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Sonntag, 29. Mai 2016

Flüchtlinge als Europas Gründungsmythen

"Aeneas oder die Kunst der Flucht": Michael Köhlmeier las am 28. Mai im Ludwigsburger Schlosstheater aus einer kommentierten Live-Version der "Aenaeis" von Vergil.  Andes als sein großes Vorbild Homer in den "Irrfahrten des Odysseus" ließ der römische Dichter Vergil seinen Flüchtling ohne Ziel durchs Mittelmeer geistern: ein Suchender, ein Schutzflehender auch, und doch ein Königssohn und von den Göttern dazu bestimmt, nach der Vernichtungs Trojas Rom zu gründen. Ein Mythos, grausamer vielleicht, aber kaum weniger faszinierend als die Geschichte der Zwillinge Romulus und Remus, die eine Wölfin gesäugt haben soll.  

Links wird der Dichter sitzen, rechts zwei Posaunisten

Die Götter der alten Griechen sind schon eine ziemlich miese Bande gewesen: eifersüchtig, intrigant, geil, gewalttätig und grausam selbst zu denn, die sie in Liebe zu einem Menschen gezeugt haben. Aeneas, der einzige überlebende Held von Troja, verdankt Segen und Fluch seiner Existenz der Begegnung einer Unsterblichen mit seinem Vater. Aphrodite prsönlich verlangte nach ihm, doch sie gebot ihm, die Frucht ihrer Liebe zu verheimlichen. Als er im Rausch damit prahlte, wen er da geliebt habe, hatte er Zeus und dessen Gattin Hera, die Hüterin von Ehe und Herd, an der Backe, und ward durch einen Blitz gelähmt. So sitzt er nun hilflos auf den Schultern seines Sohnes Aeneas, der das brennende Troja auf der Flucht vor der Griechen verlässt - alles angezettelt von solchen Göttern.
In Ludwigsburg las Michael Köhlmeier, nein spielte, las und interpretierte frei und live in bester Tradition des mündlichen Erzählens, diese bizarre Geschichte neu. Neu, weil der österreichische Romancier besonders klar macht, dass die altgriechischen Götter sich im Grunde nicht anders verhalten haben als Potentaten und Regierungschefs heute, die Menschen und Kriege als Mittel für ihre nicht immer astreinen Zwecke sehen. Entsprechend ambivalent müssen solche Beziehungen zwischen denen da Oben und uns hier Unten sein. Und entsprechend dämlich hören sich AfD-Politiker vor diesem Hintergrund an, wenn sie von "Angst vor Überfremdung" oder "islamisierung des Abendlandes" faseln, um ihr rückwärtsgewandtes, völkisches Denken zu verbreiten. Sie missbrauchen eine Religion und eine Kultur, die sie nicht haben. Sie vergessen ganz einfach, wo sie herkommen, die heimatlosen Gesellen.
 Dieser Aeneas war doch nichts als ein griechischer Häuptlingssohn, der nach dem Verzehr der ersten Pizza beschloss, eine mächtige Stadt zu gründen, die alles in den Schatten stellen sollte, was Troja je zu sein behauptet hatte, einen Staat, auf den sich heute ganz Europa beruft (mehr als auf gemeinsame humanistische Werte oder "Christentum"!). Ist doch Europas Ordnung in Recht, Militär und Verwaltung im Grunde römisch. Wenn auch, na ja, so möchte ich den Gedanken mal weiterspinnen, irgendwo im schwäbischen Gallien ein kleines, bis heute unbesiegtes Dorf mit Asterix und Obelix die Welt zum Lachen bringt - selbst die humorlose Welt muslimischer Geistlicher. Selbst in Berlin-Kreuzberg oder den französischen Banlieus. Oder auf der Bühne eines über 200 Jahre alten Schlosstheaterchens in Ludwigsburg, wo die Beleuchtung nicht für anständige Fotos mit bewegten Zielen reicht.War ja auch nie für so was gedacht, bitteschön! Alles andere wäre ja feuergefährlich und ein Verstoß gegen das Denkmalschutzgesetz.

Die Posaunisten Bertl Mütter und Leonhard Paul taten mit: ihre Instrumente lachten und weinten, sabberten und blubberten, pfiffen und pfoffen die akustischen Illustrationen vom maritimen Nebelhorn bis zum rachsüchtig-göttlichen Gewittersturm. Ein wunderbarer Abend mit 200 Jahre alter höchst aktueller Literatur.

