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Sonntag, 30. Oktober 2016

Großartig: Zwei Russen beim SWR Symphonieorchester

Alexei Volodin
Zwei großertige Russen dominierten das zweite Abonnementkonzert des soeben neu justierten SWR Symphonie Orchesters am 28. Oktober in  der Stuttgarter Liederhalle.
Der Pianist soll einmal zuerst genannt sein: Alexei Volodin (geboren 1977 in Leningrad) als Pianist der Extraklasse kam mit Igor Strawinsky´s Capricchio für Klavier und Orchester als Parodie von Carl Maria von Weber ebenso zurecht wie mit dem Original, dem nachfolgenden Konzertstück für Klavier und Orchester f-Moll. Das hatte zwar nur für extralange Ohren einen Wiedererkennungswert, stellt aber doch eine virtuose Herausforderung dar. Das gilt eher noch mehr für Paul Hindemiths Sinfonische Metamorphosen nach Themen von Carl Maria von Weber für das Orchester am Beginn des Konzerts. Wie Weber noh 150 Jahre nach seinem Tod russische Komponisten zu Versteckspielchen mit seiner Musik anregte - schon erstaunlich. Aber am besten kam die Virtuosität im Saal wohl bei Weber selbst zur Geltung. Volodin bedankte sich für den begeisterten Applaus mit zwei Zugaben: Das Scherzo op. 12 Nr. 10 von Prokofjew und die Prelude op.31 Nr.23 von Rachmaninow. Beide zeigten nicht nur seine phantasische Fingerfertigkeit, einen brillanten Anschlag und ein enormes Einfühlungsvermögen, sondern auch eine Liebe zur melodiösen Musikalität, die Leute wie Hindemith oder Strawnsky nicht teilen.
All das mit einem großem Orchester unter einen Hut zu bringen, war die schwierige Aufgabe des Moskauer Gastdirigenten Dima Slobodeniouk. Feinfühlig, klasklar mit dem Taktstock, sensibel und aufmerksam, war er ein echter Rossebändiger. Das Orchester ließ er keine Millisekunde aus den Augen, hatte erkennbar kommunikativ geprobt und empfahl sich ohne viel Schnick und Schnack auch als denkbarer Dauerpartner. Da saß jeder Einsatz und stimmte jede Klangfarbe. Am besten brachte er die orchestralen Möglichkeiten des aus zwei traditionellen Rundfunkorchestern neu geformtem Klangkörpers nach der Pause bei der Ballettmusik "Petruschka" von Igor Strawinsky zur Geltung. Schade nur, dass nicht jedem einleuchtet, was eine Ballettmusik ohne Ballett soll.
Unterm Strich: Da entsteht langsam so etwas wie ein neues Orchester. Es hat noch keine Linie und noch keine wirkliche Identität. Aber die ist schwer auf Befehl zu erzeugen. Dafür wächst etwas, das auf hohem Niveau neugierig macht. Dennoch ist zu hoffen, dass nicht die ganze erste Spielzeit zum anstrengenden Workshop für überwiegend Neue Musik wird. Das Publikum möchte auch ganz gern mal einfach bloß zuhören und genießen, statt auf musik-motivische Schnitzeljagd geschickt zu werden.
Dirigent Dima Slobodeniouk (stehend hinterm Pult) und das SWR Symphonie Orchester






Sonntag, 9. Oktober 2016

Mühsamer Neustart beim SWR Symphonieorchester

Der Start und Saisonauftakt des neuen SWR Symponieorchesters in der Liederhalle Stuttgart am 22. September war nicht einfach, aber zuletzt dank einer hinreißenden Solistin, des inspirierten Dirigenten Peter Eötvös und einer soliden Leistung des Orchesters ein Achtungserfolg.
Zu viel Unruhe durch zwei Umbauten und zu viel (ziemlich schwere drei von vier Stücken) neue Musik waren für den Anfang etwas viel vom sattsam bekannten erhobenen Zeigefinger der Musikpädagogen, die uns anscheinend unbedingt die Klassik austreiben wollen: Den Anfang machten "Cinq reflets" für Sopran, Bariton und Orchester von der zeitgenössischen finnischen Komponistin Kaija Saariaho am Anfang des Abends waren Reflexe auf die 2000 in Salzburg sehr erfolgreiche Oper "L´Amour de loin", ein Eigenzitat ohne inneren Zusammenhang. Angeblich setzt sich das Werk, in dem es um eine unerfüllbare Liebe geht, mit Gustav Mahlers Adagio aus der Sinfonie Nr. 10 auseinander.
Zu hören war das jedenfalls nicht. Vielleicht war daran die gestelze und unsensibel laute Darbietung der Sopranistin Pia Freund nicht unschuldig, die den Bariton Russell Braun anscheinend um jeden Preis überschreien wollte. Wohltuend getragen und genau dagegen wirkte dann Mahlers Adagio selbst. Hier zeigte das Orchester, was es kann. Nachder Pause dann musste eine Frau die Stimmung retten, die irgendwo zwischen Einschlafen und Verärgerung  lag. Der Dirigent und Komponist Peter Eötvös ging mit seinem Konzert "DoReMi für Violine und Orchester" zurück an die Wurzeln der Musik. Technisch war das eine Herausforderung, bravourös gemeistert von der moldawischen Violinvirtuosin Patricia Kopatchinskaja.
Patricia Kopatchinskaja mit Tochter beim Signieren
Dieser Irrwisch von Temperamentsbolzen machte eine ganz große Show aus den irren Abfolgen  aus Glissandi, harmonischen Achterbahnfahrten und wechselnden Tempi. Das nannte Mirko Weber von der Stuttgarter Zeitung völlig zu Recht dann "hochartifiziell" und "bodennah" zugleich. Wie beim Kirmesfest stampfte die Geigerin, ihre Einsätze, völlig frei und absolut brillant spielte sie mit der Komposition, deren kindliche Elemente unüberhörbar sind. Zigeunermusik lässt grüßen. Das war phantastisch, ungeachtet aller Abschläge durch den gezielten Crash der herkömmlichen Harmonielehre und Melodik. Da gab´s dann auch großen Applaus des (wer wundert sich noch?) leider nicht ausverkauften Saals.
Zum Abschluss hatte der Gastdirigent Belá Batóks Bellettmusik "Der wunderbare Mandarin" ausgesucht, ein furioses Stück damatischer Filmmusik ohne Film, bei dem das neu formatierte Orchester eine tadellose Visitenkarte abgab. Da konnte man ahnen, wie es zusammenwächst aus Freiburg und Stuttgart, auch wenn es noch keinen Chefdirigenten und folglich auch noch keine Linie gibt, keine Identität. Bartók ist auch nicht einfach, ganz abgesehen von dem schwierigen Thema Prostitution, Raub und Gewalt. Das Orchester aber rockte den Saal zumindest am Ende trotz denkbarer Vorbehalte gegen Handlung und  Behandlung. So viel unmögliche Liebe aber ist für ein erstes Mal immer problematisch: Da mangelt´s noch an Harmonie, da ist sehr vieles noch offen. Und offenbar machen die Musiker auch keinen Hehl daraus. Musikalisch aber waren sie diesen Schwierigkeiten jedoch mehr als gewachsen.


Montag, 12. September 2016

Schlussapplaus mit Händel-Oratorium beim Musikfest Stuttgart

Finale: Gerlinde Sämann (im roten Kleid), Hans-Christoph Rademann, James Gilchrist, Gillian Webster, Andreas Wolf
Das Abschlusskonzdert beim diesjährigen Musikfest Stuttgart war eine Aufführung von Georg Friedrich Händels "L´Allergro, il Pensersoso ed il Moderato", Pastoral in drei Teilen mit der Gechinger Cantorey und Solisten unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann, dem künstlerischen Leiter der Stuttgarter Bachakademie. Die Atmosphäre in der ausverkauften Liederhalle am 11. September war feierlich (Indiz: trotz tropischer Temperaturen waren die Leute tatsächlich gut angezogen), das Gebotene angemessen und die musikalische Leistung hervorragend, um es gleich zu sagen.
Dass der Vielschreiber Händel auch bei diesem Stück aus dem Jahr 1740 in seiner Widersprüchlichkeit erkennbar blieb, ist keine Schuld der Heutigen und kaum eine des Komponisten. In seiner fruchtbarsten Schaffensperiode - zumindest was musikdramatische Werke angeht - schuf Händel besonders viel, und auch besonders viel wunderschöne Musik. Leider darf man als Zuhörer nie länger als eine Minute vergessen, dass Händel Hofkomponist in London war. Das erklärt die englischen Texte nach (sehr schönen) Gedichten John Miltons (der Autor von "Paradise Lost"), aber nicht den italienischen Titel, der eher in Richtung Oper deutet. Dem Maestro scheint Dergleichen ziemlich wurscht gewesen zu sein. "Il Allegro" - Der heitere, "il Penseroso" - der Gedankenvolle, Melancholische, und "il moderato" - der Ausgeglichene ist ein typischer Titel für Aufklärungswerke, deren erhobener Zeigefinger dem königlichen Auftraggeber wichtiger war als eine knalliger oder auch nur treffende Überschrift. Auch dafür kann heute niemand etwas. Damals hatten dergleichen allegortische Figuren wie personifizierte Tugenden oder Untugenden auf den Bühnen Hochkonjunktur. Theater, auch Musiktheater, sollte erzieherisch sein.
Der an sich dramatisch reizvolle Kontrast zwischen Lebensfreude (Allegro) und Miesespeter (Penseroso), an deren Dauerstreit sich schließlich zwecks Vermeidung einer bipolaren Störung (früher sagte man dazu manisch-depressive Störung) ein lachender Dritter namens "Ausgeglichenheit" freut, ist aber musikalisch trotz allen Melodienreichtums eher grottenlangweilig. So etwas kann man heute ohne Gähnen nicht mehr fast drei Stunden lang durchhalten, das ist ohne Bearbeitung einfach nicht abendfüllend. Doch auch daran sind die hervorragenden Musiker absolut unschuldig. Allein dass man so viel Worte braucht, um den ganzen Schmonzes zu erklären, ist Indiz für die Überfälligkeit einer Schrumpfkur. Die könnte z.B. bei den Rezitativen und Wiederholungen ansetzen.
Aber von vorn: Das Orchester spielte grandios. Auch ohne Dirigenten intonierte es das einleitende Concerto grosso G-Dur HWV 319 anstelle einer Ouvertüre: Souverän bis virtuos, teils geradezu schmissig, rhythmusbetont - ein richtig moderner Händel, für historische Instrumente keine Kleinigkeit - oder doch?
Die Solisten waren durchweg überragend. Nicht nur sangen sie schwierige Passagen absolut sicher, auch die Stimmen harmonierten miteinander aufs Schönste. Sogar die Textverständlichkeit übertraf manche deutschsprachige Opernaufführung um Längen wegen der durchweg großartigen, aber nie affektierten Artikulation. Die blinde Sopranistin Gerlinde Säman (Allegro) und ihre englische Kollegin Gillian Webster (Penyseroso) gaben ein wunderbares Duell-Duo ab: ebenbürtig, klug aufeinander abgestimmt, beide stimmgewaltig. Am schönsten in Ensemblenummern wie mit dem starken Chor in der Nummer "Haste thee, nymph...", die eigentlich eine echte, aber virtuose Lach-Nummer ist, im Duett mit der Querflöte bei "Sweet bird..." oder in dem Duett "As steals the morn".
Der britische Tenor James Gilchrist (Kommentator) und der deutsche Bass Andreas Wolf (Jäger) standen kaum nach, hatten nur kleinere Rollen. Die ganze Bandbreite barocker Schäferlyrik rollte da auf und ab. Es gab reichlich Höhepunkte, aber dazwischen stand das Gewässer des musikalischen Flusses nahzu still. Schade eigentlich, denn da steckt der Stoff für ein ganz großes Musiktheater drin. Falls sich denn jemand traut, das rauszuholen. Zur Belohnung für Sänger und Musiker nach so viel Schönklang und Durchhalten war erschöpfter, aber dankbarer, lang anhaltender Applaus. Die Musiker hatten sich getraut, den ganzen Reichtum Händlscher Melodien und Formen auszupacken. Das war eine bestandene Feuerprobe für die "Gaechinger Cantorey". Dieser Eindruck wird bleiben.




