sind zentral für die rechtslastige, von anarchokapitalistischen Milliardären betriebene Zersplitterung von immer mehr Staaten in extraterritoriale "Sonderzonen" bzw. Stadtstaaten mit eigener Gesetzgebung und Polizei, ohne freie Wahlen und Parteien, freie Presse, Gewerkschaften, staatliche Gesundheitsfürsorge oder Sozialversicherungen: die Heritage Foundation und die Mont Pèlerin Sociey, beide schwer reich, beide gut vernetzt und stark vertreten durch konservative Politiker wie Margaret Thatcher und einflussreiche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler wie Samuel Huntington ("Krise der Demokratie") oder Friedrich Hayek. Der österreichisch-britische Ökonom hatte schon 1947 die Mont Pèlerin Sociey ins Leben gerufen, um der gefühlten Bedrohung durch den Vormarsch von Sozialismus und Wohlfahrtsstaat zu begegnen. Die Blaupause für die feuchten Träume aller  Marktradikalen wurde die britische Kronkolonie Hongkong, abgesichert durch langfristige Verträge, die dafür sorgten, dass ausländische Investoren nur ihrer eigenen Gerichtsbarkeit unterstanden. Populärster Vordenker dieses Trends wurde der US-Journalist Milton Friedman.

 

Modell Hongkong

Der Containerhafen und Militärstützpunkt produzierte rasch alles Mögliche für den Weltmarkt, weil ab 1949 nach dem Sieg der Kommunisten in China über eine Million Flüchtlinge auf prekäre Arbeit für Hungerlöhne in kleinen Fabriken und Werkstätten angewiesen waren. Die britische Regierung erlaubte Hongkong in den 50er Jahren, selbst über seine Handels- und Steuerpolitik zu entscheiden. Deshalb fand hier der Aufbau des britischen Wohlfahrtsstaates nach dem Zweiten Weltkrieg nicht statt: Die Bewohner der Stadt, die wie ein Unternehmen geführt wurde, waren keine Bürger, sondern Untertanen der Krone. Der Gouverneur hielt die Steuern niedrig und verzichtete auf Zölle. 1978 lag die Einkommenssteuer in Großbritannien bei 83 Pozent und in den USA bei 70 Prozent. In Honkong waren Kapitalerträge und Erbschaften steuerfrei, das Arbeitseinkommen wurde pauschal mit 15 Prozent besteuert. Man kann sich das heute kaum mehr vorstellen. 

Gelernt hatte London dieses Modell von den Opiumkriegen der Ostindischen Kompanie, die ungleiche Verträge mit nackter Gewalt durchsetzte. Sehr viel friedlicher sind die Marktradikalen immer noch nicht, denn sie schaffen weltweit prekäre Arbeit ohne soziale Sicherheit und damit Ausbeutung, Armut, Umweltzerstörung und Migration in großem Maßstab. Im Falle bestimmter Konzerne wie Monsanto töten sie Hunderttausende direkt - durch Gift im Wasser und auf den Feldern, genmanipulierte oder mit Antibiotika, Chlor und Mikroplastik verseuchte Lebensmittel aus Massentierhaltung sowie Monokulturen bei Mais, Soja und Palmöl. Stiftungen wie die von Bill und Melinda Gates und die Heritage Foundation finanzieren Wahlkämpfe, aber auch private Universitäten und über diesen Umweg sogar ganze Kulturkämpfe, etwa den des Trump-Freundes Steve Bannon. Sie erstellen nicht nur Gefälligkeitsgutachten für Großkonzerne wie Monsanto, sondern kämpfen mit einer fragwürdigen Mischung aus freier und gekaufter Wissenschaft für den privaten Bildungssektor und gegen bezahlbare staatliche Bildung oder ein staatliches System der Gesundheits- und Rentenvorsorge.

 

Die Plünderung des Staates

Eine Weiterentwicklung der kolonialen Exklave wurde, als sich das Ende der Kronkolonie Honkong abzeichnete, der Finanzdistrikt von London, der bis heute nicht ganz zu seinem "Gastland" Großbritannien gehört. Bei Wahlen haben die hier ansässigen Unternehmen wie in Honkong das Stimmrecht. Deren 32 000 Stimmen stehen nur 9000 menschliche Stimmen gegenüber. Während sich das britische Weltreich auflöste, schufen Margaret Thatcher und ihre Freunde für die Finanzindustrie hier ein neues Empire aus Steuerparadiesen wie den Cayman Islands und Bermuda sowie ehemaligen Kolonien wie Singapur, Irland und Dubai. Sie beschlossen außerdem, Teile Londons wie die Docklands auszugliedern, dort Investoren von Steuern und Vorschriften zu befreien sowie mit Zuschüssen und Subventionen zu ködern, um aus dem, was bisher Korruption hieß, geltendes Recht zu machen. Das alte urbanistisch-sozialistische London wurde verdrängt und abgerissen, übrig blieb nur eine leere Hülle für Immobilienspekulanten und das Kapital.