Donnerstag, 26. Mai 2016

Ein Solitär unter den Regionalkrimis


quadratisch – käuflich – tot Bernd Storz: "Quadratisch, käuflich, tot". Kriminalroman, Verlag Oertel + Spörer Reutlingen, 2. Auflage 2015, 296 S., 10,95 €

Regionalkrimis haben Konkjunktur, also gibt es ein Überangebot. Außerdem gestehe ich, das sie für gewöhnlich nicht meine Leib- und Magenlektüre sind. Deshalb ist mir dieses Buch erst mit gehöriger Verspätung aufgefallen. Und auch da war der Zufall im Spiel: Meine Frau bekam es geschenkt, und ich kannte den Autor - per Facbook, und wie ich mich dann (sehr gern) erinnern lassen musste, von einem Treffen des Schriftstellerverbandes (VS) vor Jahrzehnten in Bad Wimpfen oder so. Kurz: ich riss mir diesen Storz-Krimi mit Erlaubnis meiner besseren Ehehälfte unter den Nagel und stellte dafür einen 600-Seiten-Schinken von David Baldacci zurück, der eigentlich als Badewannenlektüre eingeplant war. Ich habe nichts bereut.
Das geht schon beim Titel los, der herrlich ironisch den fast schon kunsthistorisch legendären Werbespruch der Schokoladenfabrik Ritter Sport in Waldenbuch aufgreift ("Quadratisch, praktisch, gut"): Nicht einfach abgekupfert, sondern phantasievoll und treffend zitiert zur Kurzgeschreibung dafür, worum es geht: Schokolade (nach der die Stuttgarter Kommissarin Francesca Molinari süchtig ist), Korruption im Kunstbetrieb (Gleich neben der Schokoladenfabrik leistet sich Frau Ritter als Mäzenin tatsächlich ein veritables Museum für die eigene Kunstsammlung, die sich am Bauhaus-Künstler Joseph Albers orientiert mit seiner "Ode an das Quadrat") und Mord. Da steckt also schon eine ganze Menge an wechselseitigen Bezügen drin, und nicht der simpelte davon dürfte die angebrochene Packung Schokolade sein, die das Cover ziert - gewiss mit freundlicher Genhmigung der literarisch charmant umtanzten Firma.
Nun denke ich nicht daran, den Inhalt hier vorwegzunehmen, zumal das alles sicher in der Regionalpresse nachzulesen ist. Aber auffällig sind hier nicht nur die literarische Qualität und das sorgfältige Lektorat (fast keine Druckehler!), sonderen auch die fundierte Recherche des Autors. Kein Schriftsteller (und Storz ist dazu auch noch Universitätsdozent in Reutlingen) kann ja für jedes Buch ein Fachstudium absolvieren oder gar immer über ein- und dasselbe Spezialgebiet schreiben. Wie Storz die Schokoladenproduktion und den Kunsthandel recherchiert hat, um in diesem regionalen Umfeld (plus globaler Vernetzung, versteht sich) dann das organisierte Verbrechen rund um einen Mord in der Schokoladenfabrik zu entwickeln, ist aber schon außergewöhnlich.
Gut recherchiert sind nicht nur die Verhältnisse bei Ritter Sport und im Kunstmuseum nebenan, sondern auch bei der Kripo oder in der internationalen Fälscherszene mit ihren Galeristen. Allein was sich Storz hier an Fachwissen aus der neueren Kunstgeschichte angeeignet hat, nötigt Respekt ab. Der Plot ist gut gestrickt, die Dialoge kommen flott und teilweise auch witzig daher, ohne albern zu werden, die Figuren haben Charakter. Sogar Nebenhandungen wie eine drohende Ehekrise der Kommissarin und die anfangs sehr mysteriöse Flucht der ehemals drogensüchtigen Tochter des ermordeten Ritter-Schichtleiters (vor wem und wieso eigentlich) finden eine plausible Aufklärung - aber keine Seite zu früh. Die Spannung bleibt bis zum Schluss erhalten. Alles in allem ist dieses Buch wirklich ein Solitär unter den Heerscharen der Regionalkrimis und eine sehr genussvolle Lektüre.














Freitag, 6. Mai 2016

Geballte Erfahrung: "100 Jahre Leben" von Kerstin Schweighöfer

Kerstin Schweighöfer: „100 Jahre Leben. Welche Werte wirklich zählen“, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 366 Seiten, 20 EURO.

Das Buch „100 Jahre Leben. Welche Werte wirklich zählen“ von Kerstin Schweighöfer porträtiert zehn Menschen im Alter von 100 oder mehr Jahren, so genannte „Zentenare“. Es ist eine geballte Ladung Lebenserfahrung, von der man eine Menge lernen kann.

