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Montag, 6. März 2017

Archipel GULAG auf türkisch?

Pressefreiheit an die Wand gestellt
Can Dündar: Lebenslang für die Freiheit. 299 Seiten, 22 €, Verlag Hoffmann und Campe.

Als ich 1995 in Istanbul den greisen Satiriker Aziz Nesin besuchte, hatte der bekennende Atheist ("Tagebuch des Botschafters in Sodom", "Die Umleitung") noch Polizeischutz gegen fanatische Islamisten. Den brauchte er auch, nachdem bei einem alevitischen Kulturfest in Sivas zum 450. Todestag des Aleviten-Dichters Pir Sultan Abdal ein aufgehetzter Mob das Tagungshotel in Brand gesetzt hatte. Es gab 37 Tote, Nesin war unter den Verletzten. Dennoch klagte ihn ein Istanbuler Staatsanwalt wegen Volksverhetzung an (nicht etwa den Predigter, der in Sivas die Leute aufgehetzt hatte). Aber damals war die Türkei noch ein Rechtsstaat, es wurde nichts aus der heute üblichen Perversion, aus Opfern Täter zu machen. Doch Recep Tayip Erdogan war schon Oberbürgermeister von Istanbul und warf offenbar einen langen Schatten voraus.
Can Dündar, bis zu seiner Verhaftung Chefredakteur der unabhängigen regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet, zählte damals 30 Jahre und arbeitete an seiner Doktorarbeit in politischen Wissenschaften. In seinem Buch "Lebenslang für die Freiheit - Aufzeichnungen aus dem Gefängnis" (erschienen 2016 in Hamburg bei Hoffmann und Campe, 304 Seiten, 22 €) erzählt der mutige (und tapfere) Journalist, wie er 2015 wegen Spionage und Verrat von Staatsgeheimnissen verhaftet wurde, weil er Beweise für illegale Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an eine Bürgerkriegsmiliz in Syrien veröfffentlicht hatte. Staatspräsident Erdogan hatte ihn persönlich angezeigt und lebenslage Haft gefordert. Dann wurde er in erster Instanz zu fünf Jahren und zehn Monaten  verurteilt. Wir alle erinnern uns an die Fernsehbilder dieses Tages, die zeigen, wie ein Attentäter ihn vor dem Gericht als Vaterlandsverräter beschimpft und auf ihn schießt. Dündar überlebte nur, weil seine Frau den Schützen zur Seite reißen konnte.
Dündar berichtet auch von seiner dreimonatigen Unteruchungshaft oder besser Isolationshaft in einer speziellen Anstalt: der "Campus der Strafvollzugsanstalten Silivri" ist neu, voller Intellektueller (Offiziere, ehemalige Richtern und Staatsanwälte, Professoren, Künstler, vor allem Autoren und Redakteure). Über 150 sind es inzwischen, die diesen seltsamen, kafkaesken "Campus" bewohnen - oft Monate und Jahre ohne Gerichtsverfahren oder Urteil. Wer wissen möchte, was der kürzlich inhaftierte WELT-Korrespondent Deniz Yücel gerade durchmacht, kann es hier lesen.
Zwei Dinge sind inzwischen wesentlich anders als 1995: Statt Polizeischutz schickt der Staat kritischen Autoren heute Killer - direkt oder indirekt. Und zweitens gibt es statt einer unabhängigen Justiz auf Betreiben von Erdogan und seiner AKP-Regierung nur noch Marionetten. Staatsanwälte, Kripobeamte und Soldaten nahmen 2015 die Geheimdienstler fest, denen vermutlich Erdogan persönlich ihren Waffendeal mit syrischen Aufständischen befohlen hat.
Aber alle Zeugen sitzen längst selbst im Knast, weil sie zu viel wissen und weil sie drauf und dran waren, zu verhindern, dass Erdogan die bisher letzte Wahl gewann. Er hätte sie wohl verloren, wäre bekannt gewesen, dass er den IS oder mit ihm verbündete Milizen unterstützt hat, was nach dem Völkerrecht verboten ist und was er immer bestritten hat. Er hätte als das dagestanden, was er ist: ein Lügner, ein aggressiver Autokrat, ein Unterstützer militanter Islamisten.
Nein, es gibt keinen türkischen Archipel GULAG, denn erstens fehlt das tödliche Klima Sibiriens und zweitens das spezielle Merkmal der mörderischen Arbeitslager, deren sich Wladimir Putin noch ebenso gern bedient wie weiland Adolf Hitler und Joseph Stalin, um Kritiker zu brechen oder verschwinden zu lassen. Es gibt auch genug zu essen und medizinische Versorgung in türkischen Gefängnissen. Aber die Zahlen der verfolgten Autoren und Journalisten sind wohl ähnlich hoch wie einst für die UdSSR von Alexander Solschenizyn und Andrej Sinjawski beschrieben oder wie in China und Nordkorea (darüber ist nur zu wenig bekannt, weil die Regierung dort sogar das Internet rigoros kontrolliert). Und es gibt in der Türkei heute weder Meinungs- und Pressefreiheit, noch weniger eine unabhängige Justiz.
Freiheit und Demokratie befinden sich heute wohl wieder in einem "kalten Krieg" anderer Art und einer international neuen Dimension. Dagen hilft aber keine NATO. Denn ihre Feinde sitzen inzwischen nicht mehr nur jenseits eines "eisernen Vorhangs" oder im Reich afrikanischer bzw. asiatischer Despoten, sondern auch im Herzen des "Westens": in Dunkeldeutschland, in Trumps USA, in rechtspopulistischen Parteien ringsum in ganz Europa. Widerstand ist da erste Bürgerpflicht. Aber wie schwer das ist, zeigt auch eine Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich von Erdogan am Nasenring vorführen lässt. Anstand und Ehrlichkeit kosten, und das darf man nicht länger unter den Teppich kehren. Davon kann Can Dündar ein Lied singen. Inzwischen wurde er in Abwesenheit zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Unbedingt lesen!