Der letzte und entscheidende Schritt dieser Entwicklung war der elektronische Devisen- und Aktienhandel. Seit diese Geschäfte in Sekundenbruchteilen rund um die Welt rasen konnten, ist so gut wie jede staatliche Kontrolle des Kapitals unmöglich geworden. Nun gibt es die "Zone zum Mitnehmen" in mobilen Laptop-Köfferchen und Smartphones. Eine neue Art internationaler Reichsbürger oder Anarchokapitalisten entstand, die keine Autorität außer ihrer eigenen mehr anerkennen und ihre Aktivitäten jeglicher Regulierung entziehen. Sie beherrschen Monopole und Schlüsseltechnologien, die wie das  "Star Link" von Elon Musk etwa in der Ukraine über Krieg und Frieden entscheiden, fliegen ins All und haben dort inzwischen mehr Satelliten für ihre Kommunikationssysteme (und Weltraumschrott!) als jeder Staat. Umweltschutz und Klima sind ihnen egal, weil sie sowieso zum Mars wollen.

 

Soziale Unwucht als Prinzip

Da die Steuerflüchtlinge aber nicht nur im Internet, sondern auch im wirklichen Leben sichere Zufluchtsorte wollen, sind physische Zonen in jeder Form nie aus der Mode. Sie beginnen in den Gated Communities für Millionäre und betuchte Rentner in Florida und Kalifornien, die einfach nur ein erhöhtes Bedürfnis nach Ruhe und Sicherheit haben. Und sie enden noch lange nicht in den Stiftungs- und Steuerparadiesen von Dubai und Liechtenstein. Ich bin Mitglied des (an sich unverdächtigen) dortigen PEN-Clubs und hatte öfters Gelegenheit, bei Spaziergängen die vielen Villen in den Randlagen von Vaduz (z.B. Schan) zu bewundern, in denen interntionale Stiftungen residieren. Der Fürst, der all das möglich macht, ist der letzte absolutistische Monarch in einem demokratischen Europa. Im Vergleich zur Geheimnistuerei seiner Regierung ist das Schweizer Bankgeheimnis ein Kindergeburtstag. 

Man muss sich klar machen, dass der erste Schritt um Ausstieg aus der politisch kontrollierten Welt oft schon ist, dass man sein Kind in  einer Privatschule anmeldet oder Mitglied in einem exklusiven Golfclub wird. Wo Steuerflucht und Steuervermeidung legale "Gestaltungsmittel" sind und Steuerhinterziehung zum Volkssport wird, ist der nächste Schritt bereits vollzogen. Dass es dafür oft sehr nachvollziehbare Gründe gibt, macht das Ganze nicht besser. Umso wichtiger ist es, den politischen Ursachen einer sozialen Unwucht, die mit Händen zu greifen ist, einen Riegel vorzuschieben. Schon deshalb ist die Lektüre dieses großartigen, wichtigen, verständlich geschriebenen Buches zu empfehlen. 

In Deutschland öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter und 90 Prozent der Vermögen sind in der Hand von weniger als 10 Prozent der Bevölkerung. Vermutlich ist das die Hauptursache für den Aufstieg rechtsextremer Parteien und das schwindende Vertrauen in eine demokratische Politik. Immer noch gibt es da Parteien, zu deren DNA es offenbar gehört, aus ideologischen Gründen keine Erbschaftssteuer zuzulassen. Ausgerechnet Gutverdienende und Reiche werden durch Beitragsbemessungsgrenzen davor geschützt, den gleichen Prozentsatz für die Renten- und Krankenversicherung zu bezahlen wie weniger gut Gestellte. Arbeitslohn und sogar Renten werden weit höher besteuert als Gewinne aus Anlagevermögen. Dieses Ungleichgewicht wird mit Zähnen und Klauen verbissen verteidigt und ist ein echtes Problem mit der Tendenz, sich selbst zu vergrößern. Jede Regierung, die Ernst macht mit dem Versuch, den Aufstieg rechts- und linksextremer Parteien zu beenden oder gar umzukehren, muss diese Aufgabe lösen. Hier hat die schwarzrote Koalition von Friedrich Merz neben Migrationskontrolle, Sicherheit, Infrastrukturreform und Wohnungsbau einen weiteren Lackmustest zu bestehen. Quinn Slobodian hat dafür ein praktisches Handbuch geliefert.

















Montag, 28. April 2025

Offener Brief an Ines Witka, Schriftstellerverband (VS) Baden-Württemberg zu Meta

Liebe Ines, die Entwicklung von Mark Zuckerberg, Meta und den USA unter Trump weckt bei mir den zwingenden Eindruck, dass ich es nicht länger verantworten kann, bei Facebook, WhatsApp und Instagram aktiv zu sein. Ich werde mich daher dort schrittesweise zurückziehen und bitte Dich, mein Profil bei Insta zu löschen. 

Es tut mir Leid um die viele Arbeit, die Du im Vorstand bei Instagram für uns investiert hast, und auch ein Stück weit um die einzige "kostenlose" Werbeplattform, die ich bei Facebook hatte. Doch ich kann und will nicht mitschuldig sein bzw. werden durch politische Indifferenz gegenüber einem Tech-Oligarchen, der permanent deutsches und europäisches (Urheber-) Recht bricht, durch sein manipulatives Monopol rechte Hetze und Fake News verbreitet, ein Forum für Pornoseiten und Hacker bietet sowie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat untergräbt und einen Präsidenten unterstützt, der offen faschistisch und rassistisch agiert. Donald Trump demontiert systematisch den Rechtsstaat USA, schadet mit seiner disruptiven libertären Wirtschaftspolitik dem eigenen Volk und der ganzen Welt, er bedroht die Ukraine und alle Verbündeten durch Verrat und ständige Vertragsbrüche. 