Hundertjährige nötigen uns Respekt ab und machen uns neugierig. Sie sind nicht automatisch Vorbilder, aber Zeugen eines Jahrhunderts, in den enorm viel passiert ist und das ihnen viel zugemutet hat. Manche haben ihre Großeltern durch Seuchen verloren, die vor der Erfindung des Penicillins tödlich waren, ihre Väter bei Verdun und Männer bei Stalingrad. Für sie ist die Zeit vergangen in einem Tempo wie kaum je zuvor. Sie haben die Einführung des Frauenwahlrechts erlebt, den Nationalsozialismus, die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands. Sie haben noch Zeiten ohne Auto und Flugzeug, Glühbirne, Telefon, Radio und Fernsehen gekannt, ohne Staubsauger, Waschmaschine, Nylonstrümpfe und Kugelschreiber Und doch surfen einige von ihnen heute im Internet.
Die Autorin Kerstin Schweighöfer hat schon als Kind eine von ihnen gekannt, eine Wirtin namens Mathilde aus dem Schwarzwald. Doch allen hat sie einfühlsam die gleichen Fragen gestellt: über den Wert von Liebe, Ehe, Kinder und Familie, Freundschaft und Leidenschaft, Geld und Erfolg, Freiheit und Glück, Gott und Religion. Sie hat sehr ehrliche Antworten bekommen und zieht jedes Mal respektvoll, aber sachlich und nüchtern Bilanz.
Sieben der zehn porträtierten Zentenare sind Frauen – weil sie nicht auf dem Schlachtfeld gefallen sind und vielleicht auch weil ihnen das Rauchen und Trinken noch fremd waren. Mathilde war als junge Frau Dienstmädchen. Der Sohn eines Arbeitgebers stieg ihr nach, und sie musste auf Geheiß des Pfarrers und der Eltern einen wildfremden Bauern heiraten. Liebe kam da nicht auf. Arrangierte Ehen waren also vor 100 Jahren auch bei uns kaum seltener als heute im Orient. Als furchtbaren Schlag erlebte Mathilde den Selbstmord ihres Sohnes, der aus einer Affäre stammte. Da hat sie an ihrem Glauben gezweifelt.
Obwohl der Verlust geliebter Menschen zu den schlimmsten Erfahrungen gehört, ist es beeindruckend, mit welchem Lebensmut die heute Hundertjährigen immer wieder neu angefangen haben. Fast alle wiederholen die unsentimentale Aussage, man müsse das Beste aus dem Leben machen. Dass jeder, auch ein Atheist, an etwas glaubt, das ihn aufrecht hält, ist auch so eine Erkenntnis. Oder dass es kein Recht auf Glück gibt. Auffallend viele erklären: „Wir jagen häufig einer Vorstellung vom Glück nach. Man übersieht es leicht, denn oft liegt es im Kleinen.“
Worauf es ankommt, sagen Fritz aus Naumburg, die Malerin Mariska aus Ungarn und die britische Archäologin Beatrice, sei ein gutes Leben, und sie meinen damit ein sinnvolles. Wichtig für die Liebe sind ihnen Achtung, Vertrauen und gemeinsame Ziele. Besonders viele glückliche Augenblicke garantieren aber anscheinend weder Liebe noch Sex. Die Familie als Lebenshinhalt kann sich als brüchig erweisen, Kinder können sterben oder ins Unglück rennen, und die Eltern müssen es machtlos hinnehmen.
Umso wichtiger sind daher Freunde, die einem auch dann noch Halt geben und die man sich aussuchen kann. Die meist-genannte Zutat für ein erfülltes Leben ist Leidenschaft: diese oft nur kleine, aber beständige Flamme, die alles, was man tut, zum Leuchten bringt, die den Beruf zur Berufung macht, ein Hobby, ein Interesse, ein Ziel.
Das Leben ist ein Geschenk, sagen die Jahrhundertmenschen – trotz aller Verluste, Einschränkungen oder Fehler. Manche bereuen, dass sie zu feige waren, jüdische Freunde vor den Nazis zu retten. Gerrit aus Holland hat sich von Schönheit blenden lassen und die falsche Frau geheiratet, brachte aber nicht den Mut auf, sich von ihr zu trennen. Lieber führte er 40 Jahre lang ein Doppelleben. Einige bedauern, dass sie sich zu wenig um ihre Partner gekümmert haben.
Es gelingt nicht immer, Prinzipien treu zu bleiben, doch das macht sie nicht überflüssig. Die Charakterstärke der Hochbetagten bedeutet nicht etwa Fehlerlosigkeit, sondern eher die Fähigkeit, nie aufzugeben und Freiheit nicht mit Verantwortungslosigkeit zu verwechseln. Diese Fähigkeit hat ihren Preis, den die Hundertjährigen genau kennen. Weicheier und Bequemlinge sind sie alle nie gewesen. Dieses wunderbare Buch enthält zusammen 1000 Jahre Lebens-erfahrung und macht jedem Leser Mut. Denn wir werden alle älter und können viel lernen von der Haltung, die man hier antrifft.


