Seiten

Samstag, 18. Februar 2017

Staatsrecht in der Krise: Juristen diskutieren über Asylrecht

Sachliche Irrtümer, Banalitäten, Schuldzuweisungen und platte Polemik von links und rechts: Da fehlt nichts, was auch in der Zeitung steht und in bescheuerten politischen Debatten vorkommt. Das Buch "Der Staat in der Flüchtlingskrise - Zwischen gutem Willen und geltendem Recht" zeigt vor allem, dass die Staatsrechtler bis jetzt nur selten einen guten Job machen. Trotzdem ist es den Herausgebern und Professoren Otto Depenheuer (Köln) und Christoph Grabenwarter (Wien) hoch anzurechnen, dass sie sich überhaupt mit einem Sammelband auf dieses politisch und ideologisch verminte Gelände wagen. Denn sie regen zumindest in Fachkreisen eine Diskussion an, die politischen Beratern von Angela Merkel (und Horst Seehofer!) in einer entscheidenden Phase gefehlt hat. Das tun sie offen und ehrlich. Peinlich finde ich nicht diese Diskussion, sondern den Zeitpunkt - zu spät. So gesehen, offenbart dieses Buch also zunächst keine Flüchtlingskrise, sondern eine Krise der Staatsrechtler.
Sie, die es hätten wissen müssen, haben wichtige Informationen erst hier zusammengetragen und ihre Meinung, ob gewichtig oder nicht, zu lange hinterm Berg gehalten. Beispiel: Den Bundestag beim Rettungsschirm für die Banken 2009 und beim Verzicht auf Grenzkontrollen bei der Flüchtlingswelle von 2015 nicht einzubeziehen, war ebenso verfassungswidrig wie unnötig. Es war für die Herren Professoren politisch nicht opportun, anders zu verfahren und zeitnah etwas zu sagen? - Nein, ich finde, so viel Feigheit steht unkündbaren Beamten auf Lebenszeit nicht zu. Hier offenbaren sich eine Denkfaulheit und ein Geist der Fahrlässigkeit bzw. Verantwortungslosigkeit (sowohl gegenüber dem deutschen Wähler und Steuerzahler als auch gegenüber den Grundwerten der Menschlichkeit, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der UN-Flüchtlingskonvention), dass mir schier die Luft wegbleibt. Spekulationen, unzulässige Hochrechnungen über eine "Islamisierung" der Gesellschaft in 100 Jahren, unscharfe Begriffe wie "Verfassungsidentität des Grundgesetzes" (Hä?!), platte Polemik ("Gutmenschentum") oder die Behauptung, Integration und Arbeitserlaubnisse für Flüchtlinge seien schon ein Verstoß gegen das Grundgesetz, sind bereits schlimm. Aber schlimmer geht immer.
An Volksverhetzung grenzen aber schon die quasi satirischen Versuche von Josef Isensee, Menschenwürde und Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes zur Zielscheibe übler Anwürfe zu machen, etwa die garantierte Menschenwürde als "Einladungskarte der Willkommenskultur, zugleich deren Kreditkarte" zu diffamieren. Oder die völkisch durchdrungenen Einlassungen von Dietrich Murswiek über Nationalstaatlichkeit, Staatsvolk und Grenzschutz als Teil der deutschen "Identität": Als ob irgendwo geschrieben stünde (außer natürlich bei Thilo Sarazin "Deutschland schafft sich ab" oder Adolf Hitler "Mein Kampf"), was eigentlich "deutsch" heißt. Dass hier keine Multikulti-Gesellschaft, sondern eine nur nach Siedlungsraum, Geschichte, Sprache und Tradition deutsche gemeint ist, wenn das Grundgesetz sagt "Alle Gewalt geht vom Volke aus", ist höchstens seine höchst private Meinung, aber kein Fachurteil. Solche Leute müsste man anzeigen.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich finde es wichtig, über den Unterschied zwischen politischem Asyl, Flüchtlingsschutz und Arbeitsmigreation genauer Bescheid zu wissen und endlich auch in Berlin offen zu diskutieren. Wir brauchen z.B. ein Einwanderungsgesetz wie Canada, das die CDU seit Jahrzehnten beharrlich hintertreibt. Aber Staatsrechtler sollten sich auch nicht anmaßen, jede menschliche Regung der Staatsräson zu opfern, allen Flüchtlingen zu unterstellen, sie suchten nur die soziale Hängematte und seien arbeitsscheu. Das ist kein Diskussionsbeitrag, das ist strafbar. Deutschland ist, auch wenn das die AfD gern anders hätte, nicht wie Donald Trumps USA.
Nicht strafbar, aber von sträflichem Leichtsinn geprägt sind dagegen undifferenzierte und blauäugige Beiträge über Abschiebungshindernisse laut EU-Recht, die Kriminelle und Bürgerkriegsopfer in einen Topf werfen, indem Abschiebungen insgesamt fast unmöglich werden, sind zumindest naiv und realitätsfern. Dass jeder Ministerpräsident das Gewohnheitsrecht hat, aus Berlin angeordnete Abschiebungen zeitweise auszusetzen, hat z.B. keine juristische Grundlage, sondern nur eine politische. Gut zu wissen. Einzelfallprüfungen andererseits sind auch nicht verhandelbar.
Vielleicht muss einmal die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention pragmatisch überprüft werden, statt sie zum unbegrenzten Bleiberecht auf Kosten Dritter zu verbiegen. Wer seine Papiere vernichtet, kann damit nicht automatisch Schutz vor Abschiebung verwerben. Da stimmt die Praxis einfach nicht. Und wer straffällig wird oder nach Einschätzung der Behörden gefährlich ist, muss abgeschoben werden können - egal, ob seine Heimatbehörden bei der Beschaffung von Ersatzpapieren kooperieren oder nicht. Deutsche Staatsrechtler sollten ihren Staat ermutigen, seine Interessen auch gegenüber Staaten mit fragwürdiger politischer Ausrichtung robust zu vertreten. Das tun sie aber seltsamerweise nicht. Da ist also Luft nach oben.
Die Debatte ist nicht zu Ende, sie hat vielmehr gerade erst begonnen - mit mehreren Jahren Verspätung. Und sie ist zu wichtig, um sie reaktionären oder sozialromentisch verirrten Professoren zu überlassen. Das Thema geht uns alle an, vor allem wenn da der Rechtsstaat bemüht wird. Und deshalb ist dieses Buch im Wahljahr 2017 eine wichtige Lektüre, wenn auch nicht immer erfreulich. Übrigens, auch wenn´s manchen schwerfällt: Einwanderung, Flüchtlingspolitik und Abschiebepraxis müssen bundeseinheitlich geregelt sein. Dass hier jeder Regionalfürst sein eigenes Recht macht, ist ein Ärgernis.


Keine Kommentare: