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Freitag, 6. Mai 2016

Geballte Erfahrung: "100 Jahre Leben" von Kerstin Schweighöfer

Kerstin Schweighöfer: „100 Jahre Leben. Welche Werte wirklich zählen“, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 366 Seiten, 20 EURO.

Das Buch „100 Jahre Leben. Welche Werte wirklich zählen“ von Kerstin Schweighöfer porträtiert zehn Menschen im Alter von 100 oder mehr Jahren, so genannte „Zentenare“. Es ist eine geballte Ladung Lebenserfahrung, von der man eine Menge lernen kann.

Hundertjährige nötigen uns Respekt ab und machen uns neugierig. Sie sind nicht automatisch Vorbilder, aber Zeugen eines Jahrhunderts, in den enorm viel passiert ist und das ihnen viel zugemutet hat. Manche haben ihre Großeltern durch Seuchen verloren, die vor der Erfindung des Penicillins tödlich waren, ihre Väter bei Verdun und Männer bei Stalingrad. Für sie ist die Zeit vergangen in einem Tempo wie kaum je zuvor. Sie haben die Einführung des Frauenwahlrechts erlebt, den Nationalsozialismus, die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands. Sie haben noch Zeiten ohne Auto und Flugzeug, Glühbirne, Telefon, Radio und Fernsehen gekannt, ohne Staubsauger, Waschmaschine, Nylonstrümpfe und Kugelschreiber Und doch surfen einige von ihnen heute im Internet.
Die Autorin Kerstin Schweighöfer hat schon als Kind eine von ihnen gekannt, eine Wirtin namens Mathilde aus dem Schwarzwald. Doch allen hat sie einfühlsam die gleichen Fragen gestellt: über den Wert von Liebe, Ehe, Kinder und Familie, Freundschaft und Leidenschaft, Geld und Erfolg, Freiheit und Glück, Gott und Religion. Sie hat sehr ehrliche Antworten bekommen und zieht jedes Mal respektvoll, aber sachlich und nüchtern Bilanz.
Sieben der zehn porträtierten Zentenare sind Frauen – weil sie nicht auf dem Schlachtfeld gefallen sind und vielleicht auch weil ihnen das Rauchen und Trinken noch fremd waren. Mathilde war als junge Frau Dienstmädchen. Der Sohn eines Arbeitgebers stieg ihr nach, und sie musste auf Geheiß des Pfarrers und der Eltern einen wildfremden Bauern heiraten. Liebe kam da nicht auf. Arrangierte Ehen waren also vor 100 Jahren auch bei uns kaum seltener als heute im Orient. Als furchtbaren Schlag erlebte Mathilde den Selbstmord ihres Sohnes, der aus einer Affäre stammte. Da hat sie an ihrem Glauben gezweifelt.
Obwohl der Verlust geliebter Menschen zu den schlimmsten Erfahrungen gehört, ist es beeindruckend, mit welchem Lebensmut die heute Hundertjährigen immer wieder neu angefangen haben. Fast alle wiederholen die unsentimentale Aussage, man müsse das Beste aus dem Leben machen. Dass jeder, auch ein Atheist, an etwas glaubt, das ihn aufrecht hält, ist auch so eine Erkenntnis. Oder dass es kein Recht auf Glück gibt. Auffallend viele erklären: „Wir jagen häufig einer Vorstellung vom Glück nach. Man übersieht es leicht, denn oft liegt es im Kleinen.“
Worauf es ankommt, sagen Fritz aus Naumburg, die Malerin Mariska aus Ungarn und die britische Archäologin Beatrice, sei ein gutes Leben, und sie meinen damit ein sinnvolles. Wichtig für die Liebe sind ihnen Achtung, Vertrauen und gemeinsame Ziele. Besonders viele glückliche Augenblicke garantieren aber anscheinend weder Liebe noch Sex. Die Familie als Lebenshinhalt kann sich als brüchig erweisen, Kinder können sterben oder ins Unglück rennen, und die Eltern müssen es machtlos hinnehmen.
Umso wichtiger sind daher Freunde, die einem auch dann noch Halt geben und die man sich aussuchen kann. Die meist-genannte Zutat für ein erfülltes Leben ist Leidenschaft: diese oft nur kleine, aber beständige Flamme, die alles, was man tut, zum Leuchten bringt, die den Beruf zur Berufung macht, ein Hobby, ein Interesse, ein Ziel.
Das Leben ist ein Geschenk, sagen die Jahrhundertmenschen – trotz aller Verluste, Einschränkungen oder Fehler. Manche bereuen, dass sie zu feige waren, jüdische Freunde vor den Nazis zu retten. Gerrit aus Holland hat sich von Schönheit blenden lassen und die falsche Frau geheiratet, brachte aber nicht den Mut auf, sich von ihr zu trennen. Lieber führte er 40 Jahre lang ein Doppelleben. Einige bedauern, dass sie sich zu wenig um ihre Partner gekümmert haben.
Es gelingt nicht immer, Prinzipien treu zu bleiben, doch das macht sie nicht überflüssig. Die Charakterstärke der Hochbetagten bedeutet nicht etwa Fehlerlosigkeit, sondern eher die Fähigkeit, nie aufzugeben und Freiheit nicht mit Verantwortungslosigkeit zu verwechseln. Diese Fähigkeit hat ihren Preis, den die Hundertjährigen genau kennen. Weicheier und Bequemlinge sind sie alle nie gewesen. Dieses wunderbare Buch enthält zusammen 1000 Jahre Lebens-erfahrung und macht jedem Leser Mut. Denn wir werden alle älter und können viel lernen von der Haltung, die man hier antrifft.


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