Sonntag, 1. Mai 2016

Der mit der Orgel tanzt: Cameron Carpenter wird frenetisch gefeiert

Der Solist mit dem ORF-Radio-Symphonieorchester Wien in Ludwigsburg


 Große Dynamik: Das Orchester, der Dirigent Cornelius Meister und der Solist Cameron Carpenter

Wahrhaft würdig einer Walpurgisnacht war am 30. April bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen der Auftritt des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien unter der Leitung von Cornelius Meister mit dem Auzsnahme-Organisten Cameron Carpenter als Solist. Das einleitende Stück "Die Mittagshexe" von Antonin Dvorák ist ein klangmächtiges slawisches Märchen, das (anders als dieses Konzert!) nicht gut ausgeht: Ein Kind ist ungezogen, die Mutter mahnt: "Sei brav, sonst holt dich die Mittagshexe!" Das Kind ist erneut ungezogen, die zweite Mahnung wird zur Anrufung, die Hexe kommt und will das Kind mitnehmen. Die Mutter, die alles nicht so gemeint hat, kämpft um ihr Kind. Schlag Zwölf entschwindet die Mittagehexe. Der Vater kommt heim und findet die Frau im Wahnsinn, in den Armen ihr totes Kind. Eine musikdramaturgische Glanzleistung ist diese sinfonische Dichtung, die 1896 in London uraufgeführt wurde. Dirigent und Orchester wechseln kunstvoll in schönen, klangmalerischen Melodien zwischen Idyll, Quenengelei, Schärfe, Kampf und Trauer mit dem Wahnsinns-Crescendo im Finale.
 
Auch Carpenters Beinarbeit ist sehenswert
Ein ideales Warmlaufen war das für das zentrale Werk dieses Abends - Die Rhapsodie über ein Thema von Paganini, bearbeitet für Orgel und vorgetragen von Cameron Carpenter. Der 35jährige US-Amerikaner kommt daher wie ein Punk und ist doch ein ähnliches virtuoses Genie wie der Geiger Paganini. So manche Orgel hat eine Begegnung mit diesem Mann nicht überlebt, weshalb er 2014 ein eigenes Instrument bauen ließ, das ihn seither zu jedem Konzert begleitet.
Wenn man das spillerige Kerlchen mit den zu kurzen Jackenärmeln sieht, mag man kaum glauben, welche Kraft in Carpenter steckt: genug für fünf Manuale (nicht gezählt die Register) und ein ungewöhnlich großer Pedalwerk, das er mit tanzenden Füßen souverän bespielt. Als sechstes Manual darf man getrost das Orchester sehen, denn das mag zwar einen Chef haben, aber gespielt wird es hier von einem entfesselten Solisten. Sensationell die sensible Abstimmung zwischen den Musikern, die kluge Zurücknahme des Dirigenten, die unverhohlene Bewunderung des Ensembles für diesen Teufelskerl. Ein Teufelsstück für einen Teufelsgeiger, adaptiert von einem Teufelsorganisten: Einfach großartig, diese Virtuosität sozusagen über 6 Etagen. Das fand auch das Publikum und steigerte seinen Applaus mit vielen Bravos bis zu fast fanatischen Begeisterungsausbrüchen  und Standing Ovations.

Dirigent Cornelius Meister und Cameron Carpenter beim Schlussapplaus
Sage und schreibe fünf (5) Zugaben musste Carpenter spielen, von Johann Sebastian Bach bis zu deutscher Marschmusik und österreichischen Drehorgelmelodien aus dem Prater.
Etwas Ruhe brachte dann nach der Pause die Sinfonie Nr. 4 d-Moll von Robert Schumann in den ausverkauften Saal. Glänzend orchestriert und feinfühling in den Steigerungen der erdigen, unaufgeregten Motive in den Wiederholungen der Streicher durch Holz- und Blechbläser, ist dieses eher heroisch-schwermütige Werk genau richig als Finale eines solchen Konzerts. Mir gingen den ganzen Abend nicht zufällig Szenen aus der Walpurgisnacht in Goethes "Faust" nicht aus dem Kopf. Wenn Musik derart die inneren Bilder zum Laufen bringt, ist es gut. Nein: sehr gut. Ungewöhnlich genug, auch für ein Gastspiel, waren zwei Zugaben durch das Orchester: Nr.72 von Dvoráks "slawischen Tänzen" und die "Bussi-Polka" des modernen Komponisten Ernst Fischer.