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Dienstag, 29. April 2025

Ziel Staatszerstörung: Die gefährlichen Utopien der Neoliberalen und Libertären

Der kanadische Historiker Quinn Slobodian wurde 2020 für sein Buch "Globalisten - Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus" gefeiert, weil er überzeugend und konsesquent diverse Versuche beschrieb, ökonomische Fragen der demokratischen Willensbildung zu entziehen, etwa durch internationale Orgnisationen. Jetzt geht er einen wichtigen Schritt weiter, indem er Vordenker und Geschäftsmodelle nennt. Sein Buch "Kapitalismus ohne Demokratie - Wie Marktradikale die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen zerlegen wollen" (Suhrkamp Verlag Frankfurt a.M., 2023, 428 S., 32 €) ist die Analyse eines Generalangriffs auf den Staat und eine regelbasierte Ordnung der Welt.

Leute wie Elon Musk und Donald Trump dürften nicht die nötige Geduld haben, um solche Bücher zu lesen. Aber sie handeln perfekt danach. Peter Thiel, der PayPal gegründet hat und mit einer frühen Investition in Mark Zuckerbergs Firma Facebook ein Vermögen verdient hatte, verlor in der Finanzkrise 2008 viel Geld. Danach wollte er nur noch dem demokratischen Staat entkommen, der ihn zwang, Steuern zu zahlen. "Ich glaube nicht mehr, dass Freiheit und Demokratie vereinbar sind", schrieb er. "Die große Aufgabe der Libertären besteht darin, einen Weg zu finden, um der Politik in all ihren Formen zu entkommen." Es gehe darum, unkontrollierte Zufluchtsorte für das Geld zu finden, am besten in vielen kleinen Staaten oder staatsähnlichen Gebilden wie "Sonderzonen" mit Steuerprivilegien, z.B. Liechtenstein, Malta oder Irland, die bei jeder Steueranhebung fürchten müssten, die Gans zu verscheuchen, die golderne Eier legt. Die EU-Kommission hat das bis heute nicht wirklich verstanden, sonst würden solche "Geschäftsmodelle" verhindert.

Zwei internationale libertäre Organisationen bzw. Thinktanks sind zentral für die rechtslastige, von anarchokapitalistischen Milliardären betriebene Zersplitterung von immer mehr Staaten in extraterritoriale "Sonderzonen" bzw. Stadtstaaten mit eigener Gesetzgebung und Polizei, ohne freie Wahlen und Parteien, freie Presse, Gewerkschaften, staatliche Gesundheitsfürsorge oder Sozialversicherungen: die Heritage Foundation und die Mont Pèlerin Sociey, beide schwer reich, beide gut vernetzt und stark vertreten durch konservative Politiker wie Margaret Thatcher und einflussreiche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler wie Samuel Huntington ("Krise der Demokratie") oder Friedrich Hayek. Der österreichisch-britische Ökonom hatte schon 1947 die Mont Pèlerin Sociey ins Leben gerufen, um der gefühlten Bedrohung durch den Vormarsch von Sozialismus und Wohlfahrtsstaat zu begegnen. Die Blaupause für die feuchten Träume aller  Marktradikalen wurde die britische Kronkolonie Hongkong, abgesichert durch langfristige Verträge, die dafür sorgten, dass ausländische Investoren nur ihrer eigenen Gerichtsbarkeit unterstanden. Populärster Vordenker dieses Trends wurde der US-Journalist Milton Friedman.

 

Modell Hongkong

Der Containerhafen und Militärstützpunkt produzierte rasch alles Mögliche für den Weltmarkt, weil ab 1949 nach dem Sieg der Kommunisten in China über eine Million Flüchtlinge auf prekäre Arbeit für Hungerlöhne in kleinen Fabriken und Werkstätten angewiesen waren. Die britische Regierung erlaubte Hongkong in den 50er Jahren, selbst über seine Handels- und Steuerpolitik zu entscheiden. Deshalb fand hier der Aufbau des britischen Wohlfahrtsstaates nach dem Zweiten Weltkrieg nicht statt: Die Bewohner der Stadt, die wie ein Unternehmen geführt wurde, waren keine Bürger, sondern Untertanen der Krone. Der Gouverneur hielt die Steuern niedrig und verzichtete auf Zölle. 1978 lag die Einkommenssteuer in Großbritannien bei 83 Pozent und in den USA bei 70 Prozent. In Honkong waren Kapitalerträge und Erbschaften steuerfrei, das Arbeitseinkommen wurde pauschal mit 15 Prozent besteuert. Man kann sich das heute kaum mehr vorstellen. 

