Der kanadische Historiker Quinn Slobodian wurde 2020 für sein Buch "Globalisten - Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus" gefeiert, weil er überzeugend und konsesquent diverse Versuche beschrieb, ökonomische Fragen der demokratischen Willensbildung zu entziehen, etwa durch internationale Orgnisationen. Jetzt geht er einen wichtigen Schritt weiter, indem er Vordenker und Geschäftsmodelle nennt. Sein Buch "Kapitalismus ohne Demokratie - Wie Marktradikale die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen zerlegen wollen" (Suhrkamp Verlag Frankfurt a.M., 2023, 428 S., 32 €) ist die Analyse eines Generalangriffs auf den Staat und eine regelbasierte Ordnung der Welt.
Leute wie Elon Musk und Donald Trump dürften nicht die nötige Geduld haben, um solche Bücher zu lesen. Aber sie handeln perfekt danach. Peter Thiel, der PayPal gegründet hat und mit einer frühen Investition in Mark Zuckerbergs Firma Facebook ein Vermögen verdient hatte, verlor in der Finanzkrise 2008 viel Geld. Danach wollte er nur noch dem demokratischen Staat entkommen, der ihn zwang, Steuern zu zahlen. "Ich glaube nicht mehr, dass Freiheit und Demokratie vereinbar sind", schrieb er. "Die große Aufgabe der Libertären besteht darin, einen Weg zu finden, um der Politik in all ihren Formen zu entkommen." Es gehe darum, unkontrollierte Zufluchtsorte für das Geld zu finden, am besten in vielen kleinen Staaten oder staatsähnlichen Gebilden wie "Sonderzonen" mit Steuerprivilegien, z.B. Liechtenstein, Malta oder Irland, die bei jeder Steueranhebung fürchten müssten, die Gans zu verscheuchen, die golderne Eier legt. Die EU-Kommission hat das bis heute nicht wirklich verstanden, sonst würden solche "Geschäftsmodelle" verhindert.
Zwei internationale libertäre Organisationen bzw. Thinktanks sind zentral für die rechtslastige, von anarchokapitalistischen Milliardären betriebene Zersplitterung von immer mehr Staaten in extraterritoriale "Sonderzonen" bzw. Stadtstaaten mit eigener Gesetzgebung und Polizei, ohne freie Wahlen und Parteien, freie Presse, Gewerkschaften, staatliche Gesundheitsfürsorge oder Sozialversicherungen: die Heritage Foundation und die Mont Pèlerin Sociey, beide schwer reich, beide gut vernetzt und stark vertreten durch konservative Politiker wie Margaret Thatcher und einflussreiche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler wie Samuel Huntington ("Krise der Demokratie") oder Friedrich Hayek. Der österreichisch-britische Ökonom hatte schon 1947 die Mont Pèlerin Sociey ins Leben gerufen, um der gefühlten Bedrohung durch den Vormarsch von Sozialismus und Wohlfahrtsstaat zu begegnen. Die Blaupause für die feuchten Träume aller Marktradikalen wurde die britische Kronkolonie Hongkong, abgesichert durch langfristige Verträge, die dafür sorgten, dass ausländische Investoren nur ihrer eigenen Gerichtsbarkeit unterstanden. Populärster Vordenker dieses Trends wurde der US-Journalist Milton Friedman.
Modell Hongkong
Der Containerhafen und Militärstützpunkt produzierte rasch alles Mögliche für den Weltmarkt, weil ab 1949 nach dem Sieg der Kommunisten in China über eine Million Flüchtlinge auf prekäre Arbeit für Hungerlöhne in kleinen Fabriken und Werkstätten angewiesen waren. Die britische Regierung erlaubte Hongkong in den 50er Jahren, selbst über seine Handels- und Steuerpolitik zu entscheiden. Deshalb fand hier der Aufbau des britischen Wohlfahrtsstaates nach dem Zweiten Weltkrieg nicht statt: Die Bewohner der Stadt, die wie ein Unternehmen geführt wurde, waren keine Bürger, sondern Untertanen der Krone. Der Gouverneur hielt die Steuern niedrig und verzichtete auf Zölle. 1978 lag die Einkommenssteuer in Großbritannien bei 83 Pozent und in den USA bei 70 Prozent. In Honkong waren Kapitalerträge und Erbschaften steuerfrei, das Arbeitseinkommen wurde pauschal mit 15 Prozent besteuert. Man kann sich das heute kaum mehr vorstellen.
Gelernt hatte London dieses Modell von den Opiumkriegen der Ostindischen Kompanie, die ungleiche Verträge mit nackter Gewalt durchsetzte. Sehr viel friedlicher sind die Marktradikalen immer noch nicht, denn sie schaffen weltweit prekäre Arbeit ohne soziale Sicherheit und damit Ausbeutung, Armut, Umweltzerstörung und Migration in großem Maßstab. Im Falle bestimmter Konzerne wie Monsanto töten sie Hunderttausende direkt - durch Gift im Wasser und auf den Feldern, genmanipulierte oder mit Antibiotika, Chlor und Mikroplastik verseuchte Lebensmittel aus Massentierhaltung sowie Monokulturen bei Mais, Soja und Palmöl. Stiftungen wie die von Bill und Melinda Gates und die Heritage Foundation finanzieren Wahlkämpfe, aber auch private Universitäten und über diesen Umweg sogar ganze Kulturkämpfe, etwa den des Trump-Freundes Steve Bannon. Sie erstellen nicht nur Gefälligkeitsgutachten für Großkonzerne wie Monsanto, sondern kämpfen mit einer fragwürdigen Mischung aus freier und gekaufter Wissenschaft für den privaten Bildungssektor und gegen bezahlbare staatliche Bildung oder ein staatliches System der Gesundheits- und Rentenvorsorge.