Dass man etwas dagegen tun kann, zeigt der Fall Tesla. Ich werde mich dafür einsetzen, dass wir unsere Vernetzung über die VS-Homepage intensivieren und als Alternative den (Schweizer) Messenger Threema anstelle von WhatsApp verwenden. Der finanziert sich durch eine App, die man kaufen muss, nicht durch Werbung. Sie kostet weniger als ein Bier und ist das bisher sicherste Kommunikationssystem der Welt, sammelt keine Nutzerdaten und stellt sie keiner Regierung und keinem Geheimdienst zur Verfügung. 

Reichweite kann man schaffen, wenn viele bereit sind, sie nicht länger einfach vorauszusetzen. Es ist wie in der Politik: Wer glaubt, dass andere die große Reichweite für uns schon schaffen werden, ist blind für ihren Missbruch und macht ihn damit erst möglich. Ich hoffe, Du hast Verständnis für meine Entscheidung und kannst vielleicht sogar den VS-Vorstand von meinen Argumenten überzeugen. Bis hoffentlich bald! Liebe Grüße, Widmar

Mittwoch, 23. April 2025

Wiederentdeckt: "Deutsche Johannes-Passion" von Christoph Demantius (1567 - 1643), eine Perle des Frühbarock

Die Degerlocher Kantorei in der Versöhnungskirche

Am Palmsonntag, dem 13. April konnten Freunde alter Chormusik in der Versöhnungskirche unter dem Stuttgarter Fernsehturm eine barocke Wiederentdeckung erleben: die "Passion nach dem Evangelisten Johannes und Weissagung des Proheten Jesaia zum Leiden und Sterben Jesu" für sechsstimmigen Chor a capella aus dem Jahr 1631. Das Werk stammt von Christoph Demantius, einem der großen, heute (so gut wie) vergessenen Volkalkomponisten der späten deutschen Spätrenaissance am Übergang zum Frühbarock. Der gebürtige Böhme wirkte zeitlebens  als Domkantor in der  Stadt Freiberg. 

Die Stadt gilt als das älteste und wichtigste Zentrum des sächsischen Bergbaus und wurde durch seine Silberbergwerke in 800 Jahren reich. Hier wusste man gute Musik zu schätzen und konnte sich einen Domkantor leisten. Dessen selten aufgeführte Johannespassion ist rein motettisch angelegt, also eine A-capella-Komposition ohne Instrumentalbegleitung und Solisten. Demantius ist im gleichen Jahr geboren und gestorben wie Claudio Monteverdi, und mit dem Italiener teilt er nicht nur den üppigen polyphonen Schönklang, sondern auch neue musikalische Ideen in Kombination mit der eigentlich schon aus der Mode gekommenen Kompositionsform der Motette. Das Ergebnis ist ein Klanggewebe aus starker Polyphonie (doch schnörkellos, ganz ohne Koloraturen) und homophonen, wie eine Folge von Akkorden gestalteten Passagen, in denen die Sängerinnen und Sänger gleichzeitig denselben Text singen. Außerdem übernahm Demantius aus Italien (früher als etwa Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach) mutig das ausdrucksstarke Stilmittel ausgeprägter Dissonanzen, die damals eigentlich nicht erlaubt waren. 

Barbara Straub mit Claus Schulten

Trauer und Schmerz sollen in dieser Passionsmusik hörbar werden. Und sie wurden hörbar. Stilbewusst, intonationssicher und expressiv sang die Degerlocher Kantorei unter der Leitung von Bezirkskantorin Barbara Straub, die einmal mehr mit viel Gespür für Historie das Programm ausgewählt hatte und ganz im Dienst der leidenschaftichen Deklamation dirigerte. Rhythmisch differenzert führte sie die Sängerinnen und Sänger durch diese starke Passion, immer im Sinne einer Textausdeutung, in der Demantius die Zuhörer zum inneren Nacherleben und Mitempfinden der grausamen biblischen Szenen anregen wollte. Als etwa Jesus auf die Frage des Hohen Priesters nach seiner Lehre sagt, er habe immer öffentlich gesprochen und verstehe darum die Frage nicht, schlägt ihn einer der Soldaten, und nur die Männerstimmen wiederholen in einem dramatischen Crescendo drei Mal die Frage Jesu: "Habe ich übel geredt, so beweise es. Habe ich aber recht geredt, warum schlägst du mich?"

Der Komponist hat dem Passionstext des Evangeliums nach Johannes die Weissagungen des Propheten Jesaia zur Seite gestellt, die man als Prophezeihung des Leidens Christi interpretieren kann. Der Cembalist Claus Schulten spielte zwischen den je drei Teilen von Passion und Weissagung Neue Musik für mitteltönig gestimmtes Cembalo aus dem Zyklus "Von 12 Perlen sind die Tore - die 12 Edelsteine des himmlischen Jerusalem" (2019) von Hans Peter Braun, die "Galiarda Dolorosa" von Peter Philips (1561 - 1628) und eine Pavane von William Byrd (1543 - 1623).