Gelernt hatte London dieses Modell von den Opiumkriegen der Ostindischen Kompanie, die ungleiche Verträge mit nackter Gewalt durchsetzte. Sehr viel friedlicher sind die Marktradikalen immer noch nicht, denn sie schaffen weltweit prekäre Arbeit ohne soziale Sicherheit und damit Ausbeutung, Armut, Umweltzerstörung und Migration in großem Maßstab. Im Falle bestimmter Konzerne wie Monsanto töten sie Hunderttausende direkt - durch Gift im Wasser und auf den Feldern, genmanipulierte oder mit Antibiotika, Chlor und Mikroplastik verseuchte Lebensmittel aus Massentierhaltung sowie Monokulturen bei Mais, Soja und Palmöl. Stiftungen wie die von Bill und Melinda Gates und die Heritage Foundation finanzieren Wahlkämpfe, aber auch private Universitäten und über diesen Umweg sogar ganze Kulturkämpfe, etwa den des Trump-Freundes Steve Bannon. Sie erstellen nicht nur Gefälligkeitsgutachten für Großkonzerne wie Monsanto, sondern kämpfen mit einer fragwürdigen Mischung aus freier und gekaufter Wissenschaft für den privaten Bildungssektor und gegen bezahlbare staatliche Bildung oder ein staatliches System der Gesundheits- und Rentenvorsorge.

 

Die Plünderung des Staates

Eine Weiterentwicklung der kolonialen Exklave wurde, als sich das Ende der Kronkolonie Honkong abzeichnete, der Finanzdistrikt von London, der bis heute nicht ganz zu seinem "Gastland" Großbritannien gehört. Bei Wahlen haben die hier ansässigen Unternehmen wie in Honkong das Stimmrecht. Deren 32 000 Stimmen stehen nur 9000 menschliche Stimmen gegenüber. Während sich das britische Weltreich auflöste, schufen Margaret Thatcher und ihre Freunde für die Finanzindustrie hier ein neues Empire aus Steuerparadiesen wie den Cayman Islands und Bermuda sowie ehemaligen Kolonien wie Singapur, Irland und Dubai. Sie beschlossen außerdem, Teile Londons wie die Docklands auszugliedern, dort Investoren von Steuern und Vorschriften zu befreien sowie mit Zuschüssen und Subventionen zu ködern, um aus dem, was bisher Korruption hieß, geltendes Recht zu machen. Das alte urbanistisch-sozialistische London wurde verdrängt und abgerissen, übrig blieb nur eine leere Hülle für Immobilienspekulanten und das Kapital.

Der letzte und entscheidende Schritt dieser Entwicklung war der elektronische Devisen- und Aktienhandel. Seit diese Geschäfte in Sekundenbruchteilen rund um die Welt rasen konnten, ist so gut wie jede staatliche Kontrolle des Kapitals unmöglich geworden. Nun gibt es die "Zone zum Mitnehmen" in mobilen Laptop-Köfferchen und Smartphones. Eine neue Art internationaler Reichsbürger oder Anarchokapitalisten entstand, die keine Autorität außer ihrer eigenen mehr anerkennen und ihre Aktivitäten jeglicher Regulierung entziehen. Sie beherrschen Monopole und Schlüsseltechnologien, die wie das  "Star Link" von Elon Musk etwa in der Ukraine über Krieg und Frieden entscheiden, fliegen ins All und haben dort inzwischen mehr Satelliten für ihre Kommunikationssysteme (und Weltraumschrott!) als jeder Staat. Umweltschutz und Klima sind ihnen egal, weil sie sowieso zum Mars wollen.

 

Soziale Unwucht als Prinzip

Da die Steuerflüchtlinge aber nicht nur im Internet, sondern auch im wirklichen Leben sichere Zufluchtsorte wollen, sind physische Zonen in jeder Form nie aus der Mode. Sie beginnen in den Gated Communities für Millionäre und betuchte Rentner in Florida und Kalifornien, die einfach nur ein erhöhtes Bedürfnis nach Ruhe und Sicherheit haben. Und sie enden noch lange nicht in den Stiftungs- und Steuerparadiesen von Dubai und Liechtenstein. Ich bin Mitglied des (an sich unverdächtigen) dortigen PEN-Clubs und hatte öfters Gelegenheit, bei Spaziergängen die vielen Villen in den Randlagen von Vaduz (z.B. Schan) zu bewundern, in denen interntionale Stiftungen residieren. Der Fürst, der all das möglich macht, ist der letzte absolutistische Monarch in einem demokratischen Europa. Im Vergleich zur Geheimnistuerei seiner Regierung ist das Schweizer Bankgeheimnis ein Kindergeburtstag. 

