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Montag, 5. September 2016

Große Emotionen: "Himmlischer Reichtum" mit Bach und Bruckner

Dirigent Philippe Jordan (auf dem Podium) und das Gustav Mahler Jugendorchester

"Himmlischer Reichtum" war das Thema des Konzerts in der Stuttgarter Liederhalle, zu dem die Bachakademie am 4. September beim Musikfest Stuttgart das Gustav Mahler Jugendorchester in die Liederhalle eingeladen hatte: eine sehr gute Idee. Die Bach-Kantate "Ich habe genug" (BWV 82, historisch wohl vom erst kürzlich identizifierten Textautor, dem Theologen und Bach-Schüler Christoph Birkmann "genung" geschrieben), bezieht sich auf die im Lukasevangelium überlieferte Geschichte des Propheten Simeon, der bei der Beschneidung Jesu (und rituellen Reinigung der Mutter, Maria) als alter Mann im Tempel war, in dem Kind Gott erkannte und gesagt haben soll, nun könne er in Frieden sterben, da er den Erlöser gesehen habe. - Eine schöne Musik, bei der eine kammermusikalische Formation des Mahler-Jugendorchesters auch ohne historische Instrumente der Bach-Zeit durchaus eine gute Figur machte.
Auch für Bach sind Kantaten mit eingestreuten Rezitativen ungewöhnlich und unterbrechen den Fluss, aber dafür kann heute niemand etwas. Die Musik zur Absage an die schnöde Welt und voller Vorfreude auf himmlische Seligkeit ist ausgesprochen schön; der Bariton Christian Gerhaher und der Solo-Oboist Bernhard Heinrichs gaben eine an sich tadellose Vorstellung mit viel Einfühlungsvermögen und großer Virtuosität. Keine Patzer, große Stimmsicherheit und Präsenz in Höhen und Tiefen. Nur war leider der Oboist (erkennbar am fotokopierten Zusatzblatt im Programm) erst kurzfristig dazugestoßen. Da war wohl keine Zeit für gemeinsame Proben gewesen, und so fehlte streckenweise die Abstimmung der Lautstärken: Die dominante Oboe drückte den Sänger doch arg in den Hintergrund, wenn sie im Duett hoch und Gerhaher tief angesetzt war. Da half auch die erkennbar eingesetzte Handbremse des Dirigenten nur begrenzt. Trotzdem gab es lang anhaltenden Applaus.
Nach der Pause dann ein völlig anderes Klangbild: Anton Bruckners Sinfonie Nr. 9 d-Moll, "dem lieben Herrgott" gewidmet, ist ein gewaltiges Spektakel an Klangreichtum. Oft ist halt hörbar, dass Bruckner wie Mahler, Verdi oder Mendelssohn Bartholdy ein Zeitgenosse Wagners war. Die liebten alle einen gewissen musikalischen Kraftsport. Gerade die furiosen Crescendi und die Orchester-Tutti mit großem Blech, Hörnern, Bass-Tuben und Pauken sind halt so. Wer so etwas nicht mag, sollte nicht hingehen. Es war aber großartig gemacht.
Die jungen Musiker aus ganz Europa (keine/r älter als 26) beherrschten nicht nur ihre Instrumente souverän und hatten erkennbar professionell geprobt; sie waren auch mit einer Begeisterung und Hingabe dabei, die ich von Vertretern dieser Generation hier nicht erwartet hatte.
Bruckner verlangt den Musikern ihr ganzes Können ab: vom tremolierenden Pianissimo der Streicher über ständige Steigerungen und teils kleinteiligen Motiv-Folgen bis hin zu dissonanten Klangwolken, die Bruckner vor allem im zweiten Satz viele Takte lang fortsetzt. Ein Orchesterklang ist ja mehr als die Summe seiner Teile; und je lauter es wird und je größer, desto wichtiger ist die rechte Abstimmung der Instrumente, der Einsätze. Das war mit erstaunlicher Präzision zu hören - auch in den wuchtigen Stakkato-Phasen beim Hauptthema im zweiten Satz und im Adagio des dritten Satzes. Keinen Wimpernschlag zu früh und keinen zu spät kamm jeweils die melodische Auflösung der großen dissonanten Spannungsbögen. Das Publikum hielt buchstäblich den Atem an. Nach dem letzten Ton war fast eine halbe Minute lang Stille. Man hätte die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören können. Aber dann brach ein Sturm der Begeisterung los, die Leute klatschten sich die Hände wund. Bravo-Rufe über Bravo-Rufe. Das waren vermutlich Freunde der Musiker, die sich auf dem Pudium am Ende umarmten, das kam aber auch aus dem "normalen" Publikum. Es war ein großer Konzertabend, und so ein Erlebnis weckt ansteckende Emotionen.
Dabei ist in so großen Orchesterbesetzungen die Leistung des Dirigenten kaum zu überschätzen: Er muss buchstäblich "einen Sack Flöhe hüten" und hat sich dieser Aufgabe brillant entledigt. Philippe Jordan (erst Assistent von Barenboim in Berlin, dann Chefdirigent des Opernhauses und des Philharmonischen Orchesters in Graz, seit 2010 Musikdirektor der Pariser Oper und seit 2014 Chefdirigent der Wiener Symphoniker) machte den Eindruck, als spielte er jeden Tag mit diesem Orchester. Die jungen Instrumentalisten himmelten ihn sichtlich an, und er hatte seinen "Sack Flöhe" perfekt im Griff. Eine schöne, eine seltene Harmonie bei Leuten, die nur gelegentlich zusammenarbeiten können. Doch das weltweit führende Jugendorchester mit Musikern aus ganz Europa wird jedes Jahr neu durch eine prominent besetzte Jury zusammengestellt. Gäbe es doch auch in der Brüsseler Politik so viel professionelle Disziplin, Einigkeit und menschlichen Freundschaft!
Ich bin an diesem Abend mit "himmlischen Reichtum" beschenkt worden, habe aber dennoch die Absicht, noch eine Weile auf Erden zu bleiben. Schon deshalb, um noch mehr so wunderbare Musik zu hören. Die himmlischen Chöre sind ja zu Recht berühmt. Aber ob die da so ein Orchester hinkriegen?


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