 

 

 

 

 

 

 

Dienstag, 4. Februar 2025

Poesie aus der Gosse Moldawiens: Ein Roman von Tatjana Țîbuleac

Tatjana Țîbuleac: "Der Garten aus Glas", Roman. Verlag Schöffling & Co, 2023, 271 Seiten, 25 €. Aus dem Rumänischen übersetzt von Ernest Wichner

Dieses Buch ist ein schwieriges, ein böses, zärtliches und auch wütendes Buch über kaputte Menschen. Die Autorin erzählt von einer Kindheit in Armut. Sie erzählt in 166 kurzen Kapiteln von einer Karrierefrau, die es mit eisernem Willen, Selbstausbeutung und Brutalität aus einem trostlosen Waisenhaus in der Hautstadt der Republik Moldau bis zur Chefärztin in Bukarest geschafft hat. "Ich stand vom Bett auf und hatte eine Mutter. Welch ein Wunder, kein Waisenkind mehr zu sein, und welche Angst, es innerhalb einer Sekunde wieder zu werden!" Doch ihre Ziehmutter Tamara Pawlowna, die als Flaschensammlerin viel Geld verdient, hat das siebenjährige Kind nicht aus Wohltätigkeit aufgenommen, "sie hatte mich gekauft". Erst nach jahrelanger Kinderarbeit darf sie die Schule besuchen. Die Autorin erzählt diese Geschichte in Rückblenden, mit Brüchen, Auslassungen und Unschärfen. Sie erzählt in traumschönen poetischen Bildern und im derben, schonungslosen Vokabular eines Realismus aus der Gosse und den Höfen der Plattenbausiedlung:  
"Tamara Pawlowna hatte ein Bad mit blauen Fliesen, mit blauen Blumen und blauer Mitte. Es gab viel Schönes ringsum, ich fühlte mich wie in einem Gemälde... Als sie mit dem Schwamm reinkam, sprang ich auf die Beine. Sie drehte mich lange in alle Richtungen, als sei ich ein neues Kleid, suchte nach Fehlern... Zelka, Jungfrau?, fragte sie schmallippig und ich spürte ihre rauhen Finger in mich eindringen... Zelka, Zelka, Zelka?, der Schmerz in mir wurde heftiger... Die Wörter fielen ihr wie Mistkäfer aus dem Mund und krochen auf mich zu. Ich nickte. Die Finger kamen heraus und wanderten zu meiner Fußsohle. Und mit Seife, und mit Seife. Und da noch, und da noch... Budesch poslushnoi, sdelaju is tibja tscheloweka, Wenn du auf mich hörst, mache ich einen Menschen aus dir." Das hieß, ein Mensch sprach Russisch. Das Mädchen bekommt den Namen Lastotschka, Schwalbe, kein Lehrbuch, aber Kopfnüsse und Schläge für jeden Fehler. Die Ziehmutter kann alles, weiß alles, ist mörderisch, aber mitfühlend, tückisch, aber gerecht, arbeitet immer und baut ein Imperium aus Kopeken. "Sie brachte mir das Alphabet bei, die Republiken und den Umgang mit Geld." 
Aber niemand sonst hat Lastotschka haben wollen, nicht einmal ihre Eltern, die sie einfach entsorgt haben. "Ich hätte mich sogar an eine scharfe Klinge gelehnt, wenn sie mich gestreichelt und mir Brot zugeworfen hätte."

Wenn das Glück darin besteht, nicht verprügelt oder vergewaltigt zu werden, wenn Kindheit nur ein Wort aus einer Erzählung ist: Lastotschka tut sich mit anderen Mädchen aus dem Block zusammen, weil es sich zusammen besser überlebt, weil man so besser Geschäfte machen kann. Sie wachsen gemeinsam auf erleben die Armut, die Schule, die Pubertät, die Jungs in der Nachbarschaft, die Kriegsversehrten. Das Kaleidoskop der Typen wird erzählerisch zum Kaleidoskop der Schicksale zwischen der russischen und der rumänischen Sprache, Identität und Politik in dem kleinen Land zwischen Rumänien und der Ukraine mit nur 2,5 Millionen Einwohnern, das 1991 beim Zerbrechen der Sowjetunion seine Unabhängigkeit erklärte. Danach waren die Russen plötzlich keine Vorbilder mehr, sondern "Besatzer".

Besonders eindrucksvoll ist das einfühlsame Porträt des einbeinigen Kriegsveteranen Sachar Antonowitsch, der in einem kalten Winter einfach in seiner Wohnung erfriert. Er hatte immer eine Manteltasche voller Bonbons für die Kinder. Lastotschka durfte stets zwei davon nehmen,"nicht nur eines wie alle anderen Kinder, weil ich nämlich eine Waise war und deshalb mehr Bitterkeit im Mund hatte." Der alte Mann wurde von den Frauen des Blocks durchgefüttert, weil seine Rente nicht reichte. Und dann gab es "Bonbons gegen Zuhören". Manchmal schien es, als würde der Alte ohne das Ritual mit den Kindern vertrocknen wie ein ein Baum ohne Wasser: "Es gibt Menschen auf der Welt, die nicht überleben können, wenn sie nicht erzählen... Eine Geschichte - auch die allerkürzeste und auch die traurigste - achtet stets darauf, Gerechtigkeit geschehen zu lassen."