Man muss sich klar machen, dass der erste Schritt um Ausstieg aus der politisch kontrollierten Welt oft schon ist, dass man sein Kind in  einer Privatschule anmeldet oder Mitglied in einem exklusiven Golfclub wird. Wo Steuerflucht und Steuervermeidung legale "Gestaltungsmittel" sind und Steuerhinterziehung zum Volkssport wird, ist der nächste Schritt bereits vollzogen. Dass es dafür oft sehr nachvollziehbare Gründe gibt, macht das Ganze nicht besser. Umso wichtiger ist es, den politischen Ursachen einer sozialen Unwucht, die mit Händen zu greifen ist, einen Riegel vorzuschieben. Schon deshalb ist die Lektüre dieses großartigen, wichtigen, verständlich geschriebenen Buches zu empfehlen. 

In Deutschland öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter und 90 Prozent der Vermögen sind in der Hand von weniger als 10 Prozent der Bevölkerung. Vermutlich ist das die Hauptursache für den Aufstieg rechtsextremer Parteien und das schwindende Vertrauen in eine demokratische Politik. Immer noch gibt es da Parteien, zu deren DNA es offenbar gehört, aus ideologischen Gründen keine Erbschaftssteuer zuzulassen. Ausgerechnet Gutverdienende und Reiche werden durch Beitragsbemessungsgrenzen davor geschützt, den gleichen Prozentsatz für die Renten- und Krankenversicherung zu bezahlen wie weniger gut Gestellte. Arbeitslohn und sogar Renten werden weit höher besteuert als Gewinne aus Anlagevermögen. Dieses Ungleichgewicht wird mit Zähnen und Klauen verbissen verteidigt und ist ein echtes Problem mit der Tendenz, sich selbst zu vergrößern. Jede Regierung, die Ernst macht mit dem Versuch, den Aufstieg rechts- und linksextremer Parteien zu beenden oder gar umzukehren, muss diese Aufgabe lösen. Hier hat die schwarzrote Koalition von Friedrich Merz neben Migrationskontrolle, Sicherheit, Infrastrukturreform und Wohnungsbau einen weiteren Lackmustest zu bestehen. Quinn Slobodian hat dafür ein praktisches Handbuch geliefert.

















Montag, 28. April 2025

Offener Brief an Ines Witka, Schriftstellerverband (VS) Baden-Württemberg zu Meta

Liebe Ines, die Entwicklung von Mark Zuckerberg, Meta und den USA unter Trump weckt bei mir den zwingenden Eindruck, dass ich es nicht länger verantworten kann, bei Facebook, WhatsApp und Instagram aktiv zu sein. Ich werde mich daher dort schrittesweise zurückziehen und bitte Dich, mein Profil bei Insta zu löschen. 

Es tut mir Leid um die viele Arbeit, die Du im Vorstand bei Instagram für uns investiert hast, und auch ein Stück weit um die einzige "kostenlose" Werbeplattform, die ich bei Facebook hatte. Doch ich kann und will nicht mitschuldig sein bzw. werden durch politische Indifferenz gegenüber einem Tech-Oligarchen, der permanent deutsches und europäisches (Urheber-) Recht bricht, durch sein manipulatives Monopol rechte Hetze und Fake News verbreitet, ein Forum für Pornoseiten und Hacker bietet sowie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat untergräbt und einen Präsidenten unterstützt, der offen faschistisch und rassistisch agiert. Donald Trump demontiert systematisch den Rechtsstaat USA, schadet mit seiner disruptiven libertären Wirtschaftspolitik dem eigenen Volk und der ganzen Welt, er bedroht die Ukraine und alle Verbündeten durch Verrat und ständige Vertragsbrüche. 

Dass man etwas dagegen tun kann, zeigt der Fall Tesla. Ich werde mich dafür einsetzen, dass wir unsere Vernetzung über die VS-Homepage intensivieren und als Alternative den (Schweizer) Messenger Threema anstelle von WhatsApp verwenden. Der finanziert sich durch eine App, die man kaufen muss, nicht durch Werbung. Sie kostet weniger als ein Bier und ist das bisher sicherste Kommunikationssystem der Welt, sammelt keine Nutzerdaten und stellt sie keiner Regierung und keinem Geheimdienst zur Verfügung. 