Montag, 5. September 2016

Große Emotionen: "Himmlischer Reichtum" mit Bach und Bruckner

Dirigent Philippe Jordan (auf dem Podium) und das Gustav Mahler Jugendorchester

"Himmlischer Reichtum" war das Thema des Konzerts in der Stuttgarter Liederhalle, zu dem die Bachakademie am 4. September beim Musikfest Stuttgart das Gustav Mahler Jugendorchester in die Liederhalle eingeladen hatte: eine sehr gute Idee. Die Bach-Kantate "Ich habe genug" (BWV 82, historisch wohl vom erst kürzlich identizifierten Textautor, dem Theologen und Bach-Schüler Christoph Birkmann "genung" geschrieben), bezieht sich auf die im Lukasevangelium überlieferte Geschichte des Propheten Simeon, der bei der Beschneidung Jesu (und rituellen Reinigung der Mutter, Maria) als alter Mann im Tempel war, in dem Kind Gott erkannte und gesagt haben soll, nun könne er in Frieden sterben, da er den Erlöser gesehen habe. - Eine schöne Musik, bei der eine kammermusikalische Formation des Mahler-Jugendorchesters auch ohne historische Instrumente der Bach-Zeit durchaus eine gute Figur machte.
Auch für Bach sind Kantaten mit eingestreuten Rezitativen ungewöhnlich und unterbrechen den Fluss, aber dafür kann heute niemand etwas. Die Musik zur Absage an die schnöde Welt und voller Vorfreude auf himmlische Seligkeit ist ausgesprochen schön; der Bariton Christian Gerhaher und der Solo-Oboist Bernhard Heinrichs gaben eine an sich tadellose Vorstellung mit viel Einfühlungsvermögen und großer Virtuosität. Keine Patzer, große Stimmsicherheit und Präsenz in Höhen und Tiefen. Nur war leider der Oboist (erkennbar am fotokopierten Zusatzblatt im Programm) erst kurzfristig dazugestoßen. Da war wohl keine Zeit für gemeinsame Proben gewesen, und so fehlte streckenweise die Abstimmung der Lautstärken: Die dominante Oboe drückte den Sänger doch arg in den Hintergrund, wenn sie im Duett hoch und Gerhaher tief angesetzt war. Da half auch die erkennbar eingesetzte Handbremse des Dirigenten nur begrenzt. Trotzdem gab es lang anhaltenden Applaus.
Nach der Pause dann ein völlig anderes Klangbild: Anton Bruckners Sinfonie Nr. 9 d-Moll, "dem lieben Herrgott" gewidmet, ist ein gewaltiges Spektakel an Klangreichtum. Oft ist halt hörbar, dass Bruckner wie Mahler, Verdi oder Mendelssohn Bartholdy ein Zeitgenosse Wagners war. Die liebten alle einen gewissen musikalischen Kraftsport. Gerade die furiosen Crescendi und die Orchester-Tutti mit großem Blech, Hörnern, Bass-Tuben und Pauken sind halt so. Wer so etwas nicht mag, sollte nicht hingehen. Es war aber großartig gemacht.
Die jungen Musiker aus ganz Europa (keine/r älter als 26) beherrschten nicht nur ihre Instrumente souverän und hatten erkennbar professionell geprobt; sie waren auch mit einer Begeisterung und Hingabe dabei, die ich von Vertretern dieser Generation hier nicht erwartet hatte.
Bruckner verlangt den Musikern ihr ganzes Können ab: vom tremolierenden Pianissimo der Streicher über ständige Steigerungen und teils kleinteiligen Motiv-Folgen bis hin zu dissonanten Klangwolken, die Bruckner vor allem im zweiten Satz viele Takte lang fortsetzt. Ein Orchesterklang ist ja mehr als die Summe seiner Teile; und je lauter es wird und je größer, desto wichtiger ist die rechte Abstimmung der Instrumente, der Einsätze. Das war mit erstaunlicher Präzision zu hören - auch in den wuchtigen Stakkato-Phasen beim Hauptthema im zweiten Satz und im Adagio des dritten Satzes. Keinen Wimpernschlag zu früh und keinen zu spät kamm jeweils die melodische Auflösung der großen dissonanten Spannungsbögen. Das Publikum hielt buchstäblich den Atem an. Nach dem letzten Ton war fast eine halbe Minute lang Stille. Man hätte die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören können. Aber dann brach ein Sturm der Begeisterung los, die Leute klatschten sich die Hände wund. Bravo-Rufe über Bravo-Rufe. Das waren vermutlich Freunde der Musiker, die sich auf dem Pudium am Ende umarmten, das kam aber auch aus dem "normalen" Publikum. Es war ein großer Konzertabend, und so ein Erlebnis weckt ansteckende Emotionen.
Dabei ist in so großen Orchesterbesetzungen die Leistung des Dirigenten kaum zu überschätzen: Er muss buchstäblich "einen Sack Flöhe hüten" und hat sich dieser Aufgabe brillant entledigt. Philippe Jordan (erst Assistent von Barenboim in Berlin, dann Chefdirigent des Opernhauses und des Philharmonischen Orchesters in Graz, seit 2010 Musikdirektor der Pariser Oper und seit 2014 Chefdirigent der Wiener Symphoniker) machte den Eindruck, als spielte er jeden Tag mit diesem Orchester. Die jungen Instrumentalisten himmelten ihn sichtlich an, und er hatte seinen "Sack Flöhe" perfekt im Griff. Eine schöne, eine seltene Harmonie bei Leuten, die nur gelegentlich zusammenarbeiten können. Doch das weltweit führende Jugendorchester mit Musikern aus ganz Europa wird jedes Jahr neu durch eine prominent besetzte Jury zusammengestellt. Gäbe es doch auch in der Brüsseler Politik so viel professionelle Disziplin, Einigkeit und menschlichen Freundschaft!
Ich bin an diesem Abend mit "himmlischen Reichtum" beschenkt worden, habe aber dennoch die Absicht, noch eine Weile auf Erden zu bleiben. Schon deshalb, um noch mehr so wunderbare Musik zu hören. Die himmlischen Chöre sind ja zu Recht berühmt. Aber ob die da so ein Orchester hinkriegen?