Die Journalistin Tatiana Ţîbuleac wurde 1978 in Chişinău in der heutigen Republik Moldau geboren und lebt seit 2008 als Schriftstellerin in Paris, ist bis heute überall und nirgends zu Hause. „Manchmal kommt es mir so vor, als lebte ich allein in meinem Kopf, und auch dort nur zur Miete.“ Eine bedeutende Rolle im Roman spielt die Sprache, wie eine Währung, die sich ständig ändern kann. Welche Sprache wird in der Schule gesprochen? Russisch oder moldauisch bzw. rumänisch? Welche Ausdrücke gibt es in einer Sprache, wo fehlen Ausdruck und Worte hierfür in der anderen? Hier aber ist die Sprache kein Mittel der Integration, sondern meistens der Ausschlusses. Lastotschka sagt einmal: „So viele Jahre sind nun vergangen, seitdem ich nach Bukarest gekommen bin, und es hat sich nichts geändert. Immer noch bin ich ‚die Russin‘. Die Sprache und die Angst: Zu dem Preis, zu dem sie mich kaufen, verkaufen sie mich auch.“

„Der Garten aus Glas“ ist natürlich eine Flaschensammlung, klingt aber poetischer. Und so färbt die Autorin in diesem Roman ein ziemlich elendes, liebloses Leben mit sprachlichen Mitteln bunt. Die Autorin studierte Journalismus und Kommunikation an der Staatsuniversität Moldau in Chișinău. Bekannt wurde sie durch die Kolumne „Wahre Geschichten“, die Mitte der 1990er Jahre in der Zeitung Flux erschien. Seit 1999 arbeitete sie als Reporterin und Moderatorin beim Fernsehen in Chisinau. 2008 zog sie nach Paris. Țîbuleac erhielt für ihr zweites Buch, "Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte" (2017) den Preis des Schriftstellerverbandes der Republik Moldau (2017), den Preis der Zeitschrift Observator cultural und mit den Preis Observator Lyceum (2018) ausgezeichnet. Der Roman erschien auf Französisch, Spanisch, Norwegisch, Deutsch und Polnisch. Die spanische Ausgabe, die 2019 im Verlag Impedimenta erschienen ist, wurde mit dem Casino de Santiago European Novel Award ausgezeichnet. "Der Garten aus Glas" (2018) wurde mit dem Literaturpreis der Europäischen Union (2019) ausgezeichnet und ins Französische, Spanische und Bulgarische übersetzt.


Mittwoch, 15. Januar 2025

Das Prinzip Menschenverachtung: Eine Literatin aus Rumänien erzählt

Ana Blandiana: "Der Wille des Menschen ist antastbar. Von der Allgegenwart der Manipulation". Essays. Aus dem Rumänischen übersetzt und mit einem Geleitwort versehen von Georg Aescht. Pop Verlag, Ludwigsburg, 632 Seiten, 33,00 €

 

Altpapier und Träume

Ich habe wirklich ziemlich viele Bücher von Autoren aus Diktaturen oder ehemaligen Diktaturen gelesen. Doch bisher war niemand darunter, der so hellsichtig und schonungslos über den Zusammenhang zwischen Glanz und Elend der scheinbaren Symbiose zwischen Autoren und ihren Lesern geschrieben hat wie Ana Blandiana:

"Der Schriftsteller in der Diktatur wird ... geliebt, weil er das ausspricht, was seine Leser selbst zu äußern sich fürchten, auch wenn sie dies gern tun würden. Wenn jedoch die Diktatur verschwindet, verschwindet auch der Grund für die Kritik und gefährdet implizit den Erfolg dieses einstigen Superstars. Denn Freiheit bedeutet nicht nur das Verschwinden des Diktators, sondern auch die Freiheit, das Lesen einzustellen. Merkwürdigerweise sind das Wort und der Autor, der es zum Überleben gebraucht hat, am stärksten betroffen. Andererseits bedeutet beliebt zu sein nicht unbedingt, erfolgreich zu sein".

Im Jahr 1990 war ich für eine Radio-Dokumentation über die Folgen des Mauerfalls für Autoren, Verleger, Leser und Literaturkritik in der DDR unterwegs und stellte radikale, beunruhigende Veränderungen im "Leseland DDR" fest. Wenn wir früher Verwandte oder Freunde in der DDR besuchten, gaben wir zum Schluss den großen Rest unserers Zwangsumtausches in Ostmark für Bücher aus: Klassiker der deutschen und internationalen Literatur in guten, kommentierten Ausgaben mit Leineneinband und Fadenheftung oder neue zeitgenössische Lyrik, Theatertexte, Romane und Essays aus der DDR zu Spottpreisen. Für mich als Kritiker waren die riesigen Grabbeltische eine Fundgrube. Und nun gab es in den gleichen Buchhandlungen über Nacht fast nur noch Computerhandbücher, Lexika, Reiseführer und Pornographie. Die schockierende Antwort von Buchhändlern und Verlegern auf die Frage, wo denn das ganzen Belletristik-Angebot aus der DDR geblieben sei: "Auf den Müllhalden". Aber so auf den Punkt präzise erklären wie Ana Blandiana konnte ich das nicht.