Reichweite kann man schaffen, wenn viele bereit sind, sie nicht länger einfach vorauszusetzen. Es ist wie in der Politik: Wer glaubt, dass andere die große Reichweite für uns schon schaffen werden, ist blind für ihren Missbruch und macht ihn damit erst möglich. Ich hoffe, Du hast Verständnis für meine Entscheidung und kannst vielleicht sogar den VS-Vorstand von meinen Argumenten überzeugen. Bis hoffentlich bald! Liebe Grüße, Widmar

Mittwoch, 23. April 2025

Wiederentdeckt: "Deutsche Johannes-Passion" von Christoph Demantius (1567 - 1643), eine Perle des Frühbarock

Die Degerlocher Kantorei in der Versöhnungskirche

Am Palmsonntag, dem 13. April konnten Freunde alter Chormusik in der Versöhnungskirche unter dem Stuttgarter Fernsehturm eine barocke Wiederentdeckung erleben: die "Passion nach dem Evangelisten Johannes und Weissagung des Proheten Jesaia zum Leiden und Sterben Jesu" für sechsstimmigen Chor a capella aus dem Jahr 1631. Das Werk stammt von Christoph Demantius, einem der großen, heute (so gut wie) vergessenen Volkalkomponisten der späten deutschen Spätrenaissance am Übergang zum Frühbarock. Der gebürtige Böhme wirkte zeitlebens  als Domkantor in der  Stadt Freiberg. 

Die Stadt gilt als das älteste und wichtigste Zentrum des sächsischen Bergbaus und wurde durch seine Silberbergwerke in 800 Jahren reich. Hier wusste man gute Musik zu schätzen und konnte sich einen Domkantor leisten. Dessen selten aufgeführte Johannespassion ist rein motettisch angelegt, also eine A-capella-Komposition ohne Instrumentalbegleitung und Solisten. Demantius ist im gleichen Jahr geboren und gestorben wie Claudio Monteverdi, und mit dem Italiener teilt er nicht nur den üppigen polyphonen Schönklang, sondern auch neue musikalische Ideen in Kombination mit der eigentlich schon aus der Mode gekommenen Kompositionsform der Motette. Das Ergebnis ist ein Klanggewebe aus starker Polyphonie (doch schnörkellos, ganz ohne Koloraturen) und homophonen, wie eine Folge von Akkorden gestalteten Passagen, in denen die Sängerinnen und Sänger gleichzeitig denselben Text singen. Außerdem übernahm Demantius aus Italien (früher als etwa Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach) mutig das ausdrucksstarke Stilmittel ausgeprägter Dissonanzen, die damals eigentlich nicht erlaubt waren. 

Barbara Straub mit Claus Schulten

Trauer und Schmerz sollen in dieser Passionsmusik hörbar werden. Und sie wurden hörbar. Stilbewusst, intonationssicher und expressiv sang die Degerlocher Kantorei unter der Leitung von Bezirkskantorin Barbara Straub, die einmal mehr mit viel Gespür für Historie das Programm ausgewählt hatte und ganz im Dienst der leidenschaftichen Deklamation dirigerte. Rhythmisch differenzert führte sie die Sängerinnen und Sänger durch diese starke Passion, immer im Sinne einer Textausdeutung, in der Demantius die Zuhörer zum inneren Nacherleben und Mitempfinden der grausamen biblischen Szenen anregen wollte. Als etwa Jesus auf die Frage des Hohen Priesters nach seiner Lehre sagt, er habe immer öffentlich gesprochen und verstehe darum die Frage nicht, schlägt ihn einer der Soldaten, und nur die Männerstimmen wiederholen in einem dramatischen Crescendo drei Mal die Frage Jesu: "Habe ich übel geredt, so beweise es. Habe ich aber recht geredt, warum schlägst du mich?"

Der Komponist hat dem Passionstext des Evangeliums nach Johannes die Weissagungen des Propheten Jesaia zur Seite gestellt, die man als Prophezeihung des Leidens Christi interpretieren kann. Der Cembalist Claus Schulten spielte zwischen den je drei Teilen von Passion und Weissagung Neue Musik für mitteltönig gestimmtes Cembalo aus dem Zyklus "Von 12 Perlen sind die Tore - die 12 Edelsteine des himmlischen Jerusalem" (2019) von Hans Peter Braun, die "Galiarda Dolorosa" von Peter Philips (1561 - 1628) und eine Pavane von William Byrd (1543 - 1623).