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Samstag, 21. Juni 2025

Sprachmächtiger Spagat zwischen Krimi, Heimatroman und Psychothriller

Uta Maria Heim: "Wem sonst als Dir", Roman, Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen, 263 Seiten, 20 €

Diesen Roman gibt es schon seit 2013, da waren die Autorin und ich noch Kollegen bei SWR2 (sie beim Mundart-Hörspiel, ich in der Redaktion von Kultur aktuell) und ich befürchtete im Fall der vom Verlag erwünschten Rezension einen Interessenkonflikt. Ich habe das Buch damals nicht einmal gelesen, was aber daran lag, dass ich pflichtgemäß definitiv viel anderes zu besprechen hatte. Nun habe ich die Lektüre nachgeholt, und nach den mühsamen, gewöhnungsbedürftigen ersten 30 Seiten war ich begeistert, und eine Überraschung jagte die nächste. 

Was war so schwierig? - Das fing und fängt an mit der Wortwahl. Heim, die ich als Lyrikerin vor gefühlten Lichtjahren bei einer Lesung des Schriftstellerverbandes in der bitter kalten, zugigen Vorhalle des Stuttgarter Hauptbahnhofs kennen lernte, wurde 1963 in Schramberg geboren, wo der Schwarzwald am schwärzesten ist. Den dortigen Dialekt hat sie mit der Muttermilch aufgesogen, der ist jedoch nicht unbedingt mainstreamfähig, nicht einmal in Schwaben. Dann zog sie nach Baden-Baden als Hörspieldramaturgin und veröffentlichte Krimis, was sie aus meinem Blickfeld verschwinden ließ, denn ich schrieb über vieles, aber so gut wie nie über Krimis. Schon auf der ersten Seite des Romans steht der im Prinzip nur im Kontext verständliche Satz "Ich bin der Sanftmütigen keiner, ich döbere (alemannisch für schimpfen, toben), wann und wie ich will." Auch die Vokabel "Schulerbub" steht da, und so geht es grad weiter: "Gosch auf", "Die macht Witz", "Hölder" für Hölderlin, "dahanne" und seltdanne. Zum Dialekt kommen teils eigenwillige, auf jeden Fall kreative Wortschöpfungen oder Ausdrücke wie "Wucherer des halben Herzens" oder "seelenblind" oder "der seelentrübe Spitz". Das ganze Buch ist voll davon.

Und dann immer wieder Sätze, die zuschlagen wie eine Axthieb: "Die Gescheiten sind oft auch die Händelsüchtigen. Denken schafft Streit." Dazu kommen Wechsel der Erzählperspektive, die Orientierung erleichtert das nicht, bis man an der Sprechweise den Erzähler zu erkennen lernt: ein Ich-Erzähler in der geschlossenen Psychiatrie, Kriminalbeamte und durch Verhörprotokolle indirekt Zeugen, Kollegen und Nachbarn, ein ehemaliger Staatsanwalt und jetzt Richter, dessen Lebensgefährtin. Die Heim schreibt eine Sprache zwischen Klarheit und Rätsel. Darin versteckt, gern in Andeutungen, sind bröckenweise Stücke der Handlung. Die Rahmenhandlung nämlich ist ein Kriminalfall. 

Christian Schöller wurde in einem Indizienprozess zu 15 Jahren Gefängnis mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt, weil er seine Mutter erstochen haben soll. Der Vater Gustav kam todkrank aus russischer Gefangenschaft zurück und starb 1963, die Mutter Wilhelmine, Jahrgang 1920, heiratete erst nach dem Krieg, war Köchin und bekam ihre Kinder spät und zog sie allein auf. Christian kam 1956, Irene 1958 in Tübingen zur Welt. Irene geriet schon während der Gymnasialzeit über Sympathisantenkreise zur RAF und organisierte 1985 den Überfall auf einen Geldtransport. Dabei wurde der Fahrer erschossen, Irene kam aber als Täterin nicht in Frage, weil Zeugen einen großen, kräftigen Mann als Schützen beschrieben, und Irene war eher zierlich und klein. Sie wird in den Akten als unscheinbare Mitläuferin geführt. Im August 1990 nahm sie sich in der DDR das Leben, nachdem prominente RAF-Mitglieder dort aufgeflogen waren. 

Die Mutter Wilhelmine Schöller wurde an Abend des 17. November, einem Samstag, mit einem Küchenmesser erstochen. Ihr Sohn Christian rief den Notarzt, der die Polizei informierte, und erzählte, man habe gemeinsam Kartoffeln geschält. Er wollte keinen Anwalt, doch Zeugen sahen ihn und die Mutter durchs erleuchtete Küchenfenster hantieren. Er wurde festgenommen und beteuerte immer wieder seine Unschuld. Christian galt als fleißig, aber sonderbar, war als Gymnasiallehrer schon mit 34 Jahren zum Oberstudienrat befördert worden, schrieb an einer Doktorarbeit über Friedrich Hölderlin. Nach seiner Haftentlassung wurde er ins Psychiatrische Zentrum Freudenthal überführt, wo 1940 fast alle Insassen der Euthanasie zum Opfer fielen. "Weil man unsereinem am Kittel flickt, hier hat man Tausende von uns in graue Busse gesteckt, fortgekarrt und dann den Kamin hinaufgejagt." Seine Mutter hat in Grafeneck als Küchenhilfe gearbeitet, als die Nazis von dort fast 11.000 Menschen ins Gas schickten.   

Zwanzig Jahre später nimmt der ehemalige Staatsanwalt K. auf der Suche nach Vergebung Kontakt zu Schöller auf. Er forderte damals die Höchstrafe und fürchtet heute, dass Schöller unschuldig weggesperrt wurde. Der Richter K. wühlt sich durch endlose Aktenberge, und der Fall wird immer undurchsichtiger. Und seine Lebensgefährtin Klara, die eine Tonbandkassette mit Irenes letzten Worten an ihren Bruder besitzt, von der K. nichts weiß und die eine Inzest-Beziehung zwischen den Geschwistern andeutet, muss hilflos mit ansehen, wie K. sich in eine Geschichte hineinsteigert, die sich nicht mehr ändern lässt. Der Plot und die Zusammenhänge entwickeln sich wie die Aufschriebe und Akten in einem Mordfall, d.h. nicht linear, sondern eher in konzentrischen Kreisen und abhängig von wechselnden Perspektiven. Da sich der Fall und seine Vorgeschichte so lange hinziehen, spielen Politik und Zeitgeschichte eine Rolle, bis hin zu den Gegensätzen zwischen Badenern und Schwaben oder Küchensünden wie Spargel mit Salzkartoffeln und Bausünden wie Stuttgart 21. 

Uta Maria Heim schreibt mit trockenem Humor, mit viel Freude an Tratsch und regionalen Eigenheiten. Sie gießt sanften Spott über die Genres Krimi und Heimatroman gleichermaßen, aber niemals von oben herab. Und sie dringt tief ein in die Fragen nach Schuld oder Unschuld. Tobias Gohlis schrieb darüber in der ZEIT, sie täusche Provinz an , "um unverbrüdert vom Chaos Leben zu erzählen". Wohl wahr! 

 

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