Samstag, 3. September 2016

Monteverdis Marienvesper in Stuttgart: ein Riesenerfolg

Die "Gaechinger Cantorey" bei Monteverdis Marienvesper (Foto: Holger Schneider)


Die "Gaechinger Cantorey" - die neu formierten Ensembles aus Chor und Orchester haben sich gestern beim Eröffnungskonzert für das Musikfest Stuttgart in der Liederhalle zum ersten Mal öffentlich präsentiert. Das Debüt war gleich ein Hammer: Festival- und Akademieleiter Hans-Christoph Rademann dirigierte die Marienvesper von Claudio Monteverdi, ein Vorzeigestück polyphonen Klangreichtums aus der Renaissance bzw. dem Frühbarock - je nach Blickwinkel. Mit phantastischen Solisten - allen voran Dorothee Mields und die blinde Gerlinde Säman (beide Soran), den Tenören Georg Poplutz, Jakob Pilgram und Tobias Mäthger sowie den Bässen Julinán Millán und Martin Schickedanz wurde die Aufführung ein Riesenerfolg. 
Das Orchester spielte virtuos auf historischen Instrumenten oder Nachbauten. Monteverdi schrieb diese Musik als musikalischer Direktor von San Marco in Venedig. Und wenn er die heutige Technik gehabt hätte - nicht auszudenken, zu was der Mann dramaturgisch imstande gewesen wäre. Mindestens hätte er schon mal die Split-Screen erfunden.
Von einstimmigen gregorianischen Choralsätzen des Mittelalters über liturgische Melodien der Psalmen über die Formen der Concertos und Canti fermi und bis zur zehnstimmigen Sonate: dieser Vorläufer von Oratorium und Oper enthält alles, was damals musikalisch bekannt und möglich war, in höchster Vollendung. Dabei ist die Marienvesper alles andere als eine bloße Sammlung liturgischer Musik - sie ist dramaturgisch durchgestaltet. Das Konzert war ein großartiger Hörgenuss - Raumklang in rundum verteilten Vokal- und Instrumentalgruppen, Echos inbegriffen. Ein sehr schönes Detail der historisch informierten Darbietung: Die Sänger bedienten sich perfekt der italienischen Aussprache der lateinischen Texte, wie sie damals üblich war. Die Belohnung für alle Mitwirkenden: lang anhaltender Applaus und Standing Ovations. Bravissimo! 
Einzig zu kritisieren: die Behauptung von Uwe Wolf im Programmheft, die Marienvesper sei "aus dem Geist der Gegengeformation" entstanden. Der Komponist war halt wie die meisten Italiener katholisch und wollte eine große Messe an den Papst verkaufen (was übrigens nicht gelungen ist). Punkt. Die Zusammenstellung alttestamentarischer Texte oder gar die Musik selbst hat mit der Gegenreformation nicht mehr zu tun als Bach mit dem Ablasshandel des Vatikans: nichts.

Samstag, 27. August 2016

Musiktruhe von 1722: Silbermann-Truhenorgel für die Bachakademie

Johannes Fiedler an der Silbermannorgel

Die Stuttgarter Bachakademie hat den Nachbau einer Original-Silbermannorgel vorgestellt, die eigentlich echt ist und nicht nur eine museale Ratität, sondern auch eine klingende Sensation. Im Jahr 2013 wurden in der Schlosskapelle von Seerhausen bei Riesa in Sachsen Reste einer schwer beschädigten Truhenorgel gefunden (einer tragbaren Kastenorgel von der Größe eines Harmoniums). Anders als ein Harmonium enthält sie normalerweise einen kompletten Satz Pfeifen und hat einen völlig anderen Sound. Sie wiegt auch nicht 50 oder 100, sondern knapp 250 Kilo. Doch von der ganzen Pracht war nach kriegsbedingten Plünderungen nicht mehr viel übrig.
Bisher war nicht bekannt, dass Silbermann überhaupt jemals so ein Instrument gebaut hatte, aber Experten waren sich schnell darin einig, dass alles auf die Werkstatt des berühmten sächsischen Orgelbauers und Bach-Zeitgenossen Gottfried Silbermann deutete. Gründliche Untersuchungen des erhaltenen Materials (darunter eine Zinnpfeife, eine Taste und das Schnitzwerk auf dem Einsetzer unter der Tastatur) im Vergleich mit vollständig erhaltenen Orgeln aus dem 18. Jahrhundert durch die Orgelbauwerkstatt Kristian Wegscheider (Dresden) erbrachten schließlich den Nachweis. Der Orgelbauer Hartmut Schütz konnte das Instrument sogar genau auf das Jahr 1722 datieren.
Wieso dann die Bezeichnung "Nachbau" und nicht "restauriertes Original"? Hans-Christoph Rademann, der künstlerische Leiter der Bachakademie, der die Familie Würtz aus Künzelsau als Mäzen für den Kauf und die Wiederherstellung dieses klingenden Museumsstücks gewinnen konnte, will einfach wissenschaftllich ehrlich sein. Ursprünglich war der Stimmton des Instruments einen Ton tiefer als heute, und um das gute Stück für Konzerte in Gegenwart und Zukunft fit zu machen, wurde eine Taste hinzugefügt. 

Außerdem bekam der Blasebalg einen elektrischen Antrieb, um dem Organisten neben der winzigen Tastatur nicht auch noch die (sehr ablenkende und anstrengende) Betätigung eines Blasebalg-Pedals zumuten zu müssen.Wie ein Blick ins Innere zeigt, nimmt der fast die Hälfte des Kastens ein und muss eine Menge Kraft auf die Pfeifen bringen, um den Klang einer richtigen  Orgel zu erzeugen. Ohne Steckdose läuft also nichts; auch das ist eine Veränderung, die vom Original abweicht.
Gespielt wird zudem ohne Bass-Pedale (die hat es hier nie gegeben). Das muss die linke Hand in Verbindung mit einem Register übernehmen. Der Klang dieses Prachtstücks ist jedoch grundsätzlich der des Originals - und ziemlich überwältigend, wie der Organist Johannes Fiedler mit der Motette "Die mit Tränen säen" des Bach-Vorgängers Hermann Schein, der Sonate Nr. 8 e-Moll von Arcangelo Scarlatti und der Toccata e-Moll von Johann Sebastian Bach demonstrierte. "Für unser Orchester ist das vielleicht ein Schock", meinte Rademann schmunzelnd, "dass wir da plötzlich eine Orgel haben, die man tatsächlich hört". Dass es aber zu dominant sein könnte, befürchtet er keineswegs: "Das liegt ja an uns selber".
Der erste Einsatz der Silbermann-Truhenorgel wird am 6. September um 13 Uhr beim Musikfest Stuttgart in der Stiftskirche stattfunden. Da dirigiert Rademann in der Konzertreihe "Sichten auf Bach" die Ensembles seiner "Gaechinger Cantorey" mit Bach-Kantaten über das christliche Verständnis eines gottgeschenkten Reichtums im irdischen Leben.
Die "Musikbox des 18. Jahrhunderts" mag bescheiden aussehen, aber was sie bei entsprechend sachkundiger Behandlung hervorbringt, ist es nicht. Rademann: "Sie wird das Herzstück einer neuen Ensemblekultur aus Chor und Barockorcherster mit historischen Instrumenten". Damit das funktioniert, muss man sich aneinander gewöhnen. Dazu gehört auch Rücksicht auf die Veränderungen bei Temperatur und Luftfeuchtigkeit bei jedem Transport. Organist Johannes Fiedler, der dem Instrument "eine gewisse Mimosenhaftigkeit" bescheinigt, rät zu einer mehrstündigen Ruhepause vor dem Konzert, "damit das Holz arbeiten kann". Und dann kommt natürlich noch der Orgelstimmer. Also: Die "Gaechinger Cantorey" hat jetzt eine mobile Orgel für den eigenen historischen Klang. Aber Vorsicht bleibt die Mutter der Porzellankiste...















Sonntag, 24. Juli 2016

Ein Bomben-Konzert mit Tschaikowski in Ludwigsburg



Daishi Kashimoto, Pietari Inkinen und das Festivalorchester der Ludwigsburger Schlossfestspiele
Es hätte ein großes Fest werden sollen, aber das Abschlusskonzert der Ludwigsburger Schlossfestspiele war typisch für die irren Zeiten, in denen wir leben: ein Riesen-Violinkozert D-Dur von Peter Tschaikowsky mit Daishin Kashimoto, dem Ersten Konzertmeister der Berliner Philharmoniker, mit dem Festspielorchester unter der Leitung von Pietari Inkinen, und eine Bombendrohung. Der unglaublich virtuose und souveräne Japaner zauberte die häufig als "unspielbar" bezeichnete Komposition dermaßen locker, technisch perfekt und kreativ in den Raum, dass schiere Begeisterung Publikum und Orchester erfasste.
Nach der Pause musste das Konzert wegen einer Bombendrohung abgebrochen werden. Die Lemmikänen-Suite von Jean Sibelius war in vollem Gange, als Intendans Thomas Wördehoff auf die Bühne trat, das Konzert unterbrach und sichtlich um Beherrschung bemüht sagte: "Es tut mir sehr Leid, wir haben eine technische Panne. Und deshalb muss ich Sie bitten, jetzt sofort und geordnet den Saal zu verlassen". Draußen sah man dann einen Großeinsatz der Polizei, herumstehende Musiker und ratlose Menschen, die sich mit vorbildlicher Disziplin vom Acker machten. Auch Zugucken kann ja lebensgefährlich sein, so lange man nicht weiß, was wirklich los ist.
Heute hat die Stuttgarter Zeitung auf Twitter unseren Verdacht bestätigt: Es war eine Bombendrohung eingegangen. So viel Prominenz aus Kultur, Medien und Politik ist hier in der Gegend nicht oft auf einem Haufen beisammen wie beim traditionell tollen Abschlusskonzert der Ludwigsburger Schlossfestspiele. Da ist Vorsicht die Mutter aller Porzellankisten. So ein Ende ohne Sang und Klang hätte dem hervorragend besetzten Festival niemand gewünscht. Wördehoff hat toll reagiert und mit seiner Notlüge wohl viel dazu beigetragen, eine Panik unter den 1200 Konzertbesuchern zu verhindern.

Samstag, 23. Juli 2016

Großer Abschied vom Radio-Sinfonieorchester Stuttgart

Zum Lebewohl Rosen und Tränen

Das letzte Konzert des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR und seines Chefdirigenten Stèphane Denève: "Romeo et Juliette" von Hector Berlioz. Das ist eine großartige Musik, die auch ein anderes Verständnis der romantischen Shakespeare-Tragödie zeigt als unseres - übertriebener im Lauten wie im Leisen, in Trauer wie in (unbegründeter, phasenweiser) Fröhlichkeit. Das Orchester zeigte sich von seiner besten Seite, unterstützt von großartigen Sängern: em Vokalensemble Stuttgart des SWR, dem NDR Chor und den Herren der Europa- Chor-Akademie mit Chorleiter Joshard Daus. 
Solisten waren die Mezzosopranistin Laurent Margaine, der brillante (leider nur mit einer Mini-Rolle bedachte) Tenor Loic Félix und ein ganz überragender Bassbariton Laurent Naouri. Links oben im Bild die blonde Mähne des zu sehr in Kunstpausen verliebten Dirigenten zwischen den Solisten, rechts unten die "Schlachtaufstellung". 
Große Geste

Jetzt ist es also tot, das vielfach preisgekrönte Emsemble. Abgeschafft zum Zwecke einer Fusion mit dem Radio-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, von der noch keiner sagen kann, ob sie funktionieren wird. Ab dem Herbst soll es dann das "SWR Symphonieorchester" geben. Plan eines Intendanten, der keinen Plan in Sachen Kultur hat und für die nächste Spielzeit noch keinen neuen Chefdirigenten. Ein Akt der Barbarei, der angeblich Kosten ersparen soll und erst mal Millionen für Abfindungen, zusätzliches (bisher ziemlich erfolgloses) Management und PR kostet. Zum Abschied regnete es Rosen, aber es gab auch viele Tränen bei den Musikern und im Publikum. Über das Absägen des Astes, auf dem man sitzt, mag ich jetzt mehr nicht sagen.