 

Sozialismus & Postsozialismus 

Blandianas Buch schildert eine Dimension des Hasses, der Manipulation und gesellschaftlichen Spaltung, die sie für typisch rumänisch und das Erbe der Securitate hält. Doch ich vermute, das greift zu kurz. Ich sehe Muster, die sich vor allem seit Putin auf der ganzen Welt wiederholen, vorwiegend aber in Europa. Es ist das Mysterium iniquitatis (Thomas von Aquin), das Geheimnis des Bösen, das sie zu Recht so umtreibt. Mich auch. Aber es es ist nicht bloß rumänisch, es ist universal. Die Erben Francos, der Stasi oder des KGB leben ja ebenfalls alle noch (auch große Teile des Stasi-Vermögens sind übrigens bis heute unauffindbar verschwunden). Blandiana geht bis über die Schmerzgrenze hinaus der Frage nach, woher dieser Hass kommt, die Lust am Bösen. Und das ist schwer auszuhalten. Die beschriebenen Manipulationsformen, die Techniken der Desinformation, die Psychologie und Methoden der Einschüchterung zur "Zersetzung des persönlichen Umfeldes" sind durch erlebte, teils wirklich skurrile Beispiele bis zu einem gewissen Grad spannend, auch unterhaltsam oder lehrreich. 

Das erste Beispiel stammt aus Blandianas Kindheit. Als sie fünf oder sechs Jahre alt war, die  Mutter zu Besuch bei ihrer Schwester und das Kind allein mit dem Vater, einem orhodoxen Pfarrer, gab es eine (natürlich überfallartige) Haussuchung der Securitate. Der Chef erklärte, man brauche einen Zeugen, und schickte einen Kollegen hinaus, um einen aufzutreiben. Der kam aber gleich wieder und forderte, Vater solle ihm das Tor öffnen. Der Vater staunte, denn das Tor hatte gar kein Schloss, ging aber mit hinaus und sagte dem Kind, es solle im Haus bleiben. Das Kind hatte aber Angst, mit den Fremden allein zu bleiben, und folgte dem Vater hinaus. Der Mann murmelte eine Entschuldigung, denn das Tor stand definitiv offen, ging hinaus und kam bald mit einem invaliden Nachbarn zurück, der nur Ungarisch sprach und kein Wort Rumänisch verstand. Die Leute der Securitate stellten vom Keller bis zum Dachboden das ganze Haus auf den Kopf, ohne etwas Blastendes zu finden. Der Anführer saß schon an den Küchentisch, zog Papiere aus seiner Aktentasche und erkärte, nun müsse man ein Protokoll aufsetzen. "Aber Chef", wandte der Jüngste unter ihnen ein, ein dunkelhäutiger Hänfling, unterwürfig und frech zugleich und im gleichen Maße, "die Schubladen des Schminktischs haben wir nicht kontrolliert." In der oberen befanden sich die Schmink- und Toilettenartikel der Mutter, in einer zweiten die Spielsachen des Kindes, vor allem Puppen. In der wurde nun eine Pistole "gefunden", die der freche Securitate-Jüngling dort deponiert hatte, als Vater und Tochter draußen am Tor waren, und der Invalide von der ungarischen Minderheit musste das Protokoll unterschreiben. Der Vater der Autorin wurde wegen illegalen Waffenbesitzes festgenommen und musste dafür jahrelang ins Gefängnis. "Monatelang, selbst nach Vaters Rückkehr, schreckte ich nachts schreiend und weinend auf, weil mich stets dieselbe Szene im Traum verfolgte, in der ich wusste, dass ich mit dem Geheimdienstlern im Haus bleiben muss, aber den Mut nicht hatte und schuldig wurde an dem, was in der Folge passieren sollte, wieder und wieder."

Offen und daher wirklich bedrückend bleibt auch für mich, woher das kommt, aus welcher Quelle das Gift fließt. Damit ist nicht nur die kommunistische Partei gemeint oder die Securitate und korrupte Beamte. Es ist die auch bei den "normalen" Bürgern allgegenwärtige Schadenfreude und Lust an der Denunziation, der Hass auf Intellektuelle ("die sollen erst mal lernen, richtig zu arbeiten"), die Bereitschaft zur Verbreitung übler Gerüchte, das Ausspähen von Nachbarn und anderen Formen der Mittäterschaft. Das betrifft nicht nur die Welt der Politik und Arbeitswelt, sondern auch und besonders den Literaturbetrieb mitsamt den Verbänden, Verlagen, Zeitungen, Zeitschriften, Akademien, Veranstaltungen und Kontrollbehörden.

Lange nach der "Wende", so schildert Blandiana, waren sie und ihr Mann auf der Suche nach einem Stück Blech für eine Reparatur am undichten Dach ihres Ferienhauses. Doch niemand hatte Blech, auch Handwerker und Dachdecker nicht. Ein "hilfreicher" Nachbar brachte das Paar schließlich zu jemandem, der angeblich helfen konnte: einem seltsamen Unternehmer, der sich mit einem offenbar ergaunerten Materiallager im Wald hinter Palisaden mit Alarmanlage und Überwachungskameras verschanzt hat. Er nennt seinen Namen nicht, stellt sich aber mit den Worten vor "Ich bin der ehemalige Chef der Securitate des Kreises. Prost!" Er bewirtet das Paar leutselig und redet freimütig über seinen Stolz, die berühmten Schriftsteller endlich persönlich kennen lernen zu dürfen.