Die Plünderung des Staates
Eine Weiterentwicklung der kolonialen Exklave wurde, als sich das Ende der Kronkolonie Honkong abzeichnete, der Finanzdistrikt von London, der bis heute nicht ganz zu seinem "Gastland" Großbritannien gehört. Bei Wahlen haben die hier ansässigen Unternehmen wie in Honkong das Stimmrecht. Deren 32 000 Stimmen stehen nur 9000 menschliche Stimmen gegenüber. Während sich das britische Weltreich auflöste, schufen Margaret Thatcher und ihre Freunde für die Finanzindustrie hier ein neues Empire aus Steuerparadiesen wie den Cayman Islands und Bermuda sowie ehemaligen Kolonien wie Singapur, Irland und Dubai. Sie beschlossen außerdem, Teile Londons wie die Docklands auszugliedern, dort Investoren von Steuern und Vorschriften zu befreien sowie mit Zuschüssen und Subventionen zu ködern, um aus dem, was bisher Korruption hieß, geltendes Recht zu machen. Das alte urbanistisch-sozialistische London wurde verdrängt und abgerissen, übrig blieb nur eine leere Hülle für Immobilienspekulanten und das Kapital.
Der letzte und entscheidende Schritt dieser Entwicklung war der elektronische Devisen- und Aktienhandel. Seit diese Geschäfte in Sekundenbruchteilen rund um die Welt rasen konnten, ist so gut wie jede staatliche Kontrolle des Kapitals unmöglich geworden. Nun gibt es die "Zone zum Mitnehmen" in mobilen Laptop-Köfferchen und Smartphones. Eine neue Art internationaler Reichsbürger oder Anarchokapitalisten entstand, die keine Autorität außer ihrer eigenen mehr anerkennen und ihre Aktivitäten jeglicher Regulierung entziehen. Sie beherrschen Monopole und Schlüsseltechnologien, die wie das "Star Link" von Elon Musk etwa in der Ukraine über Krieg und Frieden entscheiden, fliegen ins All und haben dort inzwischen mehr Satelliten für ihre Kommunikationssysteme (und Weltraumschrott!) als jeder Staat. Umweltschutz und Klima sind ihnen egal, weil sie sowieso zum Mars wollen.
Soziale Unwucht als Prinzip
Da die Steuerflüchtlinge aber nicht nur im Internet, sondern auch im wirklichen Leben sichere Zufluchtsorte wollen, sind physische Zonen in jeder Form nie aus der Mode. Sie beginnen in den Gated Communities für Millionäre und betuchte Rentner in Florida und Kalifornien, die einfach nur ein erhöhtes Bedürfnis nach Ruhe und Sicherheit haben. Und sie enden noch lange nicht in den Stiftungs- und Steuerparadiesen von Dubai und Liechtenstein. Ich bin Mitglied des (an sich unverdächtigen) dortigen PEN-Clubs und hatte öfters Gelegenheit, bei Spaziergängen die vielen Villen in den Randlagen von Vaduz (z.B. Schan) zu bewundern, in denen interntionale Stiftungen residieren. Der Fürst, der all das möglich macht, ist der letzte absolutistische Monarch in einem demokratischen Europa. Im Vergleich zur Geheimnistuerei seiner Regierung ist das Schweizer Bankgeheimnis ein Kindergeburtstag.
Man muss sich klar machen, dass der erste Schritt um Ausstieg aus der politisch kontrollierten Welt oft schon ist, dass man sein Kind in einer Privatschule anmeldet oder Mitglied in einem exklusiven Golfclub wird. Wo Steuerflucht und Steuervermeidung legale "Gestaltungsmittel" sind und Steuerhinterziehung zum Volkssport wird, ist der nächste Schritt bereits vollzogen. Dass es dafür oft sehr nachvollziehbare Gründe gibt, macht das Ganze nicht besser. Umso wichtiger ist es, den politischen Ursachen einer sozialen Unwucht, die mit Händen zu greifen ist, einen Riegel vorzuschieben. Schon deshalb ist die Lektüre dieses großartigen, wichtigen, verständlich geschriebenen Buches zu empfehlen.
In Deutschland öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter und 90 Prozent der Vermögen sind in der Hand von weniger als 10 Prozent der Bevölkerung. Vermutlich ist das die Hauptursache für den Aufstieg rechtsextremer Parteien und das schwindende Vertrauen in eine demokratische Politik. Immer noch gibt es da Parteien, zu deren DNA es offenbar gehört, aus ideologischen Gründen keine Erbschaftssteuer zuzulassen. Ausgerechnet Gutverdienende und Reiche werden durch Beitragsbemessungsgrenzen davor geschützt, den gleichen Prozentsatz für die Renten- und Krankenversicherung zu bezahlen wie weniger gut Gestellte. Arbeitslohn und sogar Renten werden weit höher besteuert als Gewinne aus Anlagevermögen. Dieses Ungleichgewicht wird mit Zähnen und Klauen verbissen verteidigt und ist ein echtes Problem mit der Tendenz, sich selbst zu vergrößern. Jede Regierung, die Ernst macht mit dem Versuch, den Aufstieg rechts- und linksextremer Parteien zu beenden oder gar umzukehren, muss diese Aufgabe lösen. Hier hat die schwarzrote Koalition von Friedrich Merz neben Migrationskontrolle, Sicherheit, Infrastrukturreform und Wohnungsbau einen weiteren Lackmustest zu bestehen. Quinn Slobodian hat dafür ein praktisches Handbuch geliefert.