Freitag, 22. Juli 2016

Wildbad-Ausgrabung 2016 die Zweite: ein Bellini!


Am 15. Juli beim Opernfestival "Rossini in Wildbad": Das Original von Vincenzo Bellini´s "Bianca e Gernando" als konzertante Aufführung (klug - so vermeidet man Irritationen durch Inszenierungen, die manchmal gar nicht gut sind). Einen Gernando gibt´s zwar nicht im Namensregister, wohl aber im Titel dieser Oper die nicht so heißen durfte wie der damalige Landesfürst auf Sizilien. Dafür habe ich volles Verständnis, denn wer nähme nicht eine Oper wie "Kretschmann und die Augsburger Puppenkiste" zum Anlass für Hohn und Spott? In Wildbad war die erste richtige Auftragsoper des jungen Bellini zu hören - unreif vielleicht und erst zwei Jahre später als überarbeitete Fassung in die Opernführer aufgenommen, aber doch schon voll von jenen schmelzenden, wunderschönen Belcanto-Arien, Duetten, Terzetten und Quartetten, für die Bellini später berühmt wurde. Wenn man so singen kann, schmelzen Hohn und Spott wie Himbeer-Eis in der Sonne! Die Solisten hier von links nach rechts: Mar Campo (die Zofe Eloise), Maxim Mironov (Gernando), Vittorio Prato (der Ursupator Filippo), Silvia Dalla Benetta (Bianca), Luca Dall ´Amico (Carlo,Herzog von Agrigent). Antonio Fogliani dirigierte wahrlich virtuose Virtuosi Brunenses und den Camerata Bach Chor Poznán in einer konzertanten Fassung der Oper eines jungen Komponisten, den Rossini gefördert hat und der leider viel zu früh starb. Wunderbar!


Musikalisch wertvolle Ausgrabung in Bad Wildbad: Die Kammeroper "Demetrio e Polibio" von Gioacchino Rossini

Gestern war wieder Premiere beim Opern-Festival "Rossini in Wildbad": "Demetrio e Polibio" aus dem Jahr 1812 mit einem unglaublich dämlichen Libretto von Vincenzina Viganò Mombelli und in einer armseligen Inszenierung von Nicola Berloffa, aber wahnsinnig schöne Musik im frisch & schön restaurierten kleinen königlichen Kurtheater von Bad Wildbad im Schwarzwald. Eine der verdienstvollen Rekonstruktionen aus den Archiven, die Wildbad-Intendant Jochen Schönleber mit schöner Regelmäßigkeit schafft.

Das linke Bild zeigt den Dirigenten Luciano Acocella, eingerahmt von den Solisten: links mit roter Krawatte die gereifte, souveräne Mezzosopranistin Victoria Yarovaya in der Hosenrolle des Siveno (Sohn des Demetrius und Ziehsohn des Partherkönigs Polibio), neben dem Tenor César Arrideta in der Rolle des Eumene alias Demetrius incognito. Rechts des Dirigenten die phantastische Sopranistin Sofia Mschedlishvili als Lisinga, Polibios Tochter und frisch angetraute Frau von dessen Ziehsohn Siveno (also Demetrius junior, wie sich am Ende herausstellt).

Auf dem Bild rechts erkennt man etwas von der barocken Innenarchitektur und der intimen Enge des Opernhäuschens mit rund 160 Plätzen inklusive Balustrade. Die Akustik dieser (aller!) hölzernen Barocktheater ist irgendwie dumpf und trocken im Vergleich zu heutigen Opernhäusern, aber echt. Luciano Acocella leitete das großartig aufgelegte Stamm-Orchester des Festivals, die Virtuosi Brunensis (Brünn) und den Camerata Bach Chor Poznan (Posen). Die Tschechen waren vor vielen Jahren eigentlich bloß als billige Notlösung gedacht, haben sich aber als professionelle Partner etabliert, auf die man stolz sein kann. Nur zu Beginn kam das Orchester noch etwas steif und stakkatohaft daher, nahm aber bald Fahrt auf beim Eingrooven auf Tempi und Rhythmen.

Kritik gibt es nur an der phantasielosen, statischen Inszenierung der Kammeroper mit wenig Personal, am dürftigen Bühnenbild (wieso bitte ist ein Schlafzimmer ohne Bett wie ein Wartezimmer eingerichtet?) und an den Kostümen, d.h. Einheits-Uniformen für alle außer der jungen Ehefrau Lisinga. Unnötig einfallslos. Bis auf den Tenor Arrieta, der gelegentlich bei Höhen und Tiefen schwächelte, waren alle Solisten großartig - vor allem unter den Bässen ist so einer wie Lucca Dall´Amico (Polibio) ein Solitär: kein einziges Schwimmen, kein unnötiges Verschleifen der unteren und oberen Tonlagen in den Arien. Mit solchen Sängern geraten auch Duette, Terzette und Quartette zum reinen Hörgenuss. Der Maestro Compositore hätte seine Freude daran gehabt!
Und, um die platte Story nicht ganz unerwähnt zu lassen: Es geht um Demetrius, der seinen Sohn Sivenio alias Demetrius jr. vom Hof des Königs Polibio zurückholen will, wo er in Unkenntnis der tritt der als sein eigener Botschafter (Hä?!) verkleidete Vater mit Waffengeschenken (?!) auf den Plan und gerät gleich nach Art orientalischer Despoten mit dem Ziehvater und Kollegen aneinander, der sich ebenso als dämlicher Macho und notorischer Säbelrassler zeigt wie der für einen erwachsenen Sohn viel zu junge Demetrius. Es folgen: ein diplomatischer Eklat, die irrtümiche Entführung von Sivenos Frau Lisinga statt Siveno, ein Geiseltausch im Wald, die ebenso unnötigen wie damals üblichen Orgien in Selbstmitleid und Verfluchungen sowie schließlich die reichlich späte Klärung der unnötigen Verkleidungs- und Verwechslungsgeschichte mit Rührung, Versöhnung und Hurrapatriotismus. Ein Klischee des Orientalismus im 19. Jahrhundert jagt das nächste, von psychologischer Rollenführung oder gar einer glaubwürigen aktuellen Charaktergestaltung keine Spur. Aber so war das halt damals, und eine historisch korrekte Aufführung ist für Wildbads Vorreiterrolle beim Wiederentdecken alter Opern allemal wichtiger als der moderne Zeitgeschmack. Eine Steilvorlage für nachfolgende Inzenierungen.


Freitag, 8. Juli 2016

Großartig: Mozarts "Idomeneo" mit Flüchtlingen in Ludwigsburg

So sehen glückliche Künstler aus: Das "Idomeneo"-Ensemble von Ludwigsburg (Foto: Sebastian Marincolo)

Mozart im Jahr 2016: Die Oper "Idomeneo" kommt heute bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen als aktuelle Neuproduktion mit dem Verein "Zuflucht Kultur", dem Philharmonia Chor Stuttgart und dem BandArt Orchester auf die Bühne. Alle Hauptfiguren erleben eine Welt aus den Fugen und die Ungeheuerlichkeit der Zumutung eines "Weiter so!".
Was der Trojanische Krieg Mozart, war dem Regisseur Bernd Schmitt der syrische Bürgerkrieg. Dies und die Flucht übers Mittelmeer ist aber nicht der einzige aktuelle Bezug. Was die Mezzosopranistin Cornelia Lanz und ihren Verein vor allem bewegte, war die aktive Zusammenarbeit mit Flüchtlingen - darunter auch Profis wie Mohsen Rasidkhan und Ayden Antanyos oder Zaher Alchihabi und dem Bewegungschor "Zuflucht". Mozart verbindet - und einige der Flüchtlinge bekommen Gelegenheit, ihre ganz persönliche Geschichte einzubringen. Authentischer kann politisches Musiktheater kaum sein.

Der Flüchtling und die Sängerin (Foto: Omar Zaror)
Dabei wird aber Mozart nicht einfach instrumentalisiert oder gar "verhackstückt", dafür sorgen schon Maximilian Schmitt (Bass) als König Idomeneo von Kreta oder Cornelia Lanz als sein Sohn Idamante (rechts im Bild bei den Proben des Bewegungschores mit Wassim Alkadroush). Bei der Arbeit wuchs ein tolles Kollektiv zusammen, beispielhaft dafür, wie kulturelle Teilhabe gelingen kann. Aber wir Kulturschaffenden dürfen nicht vergessen, dass die Realität trotz allem immer anders sein wird als da, was davon auf die Bühne kommt - inszeniert, geruchlos, ohne echtes Blut und ohne echten Tod. Die "Katharsis" (Reinigung oder Läuterung der Seele nach Ansicht der antiken griechischen Dramatiker) als Folge der Erschütterung haben die Künstler dem Publikum jedenfalls schon voraus. Dafür hat Mozart schon vor 300 Jahren gesorgt, aber auch heute Cornelia Lanz mit ihren engagierten Kolleginnen und Kollegen.