Als die Autorin ihre Verblüffung überwunden hat, lobt sie bewundernd das schöne, gesunde Holz der "Umzäunung" und erwähnt, sie habe lange vergeblich nach einem Brett gesucht, um einen Zaun zu reparieren. "Das Holz habe ich von einem Kollegen aus der Bukowina bekommen", antwortete er ernsthaft, nachdem er sich vergewissert hatte, dass ich es nicht spöttisch gemeint hatte. "Derlei Probleme gibt es für uns nicht, denn wir sind untereinander vernetzt und es gibt keinen Bereich, in dem man nicht einen Kollegen findet,der bereit ist, einem zu helfen. Präsent waren und sind wir im ganzen Land, auch wenn wir jetzt zur Wirtschaft übergegangen sind, uns neu ausgerichtet haben. Auch wenn es die Institution nicht mehr gibt, das Netzwerk ist weiterhin funktionstüchtig. ... Wie kann sich jemand vorstellen, dass eine solche Institution mit einer solchen Macht einfach verschwindet?"

So sind die Unsitten der durch und durch moralisch verrottetten, balkanisch (historisch gesehen orientalisch, nämlich durch die Invasion der Osmanen importiert) hinterhältig-gewalttätigen Ceaușescu-Diktatur nahtlos überführt worden in eine nicht weniger menschenverachtende postsozialistische Konsum- und Kapitalistengesellschaft. Der Übersetzer Georg Aescht schreibt dazu: "Das gewissenlose Personal von einst hat den Sprung von der ideologisch maskierten zur unverhohlen mafiosen Korruption nachgerade akrobatisch bewältigt."

 

Absurdes Theater im wirklichen Leben

Das absurde Theater bei seinem führenden Vertreter Eugène Ionesco ist bei Blandiana die brutale Realität der rumänischen Kontroll - und Securitate-Realität. Da sind Fälle von Zensur, Schikane und Manipulation beschrieben, die von Kafka sein könnten. Keine Phantasie kann so einen Irrsinn erfinden. Ionesco wusste natürlich davon durch Freunde und Kollegen, die ihn in seinem Pariser Exil besucht haben. Erstaunlich finde ich nur, dass man hierzulande auch Emil Cioran oder Mircea Eliade kennt, nicht aber Ana Blandiana, die doch weltweit bekannt und in 28 Sprachen übersetzt ist und zahlreiche Preise erhalten hat. Besonders groteske Formen nimmt die absurde Realität in einer langen Anekdote an, die Blandiana von einer Audienz bei Suzana Gadea, der Kulturministerin bzw. Vorsitzenden des Rates für Kultur und sozialistische Erziehung anlässlich der Einladung zur Verleihung des Herder-Preises in Wien im Jahr 1982 erzählt. Der Schriftstellerverband hatte rechtzeitig einen offiziellen Antrag auf ein Visum gestellt, das dafür erforderlich war. Das Ticket nach Wien und die bestätigte Hotelbuchung lagen seit Monaten vor, doch zwei Wochen vor der Verleihung gab es immer noch keine Antwort. Also bat Blandiana umgehend um eine Audienz, die Sache eilte, und erhielt einen Termin für eine Woche später.

Blandiana und Ehemann fanden sich zur festgesetzten Stunde ein und ein zurückhaltender "Kabinettschef" bat sie, Platz zu nehmen und zu warten. Beunruhigt, weil sie nicht wussten, ob er sie angemeldet hatte, fragten sie nach einer halben Stunde, ob die Genossin Minister wisse, das sie da seien. "Nein", gab er mit größter Selbstverständlichkeit zurück. Ich darf sie nur benachrichtigen, wenn sie mich ruft." Nach etwa drei Stunden ertönte eine Klingel, der Beamte nahm eine Mappe, richtete seine Krawatte, trat ein und kam nach wenigen Minuten zurück. "Ich habe es ihr gesagt", begegnete er unseren fragenden Blicken.

"Und?" - Sie wird mir mitteilen, wann ich Sie hineinführen soll. Die beiden dachten, das wäre nun eine Frage von Minuten. Weit gefehlt, es wurden noch einmal zwei Stunden. Irgendwann folgte die unvermeidliche Frage an den Beamten mit Blick auf die Tür: "Was macht sie eigentlich dort?"

Und der arme Kerl antwortet wahrheitsgemäß: "Was wird sie schon tun? Sie schläft, sie isst... Sie hat ja einen Kühlschrank, auch ein Sofa..."  

Zwei weitere Stunden später (nach Dienstschluss) wurden sie in das Büro der Ministerin geführt, die säuselte: "Kommt, Kinder, kommt herein, ich wollte euch ja immer schon rufen, damit ihr mir erzählt, wie das war beim Erdbeben." Das große Erdbeben von Bukarest war fünf Jahre her. Und nach neun Stunden Wartezeit nun das? Blandiana platzt diplomatisch der Kragen.

"Wir haben gebeten, von Ihnen empfangen zu werden, und haben stundenlang im Vorzimmer gewartet, um Ihr Einverständnis zu einem Ausreisevisum zu erhalten, mit dem ich zur Teilnahme an der Verleihungszeremonie des Herder-Preises fahren möchte, dessen diesjährige Trägerin ich bin." ...

"Aber, aber, Genossin Blandiana, da sind Sie an der falschen Adresse. Ich habe nicht das Recht, Ihnen diese Genehmigung zu erteilen, ich habe hier die Parteibeschlüsse auszuführen, nicht selbst Beschlüsse zu fassen. Was wäre, wenn jeder nach Gutdünken Beschlüsse fassen würde? Wir sind nichts als disziplinierte Soldaten der Partei." ...

"Beim Passamt hat man uns aber gesagt, wir brauchen Ihr Einverständnis, es hängt von Ihnen ab ..." ...

"Von mir hängt es ab, ob ich Ihren Antrag nach oben weiterleite."

Ende der Audienz. Es war Freitag Abend. In der Überzeugung, das alles gelaufen war und aus der Reise nichts würde, fuhren Blandiana und ihr Mann in ihr Wochenendhaus auf dem Land. Als sie am Montag gegen Abend zurückkamen, läutete das Telefon Sturm, es war schon auf der Straße zu hören. Und als sie im Laufschritt die Treppen hochgerannt war und atemlos den Hörer abnahm, hörte sie:

"Genossin Blandiana, wo treiben Sie sich denn herum? Wir telefonieren Ihnen seit Tagen hinterher, und Sie gehen nicht einmal dran. Sie müssen schnellstens mit dem Genossen Rusan kommen und Ihre Pässe abholen. In zwei Tagen müssen Sie in Wien sein. Es geht um das Prestige von Rumänien."

Noch Fragen? Ich bitte um Nachsicht für dieses lange Zitat. Ich habe schon Zwischentexe ausgelassen; noch mehr zu kürzen, hätte die Anekdote zu sehr entstellt, die aber meines Erachtens wesentlich ist für die Art und Eigenart der rumänischen Bürokratie. Die ausführlich beschriebenen Beispiele stehen für zahlreiche weitere zwischen den Polen Kommunismus und Postkommunismus. Das Buch ist nicht streng chronologisch aufgebaut und in erster Linie ein Erinnerungsbuch mit autobiographischen Zügen, ohne eine Autobiograhie zu sein. 

Foto: Pop Verlag

Ana Blandiana (Pseudonym von Otilia Valeria Coman) wurde 1942 im rumänischen Timisoara / Temeswar geboren, hat zahlreiche Lyrik-, Prosa und Essaybände, mehrere Kinderbücher und einen Roman veröffentlicht. Sie zeichnet sich durch eine außerordentliche Beobachtungsgabe aus und setzt sich abseits modischer Trends in unverwechselbarer Sprache besorgt, kritisch und leidenschaftlich mit dem Verlust von Freiheit auseinander. Für die rumänische Literatur hat sie eine vergleichbare Bedeutung wie Anna Achmatowa in Russland oder Václav Havel in der tschechischen Republik. Radikal verweigert sie sich grundsätzlich allen offiziellen Ämtern und Funktionen zugunsten ihrer Unabhängigkeit. Neben ihrer Lyrik und Prosa hat sie in den Wirren nach dem Sturz Ceaușescus als prominente Zeitzeugin mit öffentlichen Auftritten und Initiativen versucht, den Aufbau einer neuen, freiheitlich-demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung zu fördern. Sie war Gründerin und treibende Kraft des überparteilichen Bündnisses "Bürgerallianz". Gemeinsam mit ihrem Mann Romulus Rusan hat sie unter der Schirmherrschaft des Europarates in einem ehemaligen stalinistischen Gefängnis die Gedenkstätte Memorial Sighet geschaffen.

Deutsche Leser stoßen in diesem grandiosen Buch gewiss manchmal an Verständnisgrenzen, die dem Übersetzer nicht gesetzt sind. Georg Aescht wurde selbst 1953 im rumänischen Zeiden/Codlea (Siebenbürgen) geboren, studierte Germanistik in Klausenburg und war zunächst dort Deutschlehrer. Nach seiner Ausreise 1984 war er Korrektor einer Setzerei in Bonn, Redakteur bei der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat und arbeitete neben seiner Übersetzertätigkeit als Literaturkritiker und beim Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas in München.

Auch die Namen des politischen und literarischen Personals in diesem Buch sind für deutsche Leser nicht immer einzuordnen, gelegentliche Eitelkeiten oder sprachliche Umständlichkeiten sind bedeutungslos. Weniger nachvollziehbar ist aus philosophischer Sicht manchmal ein sehr weit gefasster Begriff dessen, was die Autorin unter Manipulation versteht. Sie spricht teilweise schon von Selbstmanipulation, wo andere eher Lernprozesse oder legitime Anpassungen und praktische Kompromisse sehen. 

Jeder Schulunterricht, jede Erziehung, jeder gute Rat unter Freunden eine manipulative Einmischung und Bedrohung der Freiheit? Jede Zusammenarbeit mit anderen zugunsten einer künstlerischen Einsamkeit als Manipulation abzulehnen, geht meines Erachtens zu weit. Zieht man jedoch alle potenziell fragwürdigen Beispiele ab, bleibt eine überwältigende Zahl massiver Fälle unbestreitbarer Manipulation übrig. Übrigens: Voraussetzung jeder echten Manipulation ist, dass sie unbemerkt bleibt, dass sie also den Opfern nicht bewusst wird. Politische Gängelei in Diktaturen hat damit meistens wenig zu tun. Sie ist nackte Erpressung oder offene Gewalt.