Der Bewegungschor in Aktion (Foto: Andreas Knapp)
Es war hart, die Produktion mit langen Pausen und ihn wechselnden Proberäumen zu stemmen, zumal viele der Flüchtlinge erst nur Interesse, aber keine Vorstellung davon hatten, was eine Oper ist. Aber inzwischen läuft alles wie am Schnürchen. Ich bin gespannt auf die Premiere heute Abend - und darauf, wie die syrischen Gäste aus meinem Deutschkurs reagieren! Meine ganz persönliche Hoffnung: Dass alle Beteiligten und das Publikum mit dieser Aufführung ein Stück weit verarbeiten, was da passiert, denn unsere Welt ist wirklich aus den Fugen. Kunst ist ja immer auch Therapie, wenngleich nicht jede Therapie ein Kunstwerk.

Moayad Nabil Zoriki
Bleibt nur zu sagen: Moayad aus meinem Deutschkurs, der noch nie polyphone philharmonische Musik, Chöre und Mozart gehört hatte, sagte nach der Vorstellung: "Das war sehr gut, wonderful, groß - da war der aufregendste Teil meines Lebens auf der Bühne, und alles richtig! I had not expected such a nice music and so much compassion and respect". Dass die Stadt Ludwigsburg ihm das Ticket geschenkt hat, war schon sehr großzügig - er wollte es bezahlen. Dass er nach der Vorstellung dann auch noch zur Premierenfeier eingeladen war, konnte er gar nicht verstehen: "Zu viel". Er war wohl ziemlich überwältigt und wollte einfach zurück ins Flüchtlingsheim zu seiner Frau und seiner kleinen Tochter, für die es keinen Babysitter gab. Ich glaube, ein größeres Kompliment hätte man den Sängern, den Musikern, der Regie und den anderen Mitwirkenden nicht machen können. Am Ende gab es Standing ovations von allen für alle.
Die Sänger waren musikalisch sowie schauspielerisch professionell und hoch emotional engagiert. Besonders umjubelt: Die Flüchtlinge auf der Bühne, Maximilian Schmitt in der Titelrolle und Josefin Feiler (Sopran) als Idamantes Geliebte Ilia - und natürlich Cornelia Lanz als Idamante, wenngleich ihre Stimme Spuren von Stress zeigte - kein Wunder bei der Mehrfachbelastung als Sängerin und Produzentin. 
Schlussapplaus
Speziell hervorheben möchte ich die Regie von Bernd Schmitt, der auch eine einfühlsame Dialogfassung erstellt hat und für jede aktuelle Ergänzung des Original-Librettos eine sinnvolle Kürzung fand - selbst bei Arien und Rezitativen. Dabei ist es sicher schwer, aus Respekt vor Mozart nicht in Angststarre zu verfallen. Mit viel Schwung und Respekt vor allen Mitwirkenden hat er eine Version von "Idomeneo" geschaffen, die es verdient hätte, möglichst oft übernommen zu werden. Chapeau!
Der planvolle und doch zurückhaltende Einsatz von Videos auf der zentralen Leinwand ersparte viele Umständlichkeiten und war in den Motiven immer plausibel: Meer, Kriegs-Dokumentaraufnahmen, Stuttgarter Tunnelfahrten von Idamante am Steuer mit Pistole und Skimaske auf dem Weg zu Heldentaten als Selbstmordkandidat, der sein Land vom Fluch sinnloser Menschenopfer befreien will. Ganz klein, aber enorm wirkungsvoll: ein Einfall fürs Finale. Da tanzt nach dem wuchtigen Schlusschor eine kleine Ballerina grazil und kindlich ins Rampenlicht, bedroht von einem anonymen Killer im Video, der quasi von hinten und von oben sein Gewehr auf sie richtet. Die Zukunft unserer Jugend? Vorhang. Große Gefühle.

Sonntag, 3. Juli 2016

Barock-Metamorphosen mit Gautier Capucon

Innige Einheit: Gautier Capucon und sein Cello (Foto: Gregory Batardon)
Die Ludwigsburger Schlossfestspiele waren am 30. Juni auf Exkursion im Theaterhaus Stuttgart - mit dem Cello-Weltstar Gautier Capucon, dem Stuttgarter Kammerorchester und Christian Muthspiel, dem österreichischen Hans-Dampf-in-allen-musikalischen-Gassen (Dirigent, Posaunist, Pianist, Jazzer, Komponist). Das Gastspiel hatte Methode, ist doch das Theaterhaus der Landeshauptstadt mit diversen Festivals ein Mekka zeitgenössischer Musik. Das derzeit laufende ("Der Sommer in Stuttgart") hat allerdings schon am Eröffnungstag ein Konzert mangels Interesse absagen müssen, und  das hätte eine Warnung sein können: Der Saal war halb leer, und das ließ sich kurzfristig nicht mehr ändern. Die Leute hören halt gern den französischen Cello-Star Gautier Capucon und auch Barockmusik, aber offenbar weniger gern Christian Muthspiel und Zeitgenössisches von den Briten Benjamin Britten (1913 - 1976) und Michael Tippett (1905 - 1998). Das musikalische Niveau des Abends und das lautstark applaudierende Stammpublikum des Stuttgarter Kammerorchesters konnten auch daran nichts ändern.
Dabei widersetzte sich das Orchester virtuos der Fragmentierung durch Brittens "Präludium und Fuge für 18 Streicher op. 29", eine Komposition, die sich anhörte wie ein erweitertes Einspielen mit zögerlichem Auftakt. Solist, Dirigent und Orchester  wuchsen über sich hinaus bei der folgenden Uraufführung von Muthspiels "A Serious Game, Konzert für Violoncello und Kammerorchester, basierend auf der Cellosuite I, BWV von Johann Sebastian Bach". So steht´s im Programm, und so bestätigte sich einmal mehr die Erfahrung: Je länger der Titel eines Stücks Neuer Musik, desto fragwürdiger der Inhalt. Selbst die großartigen Musiker konnten dabei nur einen Achtungserfolg herausholen.
Muthspiel erzählte vorab die hübsche Geschichte, dass die Posaunenfassung der Bachschen Cellosuite seit Jahrzehnten zu seiner täglichen Übungsroutine gehöre, und hatte auch zu Beginn ein paar gebrochene Zitat-Takte eingebaut, die an das Original erinnern. Dennoch kam das intensiv dialogische, respektlos verspielte, teilweise verjazzte und virtuos gespielte Werk auch in den temperamentvollen Phasen nicht wirklich an. Wie zum Trost für geplagte Ohren dann eine besonders innige Solo-Zugabe mit bekannten Melodien.
Das Gefälle zwischen der programmatischen Metamorphose barocker Musik und den Folgen moderner "Anverwandlung" zeigte nicht zuletzt nach der Pause der unmittelbare Vergleich dem Konzert für Violoncello, Streicher und Basso continuo a-Moll von Antonio Vivaldi (1678 - 1741). Einfach fabelhaft. Ebenso wie das Concerto grosso F-Dur von Arcangelo Corelli (1653 - 1713), dem Tippets "Fantasia Concertante über ein Thema von Corelli" folgte - durchaus schöne Klangteppiche mit harmonischen Auflösungen zu einem Motiv aus eben diesem Concerto grosso, aber eben nur ein Thema daraus. Die Frage muss erlaubt sein, wozu das gut sein soll. Auch Tippett kann im direkten Vergleich mit dem Reichtum des Originals nur verlieren; da wäre es für Werk und Komponist vorteilhafter gewesen, es ohne Zusammenhang oder in einem anderen zu spielen.
Als "geplante Zugabe" kündigte Muthspiel das abschließende "Concerto in D" von Igor Strawinsky (1882 - 1971) an. Nun ja - es ist eine Art Salonmusik, ein zerfledderter, gegen Ende im Rondo und Allegro jazzig aufgemotzter Walzer. Brav gespielt, doch in meinen Ohren kein Highlight im reichhaltigen Schaffen des Komponisten.
Muthspiel hat sich durchaus etwas gedacht bei der Zusammenstellung des Programms, aber mit seinem eigenen Beitrag die recht hohen Erwartungen an Metamorphosen (Verwandlungen) barocker Vorbilder ebenso enttäuscht wie mit Britten und Tippett. Der Mangel betrifft nicht die handwerklichen Fähigkeiten der Musiker bzw. der Tonsetzer oder ihre Phantasie, sondern deren Ergebnis. Solche Mischungen sind halt fürs Publikum selten der süffige Cuvee, der sie in den Augen und Köpfen ihrer Schöpfer sein möchten.



Samstag, 11. Juni 2016

"Königliches Privileg" mit Sarah Wegener in Ludwigsburg


Reinhard Goebel und Sarah Wegener beim Schlussapplaus
Ein tolles Konzert gab es gestern im Ordenssaal des Residenzschlosses bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen: Sarah Wegener mit dem Kammerorchester der Ludwigsburger Schlossfestspiele unter Reinhard Goebel, de, legendären Gründer des Ensembles Musica antiqua Köln. Die Sopranistin interpretierte Barockmusik von Jean-Joseph de Mondonville (1711 - 1772) und Niccolò Jomelli (1714 - 1774). Jommelli mit der Vertonung zeitgemäßer Schäferlyrik, Mondonville originellerweise mit seinem "Privilège du Roi" - der königlichen Erlaubnis von 1742, seine Noten zu drucken und zu verkaufen. Das wäre ungefähr so, als ob John Lennon einen Plattenvertrag vertont hätte - Musik in höchster Vollendung zu einem unglaublich banalen, rein kommerziell-juristischen Text, einem puren, unbearbeiteten Kanzleidokument eben. Sarah Wegener machte daraus eine phantastisch ironische und musikalisch herausrgende Performance. Wenn Verträge immer so sexy wären, würde ich nichts anderes mehr schreiben. Seit 300 Jahren erstmals wieder zu hören - eine Ausgrabung der Extraklasse auf einem musikalischen Niveau, das derzeit weltweit kaum zu toppen sein dürfte!
Eingeleitet wurde dieses Highlight durch eine ausgesprochen rebellische Komposition: Die "Elementarmusik" von Jean-Féry Rebel (1666 - 1747). Man traut seinen Ohren kaum: Atonal und expressionistisch, das gab es also schon 1737! Nach dem ohrenbetäubenden Anfangsakkord überrollt dieser Barock-Tonsetzer Rebel, dem der Name Programm schien, trotz seiner damals 72 Jahre das Pulikum im Eingangssatz "Chaos" mit einem ausgelassenen Presto, das jedem Versuch hohnspricht, igendwie Ordnung in die Naturgwalten zu bringen. Wasser, Feuer, Luft und zuletzt die Nachtigallen der bewohnten Erde bieten dann wunderschöne harmonische Auflösungen.
 
Intendant Thomas Wördehoff im Pausengespräch
In der Pause, noch vor der "Cantata  Nice" von Jommelli, plauderte Intendant Thomas Wördehoff mit einer Gruppe syrischer Flüchtlinge, die demnächst an einer Koproduktion der Mozart-Oper "Idomeneo" des Vereins Zuflucht Kultur mit den Ludwigsburger Schlossfestspielen mitwirken. Großartig schon die Proben. Der Hinweis sei erlaubt, dass am 8. und 9. Juli zwei Aufführungen im Forum am Schlosspark geplant sind. Mir fällt bei dieser Zusammenabeit über Kulturgrenzen hinweg noch ein, dass unsere Freunde aus Syrien sich in diesem Schloss fühlen müssen, als seien sie zu einem Konzert in einer ehemaligen Residenz von Saddam Hussein eingeladen (die entsprechenden Gemächer von Baschar al Assad in Damaskus stehen für so etwas ja noch nicht zur Verfügung). Schon der Weg in den Ordenssaal ist ja gepflastert mit einer Ahnengalerie Württembergischer Herrscher, die schon ein rechtes Gruselkabinett darstellt. 
Die wichtigste Lektion daraus auch ohne Worte: demokratische Kultur hat bei uns diese Manifestationen despotischer Allmachtsphantasien besetzt, umgewidmet und für alle geöffnet. Im Schlosshof, wo früher Wachbatallion paradierte, flanieren nun Konzertbesucher und Hochzeitsgesellschaften. 
Den Abschluss des Abends bildete die Sinfonie Nr. 29 A-Dur des 18jährigen Wolfgang Amadeus Mozart, der bekanntlich auch in Ludwigsburg gastierte. Wie brillant dieses Orchester inzwischen auf Alte Musik eingestellt ist, wurde hier einmal mehr hörbar. Es war auch ein Privileg, den Dirigenten Reinhard Goebel zu erleben, den Wördehoff seit seiner Zeit im Ruhrpott kennt. Mit launigen Worten bat er schon vor dem Beginn darum, sich mit modischem Szenenapplaus zurückzuhalten: "Man applaudiert ja besser nicht nach jedem Stück, etwa bei einer Trauermusik". Völlig durchgeschwitzt, entledigte er sich vor der Zugabe (Einer Wiederholung von Rebels "Chaos") seiner "Rüstung: Frack, Bauchschärpe, Fliege fielen zu Boden, und befreit spielte dann auch das Orchester nochmals das musikalische Naturbild über die Zeit vor dem Auftritt des Menschen.




Sonntag, 29. Mai 2016

Flüchtlinge als Europas Gründungsmythen

"Aeneas oder die Kunst der Flucht": Michael Köhlmeier las am 28. Mai im Ludwigsburger Schlosstheater aus einer kommentierten Live-Version der "Aenaeis" von Vergil.  Andes als sein großes Vorbild Homer in den "Irrfahrten des Odysseus" ließ der römische Dichter Vergil seinen Flüchtling ohne Ziel durchs Mittelmeer geistern: ein Suchender, ein Schutzflehender auch, und doch ein Königssohn und von den Göttern dazu bestimmt, nach der Vernichtungs Trojas Rom zu gründen. Ein Mythos, grausamer vielleicht, aber kaum weniger faszinierend als die Geschichte der Zwillinge Romulus und Remus, die eine Wölfin gesäugt haben soll.  

Links wird der Dichter sitzen, rechts zwei Posaunisten

Die Götter der alten Griechen sind schon eine ziemlich miese Bande gewesen: eifersüchtig, intrigant, geil, gewalttätig und grausam selbst zu denn, die sie in Liebe zu einem Menschen gezeugt haben. Aeneas, der einzige überlebende Held von Troja, verdankt Segen und Fluch seiner Existenz der Begegnung einer Unsterblichen mit seinem Vater. Aphrodite prsönlich verlangte nach ihm, doch sie gebot ihm, die Frucht ihrer Liebe zu verheimlichen. Als er im Rausch damit prahlte, wen er da geliebt habe, hatte er Zeus und dessen Gattin Hera, die Hüterin von Ehe und Herd, an der Backe, und ward durch einen Blitz gelähmt. So sitzt er nun hilflos auf den Schultern seines Sohnes Aeneas, der das brennende Troja auf der Flucht vor der Griechen verlässt - alles angezettelt von solchen Göttern.
In Ludwigsburg las Michael Köhlmeier, nein spielte, las und interpretierte frei und live in bester Tradition des mündlichen Erzählens, diese bizarre Geschichte neu. Neu, weil der österreichische Romancier besonders klar macht, dass die altgriechischen Götter sich im Grunde nicht anders verhalten haben als Potentaten und Regierungschefs heute, die Menschen und Kriege als Mittel für ihre nicht immer astreinen Zwecke sehen. Entsprechend ambivalent müssen solche Beziehungen zwischen denen da Oben und uns hier Unten sein. Und entsprechend dämlich hören sich AfD-Politiker vor diesem Hintergrund an, wenn sie von "Angst vor Überfremdung" oder "islamisierung des Abendlandes" faseln, um ihr rückwärtsgewandtes, völkisches Denken zu verbreiten. Sie missbrauchen eine Religion und eine Kultur, die sie nicht haben. Sie vergessen ganz einfach, wo sie herkommen, die heimatlosen Gesellen.
 Dieser Aeneas war doch nichts als ein griechischer Häuptlingssohn, der nach dem Verzehr der ersten Pizza beschloss, eine mächtige Stadt zu gründen, die alles in den Schatten stellen sollte, was Troja je zu sein behauptet hatte, einen Staat, auf den sich heute ganz Europa beruft (mehr als auf gemeinsame humanistische Werte oder "Christentum"!). Ist doch Europas Ordnung in Recht, Militär und Verwaltung im Grunde römisch. Wenn auch, na ja, so möchte ich den Gedanken mal weiterspinnen, irgendwo im schwäbischen Gallien ein kleines, bis heute unbesiegtes Dorf mit Asterix und Obelix die Welt zum Lachen bringt - selbst die humorlose Welt muslimischer Geistlicher. Selbst in Berlin-Kreuzberg oder den französischen Banlieus. Oder auf der Bühne eines über 200 Jahre alten Schlosstheaterchens in Ludwigsburg, wo die Beleuchtung nicht für anständige Fotos mit bewegten Zielen reicht.War ja auch nie für so was gedacht, bitteschön! Alles andere wäre ja feuergefährlich und ein Verstoß gegen das Denkmalschutzgesetz.

Die Posaunisten Bertl Mütter und Leonhard Paul taten mit: ihre Instrumente lachten und weinten, sabberten und blubberten, pfiffen und pfoffen die akustischen Illustrationen vom maritimen Nebelhorn bis zum rachsüchtig-göttlichen Gewittersturm. Ein wunderbarer Abend mit 200 Jahre alter höchst aktueller Literatur.

Donnerstag, 26. Mai 2016

Ein Solitär unter den Regionalkrimis


quadratisch – käuflich – tot Bernd Storz: "Quadratisch, käuflich, tot". Kriminalroman, Verlag Oertel + Spörer Reutlingen, 2. Auflage 2015, 296 S., 10,95 €

Regionalkrimis haben Konkjunktur, also gibt es ein Überangebot. Außerdem gestehe ich, das sie für gewöhnlich nicht meine Leib- und Magenlektüre sind. Deshalb ist mir dieses Buch erst mit gehöriger Verspätung aufgefallen. Und auch da war der Zufall im Spiel: Meine Frau bekam es geschenkt, und ich kannte den Autor - per Facbook, und wie ich mich dann (sehr gern) erinnern lassen musste, von einem Treffen des Schriftstellerverbandes (VS) vor Jahrzehnten in Bad Wimpfen oder so. Kurz: ich riss mir diesen Storz-Krimi mit Erlaubnis meiner besseren Ehehälfte unter den Nagel und stellte dafür einen 600-Seiten-Schinken von David Baldacci zurück, der eigentlich als Badewannenlektüre eingeplant war. Ich habe nichts bereut.
Das geht schon beim Titel los, der herrlich ironisch den fast schon kunsthistorisch legendären Werbespruch der Schokoladenfabrik Ritter Sport in Waldenbuch aufgreift ("Quadratisch, praktisch, gut"): Nicht einfach abgekupfert, sondern phantasievoll und treffend zitiert zur Kurzgeschreibung dafür, worum es geht: Schokolade (nach der die Stuttgarter Kommissarin Francesca Molinari süchtig ist), Korruption im Kunstbetrieb (Gleich neben der Schokoladenfabrik leistet sich Frau Ritter als Mäzenin tatsächlich ein veritables Museum für die eigene Kunstsammlung, die sich am Bauhaus-Künstler Joseph Albers orientiert mit seiner "Ode an das Quadrat") und Mord. Da steckt also schon eine ganze Menge an wechselseitigen Bezügen drin, und nicht der simpelte davon dürfte die angebrochene Packung Schokolade sein, die das Cover ziert - gewiss mit freundlicher Genhmigung der literarisch charmant umtanzten Firma.
Nun denke ich nicht daran, den Inhalt hier vorwegzunehmen, zumal das alles sicher in der Regionalpresse nachzulesen ist. Aber auffällig sind hier nicht nur die literarische Qualität und das sorgfältige Lektorat (fast keine Druckehler!), sonderen auch die fundierte Recherche des Autors. Kein Schriftsteller (und Storz ist dazu auch noch Universitätsdozent in Reutlingen) kann ja für jedes Buch ein Fachstudium absolvieren oder gar immer über ein- und dasselbe Spezialgebiet schreiben. Wie Storz die Schokoladenproduktion und den Kunsthandel recherchiert hat, um in diesem regionalen Umfeld (plus globaler Vernetzung, versteht sich) dann das organisierte Verbrechen rund um einen Mord in der Schokoladenfabrik zu entwickeln, ist aber schon außergewöhnlich.
Gut recherchiert sind nicht nur die Verhältnisse bei Ritter Sport und im Kunstmuseum nebenan, sondern auch bei der Kripo oder in der internationalen Fälscherszene mit ihren Galeristen. Allein was sich Storz hier an Fachwissen aus der neueren Kunstgeschichte angeeignet hat, nötigt Respekt ab. Der Plot ist gut gestrickt, die Dialoge kommen flott und teilweise auch witzig daher, ohne albern zu werden, die Figuren haben Charakter. Sogar Nebenhandungen wie eine drohende Ehekrise der Kommissarin und die anfangs sehr mysteriöse Flucht der ehemals drogensüchtigen Tochter des ermordeten Ritter-Schichtleiters (vor wem und wieso eigentlich) finden eine plausible Aufklärung - aber keine Seite zu früh. Die Spannung bleibt bis zum Schluss erhalten. Alles in allem ist dieses Buch wirklich ein Solitär unter den Heerscharen der Regionalkrimis und eine sehr genussvolle Lektüre.














Freitag, 6. Mai 2016

Geballte Erfahrung: "100 Jahre Leben" von Kerstin Schweighöfer

Kerstin Schweighöfer: „100 Jahre Leben. Welche Werte wirklich zählen“, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 366 Seiten, 20 EURO.

Das Buch „100 Jahre Leben. Welche Werte wirklich zählen“ von Kerstin Schweighöfer porträtiert zehn Menschen im Alter von 100 oder mehr Jahren, so genannte „Zentenare“. Es ist eine geballte Ladung Lebenserfahrung, von der man eine Menge lernen kann.

Hundertjährige nötigen uns Respekt ab und machen uns neugierig. Sie sind nicht automatisch Vorbilder, aber Zeugen eines Jahrhunderts, in den enorm viel passiert ist und das ihnen viel zugemutet hat. Manche haben ihre Großeltern durch Seuchen verloren, die vor der Erfindung des Penicillins tödlich waren, ihre Väter bei Verdun und Männer bei Stalingrad. Für sie ist die Zeit vergangen in einem Tempo wie kaum je zuvor. Sie haben die Einführung des Frauenwahlrechts erlebt, den Nationalsozialismus, die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands. Sie haben noch Zeiten ohne Auto und Flugzeug, Glühbirne, Telefon, Radio und Fernsehen gekannt, ohne Staubsauger, Waschmaschine, Nylonstrümpfe und Kugelschreiber Und doch surfen einige von ihnen heute im Internet.
Die Autorin Kerstin Schweighöfer hat schon als Kind eine von ihnen gekannt, eine Wirtin namens Mathilde aus dem Schwarzwald. Doch allen hat sie einfühlsam die gleichen Fragen gestellt: über den Wert von Liebe, Ehe, Kinder und Familie, Freundschaft und Leidenschaft, Geld und Erfolg, Freiheit und Glück, Gott und Religion. Sie hat sehr ehrliche Antworten bekommen und zieht jedes Mal respektvoll, aber sachlich und nüchtern Bilanz.
Sieben der zehn porträtierten Zentenare sind Frauen – weil sie nicht auf dem Schlachtfeld gefallen sind und vielleicht auch weil ihnen das Rauchen und Trinken noch fremd waren. Mathilde war als junge Frau Dienstmädchen. Der Sohn eines Arbeitgebers stieg ihr nach, und sie musste auf Geheiß des Pfarrers und der Eltern einen wildfremden Bauern heiraten. Liebe kam da nicht auf. Arrangierte Ehen waren also vor 100 Jahren auch bei uns kaum seltener als heute im Orient. Als furchtbaren Schlag erlebte Mathilde den Selbstmord ihres Sohnes, der aus einer Affäre stammte. Da hat sie an ihrem Glauben gezweifelt.
Obwohl der Verlust geliebter Menschen zu den schlimmsten Erfahrungen gehört, ist es beeindruckend, mit welchem Lebensmut die heute Hundertjährigen immer wieder neu angefangen haben. Fast alle wiederholen die unsentimentale Aussage, man müsse das Beste aus dem Leben machen. Dass jeder, auch ein Atheist, an etwas glaubt, das ihn aufrecht hält, ist auch so eine Erkenntnis. Oder dass es kein Recht auf Glück gibt. Auffallend viele erklären: „Wir jagen häufig einer Vorstellung vom Glück nach. Man übersieht es leicht, denn oft liegt es im Kleinen.“
Worauf es ankommt, sagen Fritz aus Naumburg, die Malerin Mariska aus Ungarn und die britische Archäologin Beatrice, sei ein gutes Leben, und sie meinen damit ein sinnvolles. Wichtig für die Liebe sind ihnen Achtung, Vertrauen und gemeinsame Ziele. Besonders viele glückliche Augenblicke garantieren aber anscheinend weder Liebe noch Sex. Die Familie als Lebenshinhalt kann sich als brüchig erweisen, Kinder können sterben oder ins Unglück rennen, und die Eltern müssen es machtlos hinnehmen.
Umso wichtiger sind daher Freunde, die einem auch dann noch Halt geben und die man sich aussuchen kann. Die meist-genannte Zutat für ein erfülltes Leben ist Leidenschaft: diese oft nur kleine, aber beständige Flamme, die alles, was man tut, zum Leuchten bringt, die den Beruf zur Berufung macht, ein Hobby, ein Interesse, ein Ziel.
Das Leben ist ein Geschenk, sagen die Jahrhundertmenschen – trotz aller Verluste, Einschränkungen oder Fehler. Manche bereuen, dass sie zu feige waren, jüdische Freunde vor den Nazis zu retten. Gerrit aus Holland hat sich von Schönheit blenden lassen und die falsche Frau geheiratet, brachte aber nicht den Mut auf, sich von ihr zu trennen. Lieber führte er 40 Jahre lang ein Doppelleben. Einige bedauern, dass sie sich zu wenig um ihre Partner gekümmert haben.
Es gelingt nicht immer, Prinzipien treu zu bleiben, doch das macht sie nicht überflüssig. Die Charakterstärke der Hochbetagten bedeutet nicht etwa Fehlerlosigkeit, sondern eher die Fähigkeit, nie aufzugeben und Freiheit nicht mit Verantwortungslosigkeit zu verwechseln. Diese Fähigkeit hat ihren Preis, den die Hundertjährigen genau kennen. Weicheier und Bequemlinge sind sie alle nie gewesen. Dieses wunderbare Buch enthält zusammen 1000 Jahre Lebens-erfahrung und macht jedem Leser Mut. Denn wir werden alle älter und können viel lernen von der Haltung, die man hier antrifft.


Sonntag, 1. Mai 2016

Der mit der Orgel tanzt: Cameron Carpenter wird frenetisch gefeiert

Der Solist mit dem ORF-Radio-Symphonieorchester Wien in Ludwigsburg


 Große Dynamik: Das Orchester, der Dirigent Cornelius Meister und der Solist Cameron Carpenter

Wahrhaft würdig einer Walpurgisnacht war am 30. April bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen der Auftritt des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien unter der Leitung von Cornelius Meister mit dem Auzsnahme-Organisten Cameron Carpenter als Solist. Das einleitende Stück "Die Mittagshexe" von Antonin Dvorák ist ein klangmächtiges slawisches Märchen, das (anders als dieses Konzert!) nicht gut ausgeht: Ein Kind ist ungezogen, die Mutter mahnt: "Sei brav, sonst holt dich die Mittagshexe!" Das Kind ist erneut ungezogen, die zweite Mahnung wird zur Anrufung, die Hexe kommt und will das Kind mitnehmen. Die Mutter, die alles nicht so gemeint hat, kämpft um ihr Kind. Schlag Zwölf entschwindet die Mittagehexe. Der Vater kommt heim und findet die Frau im Wahnsinn, in den Armen ihr totes Kind. Eine musikdramaturgische Glanzleistung ist diese sinfonische Dichtung, die 1896 in London uraufgeführt wurde. Dirigent und Orchester wechseln kunstvoll in schönen, klangmalerischen Melodien zwischen Idyll, Quenengelei, Schärfe, Kampf und Trauer mit dem Wahnsinns-Crescendo im Finale.
 
Auch Carpenters Beinarbeit ist sehenswert
Ein ideales Warmlaufen war das für das zentrale Werk dieses Abends - Die Rhapsodie über ein Thema von Paganini, bearbeitet für Orgel und vorgetragen von Cameron Carpenter. Der 35jährige US-Amerikaner kommt daher wie ein Punk und ist doch ein ähnliches virtuoses Genie wie der Geiger Paganini. So manche Orgel hat eine Begegnung mit diesem Mann nicht überlebt, weshalb er 2014 ein eigenes Instrument bauen ließ, das ihn seither zu jedem Konzert begleitet.
Wenn man das spillerige Kerlchen mit den zu kurzen Jackenärmeln sieht, mag man kaum glauben, welche Kraft in Carpenter steckt: genug für fünf Manuale (nicht gezählt die Register) und ein ungewöhnlich großer Pedalwerk, das er mit tanzenden Füßen souverän bespielt. Als sechstes Manual darf man getrost das Orchester sehen, denn das mag zwar einen Chef haben, aber gespielt wird es hier von einem entfesselten Solisten. Sensationell die sensible Abstimmung zwischen den Musikern, die kluge Zurücknahme des Dirigenten, die unverhohlene Bewunderung des Ensembles für diesen Teufelskerl. Ein Teufelsstück für einen Teufelsgeiger, adaptiert von einem Teufelsorganisten: Einfach großartig, diese Virtuosität sozusagen über 6 Etagen. Das fand auch das Publikum und steigerte seinen Applaus mit vielen Bravos bis zu fast fanatischen Begeisterungsausbrüchen  und Standing Ovations.

Dirigent Cornelius Meister und Cameron Carpenter beim Schlussapplaus
Sage und schreibe fünf (5) Zugaben musste Carpenter spielen, von Johann Sebastian Bach bis zu deutscher Marschmusik und österreichischen Drehorgelmelodien aus dem Prater.
Etwas Ruhe brachte dann nach der Pause die Sinfonie Nr. 4 d-Moll von Robert Schumann in den ausverkauften Saal. Glänzend orchestriert und feinfühling in den Steigerungen der erdigen, unaufgeregten Motive in den Wiederholungen der Streicher durch Holz- und Blechbläser, ist dieses eher heroisch-schwermütige Werk genau richig als Finale eines solchen Konzerts. Mir gingen den ganzen Abend nicht zufällig Szenen aus der Walpurgisnacht in Goethes "Faust" nicht aus dem Kopf. Wenn Musik derart die inneren Bilder zum Laufen bringt, ist es gut. Nein: sehr gut. Ungewöhnlich genug, auch für ein Gastspiel, waren zwei Zugaben durch das Orchester: Nr.72 von Dvoráks "slawischen Tänzen" und die "Bussi-Polka" des modernen Komponisten Ernst Fischer.



Samstag, 16. April 2016

Großartige Solisten, lustloser Dirigent, irritiertes Orchester

Gestern zur Abwechslung ein Brahms-Abend mit dem Radio-Sinfonieorchesster Stuttgart des SWR in der Liederhalle: ein echtes Abschaltprogramm von der ewigen Böhmermann-Erdogan-Hysterie. Lars Vogt spielte das Klavierkonzert Nr. 1 zum Niederknien schön, und der Bariton Russell Braun sang eine von Detlef Glanert orchestrierte Fassung der "Vier Präludien und Ernste Gesänge" von Johannes Brahms. Großartig, facettenreich, wunderbar. Nur die "Tragische Ouvertüre d-Moll", das rein instrumentale Stück zum Einstieg, war etwas nach Haudrauf-Art dirigiert. Na ja: Stéphane Denève geht ja zum Sommer, und etliche Abonnenten mit ihm. 
Da stimmt halt nicht mehr alles in einem Orchester, dem viele Irritationen und Zickzack-Monate bevorstehen. Zum Herbst wird es mit den Kollegen aus Freiburg fusioniert, aber es gibt noch keinen neuen Chefdirigenten. Es fällt nur auf, dass in der ersten Spielzeit allein sechs Mal Gustav Mahler gespielt wird. Der ist für seine großen Besetzungen bekannt und kann 176 Musiker beschäftigen, bis durch Frustabgänge und Rente die "Normalstärke" von ca. 130 Musikern erreicht ist. Eine künstlerische Identiät oder gar ein Profil entsteht aber dadurch nicht. Jedes Konzert mit einem anderen Gastdirigenten: Das bedeutet für Orchester und Publikum eine schlimme Phase von wechselnden Richtungen, Hü und Hott. Ach, Ihr Manager, Kunst geht wahrlich anders und auf diese Weise richtig den Bach runter! Da hilft es auch nicht, diesen Zustand schönzureden und von einer Findungsphase ohne Zeitdruck zu schwafeln. Kein Ende mit Schrecken also, sondern ein Schrecken ohne Ende. Mir tun die Musiker und die Musikfreunde leid.

Montag, 28. März 2016

Bürger, lasst Euch nicht vertreiben!

Vladimir Vertlib: "Lucia Binar und die russische Seele". Roman. Deuticke bei Paul Zolnay in Wien, 319 S., 19,99 €


Lucia Binar ist 83 Jahre alt und stinksauer. Die Große Mohrengasse, in der sie schon ewig wohnt, soll in "Große Möhrengasse" umbenannt werden. Außerdem wurde ihr Essen auf Rädern nicht geliefert. Der Telefondienst dafür wurde in ein Callcenter ausgelagert, und dort rät man ihr, sich halt von Trockenwaffeln zu ernähren. Lucia will die schnoddrige "Ratgeberin" zur Rede stellen und trifft dabei Moritz. Der hilfsbereite Student unterstützt die "Anti-Rassismus-Initiative Große Möhrengasse" und wird eher unfreiwillig zum Verbündeten Lucias. 
Mit viel Humor erzählt Vladimir Vertlib die Geschichte einer alten Dame, die entschlossen ist, ihre Würde zu bewahren. Sein Roman erzählt aber auch von der russischen Immigrantenszene, den Versuchen, ärmere Bewohner der Wiener Mietshäuser mit Hilfe von Punks, Wohnsitzlosen und Kleinkriminellen zu "entmieten" und ganze Stadtviertel schick, trendy und für die Alteingesessenen unbezahlbar zu machen. Mit grotseker Übertreibung, Humor und viel Menschlichkeit streift Vertlibs verbaler Kamera-Blick durch die verschiedenen  sozialen Schichten und Szenerien der Stadt. Und manche überraschende Volte erinnert den Leser - sicher nicht zufällig - an die faustischen Knalleffekte in Michail Bulgakows "Der Meister und Margarita". So zum Beispiel der Abgang des bösen Vermieters im Rahmen einer magischen Varieté-Session in Lucias Wohnhaus. Ein Riesenspaß. Unbedingt lesen!

Jürgen Lodemann 80: ein Intellektueller und Literat alter Schule


Gerade von den Fast-Toten auferstanden und daher besonders sensibel für runde Geburtstage lieber Freunde, Kollegen und Weggenossen. So sei also Jürgen Lodemann wenigstens digital umärmelt! Ich gratuliere ihm sehr herzlich zu seinem 80. Geburtstag und habe am Samstag beim faulen Spätfrühstück mit Genuß einen sehr freundlichen und hübschen Artikel über ihn in der Stuttgarter Zeitung gelesen. Ich finde, Herr Benjamin Schieler ist da eine angemessene Würdigung von Lodemanns Lebenswerk gelungen. Und käme die Charakterisierung nicht von seiner Lebensgefährtin Bille Haag, würde ich mich nie trauen, ihn einen "Katastrophenheini" zu nennen, aber ich finde das wunderhübsch - viel origineller und treffender als das abgelutschte Wort von der "Skandalnudel".
Jürgen Lodemann ist ein absolut liebenswürdiger Mensch, aber als Autor habe ich ihn immer am besten gefunden, wenn ihn Wut umtrieb. Das, und seine große Liebe zur Liebe, zum Leben, auch zu anderen Künsten wie der Musik, bewundere ich an ihm. Das verbindet uns, und ich hoffe das bleibt noch sehr lange so. Mein Wunsch: Möge es dir gut gehen, lieber Jürgen, möge die Gesundheit weiterhin mitspielen, mögen Dir die Ideen nicht ausgehen und die Lebensfreude anhalten, trotz aller Zumutungen der Jahre.


Samstag, 19. März 2016

Großer Abend mit Robert Levin und Roger Norrington in Stuttgart

 
 
82 und kein bisschen leise: Sir Roger Norrington und das RSO
Zwei Große, zwei Freunde: Robert Levin am Klavier und Sir Roger Norrington als Dirigent des Radio-Sionfonieorchesters Stuttgart des SWR gestern in der Liederhalle. Der Dirigent hatte vor zwei Tagen seinen 82. Geburtstag gefeiert, wirkte aber kein bisschen müde oder alt. Mit der leichten Präzisionshand des Altmeisters und dem gewohnten Schalk im Nacken dirigierte er die Ouvertüre zur Oper "Benvenuto Cllini" von Hector Berlioz, das Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur von Ludwig van Beethoven und nach der Pause die "große" Sinfonie C-Dur von Franz Schubert in vier Sätzen.
Der US-Amerikaner Levin, in Stuttgart bestens bekannt als der Komponist, der Mozarts C-Moll-Messe im Auftrag der Bachakademie so großartig wie kongenial vervollständigt hat, war ein ebenso herausragender Solist. Noch nie habe ich das bekannte Klavierkonzert des Bonners aus seiner Wiener Zeit so spielen gehört: leicht, zugleich aber kraftvoll und kreativ, in einem vor allem beim Finalsatz abenteuerlichen Tempo.
 
Beethoven virtuos: Robert Levin
Da rockte er das Orchester zu einem ganz neuen Beethoven, manche Geigerin tanzte instinktiv mit ihrem Instrument - es war einfach in Hochgenuss. Dabei meisterte Levin die enormen Schwierigkeiten mit unglaublich präziser Souveränität, technisch perfekt und doch so frei in der Interpretation wie nur irgend möglich, ohne die Werktreue je zu verletzen. Man konnte hören, warum Levin sämtliche Klavierkonzerte Beethovens eingespielt hat.
Auch das Orchester lief bei solchen Stars zu großen Form auf. Historisch kompetent und bewältigten die Musiker Norringtons filigrane Darbietung von Schuberts C-Dur-Sinfonie, in der sich Motive der Volksmusik mit kammermusikalischer Feinheit verschränken und vor allem im furiosen Finale zu großen instrumentalen Tutti steigern. Da noch das dramaturgische Ganze in allen motivischen Variationen und Nebenwegen spüren zu lassen und erkennbar zu machen, ist eine große Leistung von Dirigent und Orchester. Bravissimo. Das Publikum dankte mit stehenden Ovationen, die Liederhalle war bei einem normalen Abonnementkonzert endlich mal wieder voll. So soll es sein!