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Donnerstag, 23. Juli 2015

Fazil Say in Ludwigsburg: Ovationen für einen politischen Klavierpoeten

Fazil Say: Foto @ Marco Borggreve
Wenn man ihn spielen hört und sieht, wie Fazil Say am Flügel sitzt und strahlt und vor Freude jeden Takt mitzusingen scheint, ist klar: Das ist ein Musiker mit Herz und Seele, einer, die seine Musik liebt und lebt. Sein Konzert am 22. Juli bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen war dort nicht sein erster Auftritt, aber doch ein besonderer. Nicht weil die Luft an diesem schwülheißen Sommertag im Ordenssaal des Barockschlosses stand und der Schweiß bei Künstler und Publikum in Strömen floss, das gab´s auch schon früher. Doch der Abend machte zwei Dinge eindrucksvoll klar: Dieser Pianist ist ein begnadeter Virtuose, ein vielseitiger und brillianter Interpret, ein Mozartkenner und -Liebhaber von Graden, ein großartiger Komponist, aber auch ein Mensch mit großen Emotionen und ein politisch wacher und engagierter Zeitgenosse. Kein Wunder, dass sich zu seiner deutschen Fangemeinde eine beachtliche Gruppe türkischer oder türkisch-stämmiger Verehrer(innen) gesellte, die ihn als Künstler bewundern und einfach toll finden, was ihr Landsmann macht. Fazil Say ist ein überzeugender Botschafter des kulturellen Weltbürgertums und der demokratischen Türkei, die es trotz Recep Tajip Erdogan gibt.
Schon bevor das Konzert mit den Klaviersonaten Nr. 14 c-Moll und Nr. 12 F-Dur von Wolfgang Amadeus Mozart begann, verkündete ein Festival-Sprecher, der Künstler werde das Programm gleich eingangs um die Fantasie c-Moll von Mozart ergänzen. Er spielte so hingebungsvoll, leichthändig, sicher und beseelt, dass sofort ein Funke der Begeisterung übersprang. Die Zuhörer im ausverkauften Saal vergaßen den strömenden Schweiß und die Gerüche der Menge. Derentwegen wurde im Orient einst der Weihrauch erfunden, weil er hilft, jede feierliche Hochstimmung vor dem Abgleiten in Abscheu vor dem nur noch profan Menschlichen zu bewahren). Schon der Applaus zur Pause war mehr als nur freundlich.
Nach der Pause spielte Say seine Sonate für Klavier op. 52 "Gezi Park 2": ein beeindruckendes Stück aus seiner Trilogie über die bewegenden und schrecklichen Ereignisse um den Gezi-Park von Istanbul im Frühsommer 2013. Aus dem Geist der demokratischen Proteste gegen eine wildgewordene Baumafia in der Megacity am Bosporus und den repressiven Polizei-und Justizapparat des autokratischen, reaktionären und fundamentalislamischen Präsidenten Erdogan entstand ein musikalisches Hörspiel. Fazil Say begann mit rhythmischen dumpfen Saitenschlägen mit der Hand ohne Tastatur und steigerte das Ganze zu einem Hörbild der Protestslogans, der polizeilichen Übergriffe, der Verzweiflung über die Toten und Verletzten in diesem offenen Kampf zwischen orientalischer Despotie und rechtsstaatlicher Demokratie. Die Trauer um den 14-jährigen Jungen Berkin Elvan, der auf dem Weg zum Bäcker als Unbeteiligter durch eine Tränengas-Granate der Polizei tödlich getroffen wurde, mischte sich mit Trotz und Witz und einem Beharren auf etwas Melodie mitten in Chaos und Gewalt. Es gab ja auch fast täglich Konzerte im Park, als die Demonstranten ihn besetzt hatten. Das konnte selbst hartgesonnene Männer zu Tränen rühren: Neue Musik mit solcher Macht über die Gefühle ist selten. Das alles bewirkte nur ein einziger Mann mit einem Klavier. Laute Bravos und tosender Beifall.
Es folgten einige Preludes von Claude Debussy, in denen sich Fazil Say als technisch perfekter Clown und leichter musikalischer Plauderer zeigte. Noch einmal zu ganz großer Form lief er bei zwei Zugaben auf: großartige Improvisationen zur "Summertime-Fantasie" von George Gershwin und dem Stück "Wintermorgen in Istanbul" von Sait Faik zeigten einen außergewöhnlichen und temperamentvollen Jazzpianisten. Da groovte er den Saal, als täte er nichts anderes. Fazit: Eine Vielseitigkeitsprüfung der besonderen Art, ein sehr politisches und sehr poetisches Klavierfest war dieses Konzert. Applaus, Applaus, Applaus und Standig Ovations. Und dann war er weg, plötzlich verschwunden wie ein Geist. Dieser Abend wird noch lange nachwirken bei allen, die dabei waren.




Sonntag, 19. Juli 2015

"Bianca e Falliero": Erfolgreiche deutsche Rossini-Erstaufführung in Bad Wildbad

Großer Beifall für Victoria Yarovaya (Falliero), Cinzia Forte (Bianca) und Kenneth Tarver (Contareno)
Der Opern-Schwitzkasten Alte Trinkhalle Bad Wildbad hatte am 18. Juli ein Highlight des diesjährigen Rossini-Festivals im Schwarzwald: die deutsche Erstaufführung von "Bianca e Fallliero" (Bianca und Falliero, Uraufführung 1819 an der Mailänder Scala) des großen Gioacchino Rossini. Der hat in Wildbad mal eine Kur gemacht und wurde mit Feder, Tinte und Notenpapier gesehen. Deshalb ließ der württembergische König hier ein winziges Kurtheater zu seinen Ehren bauen und in der Sommerfrische seine Opern aufführen. Das Festival knüpft seit gut 25 Jahren an diese Tradition wieder an. Intendant Jochen Schönleber hat international renommierte Festspiele daraus gemacht - durch hohes Niveau, aber auch durch wissenschaftliche Gründlichkeit beim Ausgraben von Opern Rossinis und seiner Zeitgenossen, die in Vergessenheit geraten sind.
Diese Originaltreue und damit verbundene CD-Aufnahmen sind musikhistorisch einmalig, haben aber auch eine Schwäche: Streichungen, die vor allem bei unzeitgemäßen Überlängen, Wiederholungen und Girlanden sonst unvermeidlich und eine Wohltat fürs Publikum wären, entfallen da natürlich. Die Länge der Aufführung - über drei Stunden netto, mit Pause und Unterbrechungen durch Applaus fast vier Stunden, ist vor allem bei hohen Temperaturen in der größeren Spielstätte Alte Trinkhalle eine hohe Belastung für den Kreislauf aller Beteiligten. Vor allem ältere Opernfans leiden oder bleiben inzwischen auch ganz weg, weil sich die alte Holzbaracke gegenüber dem alten Kurtheaterchen entsetzlich aufheizt und keine Klimaanlage besitzt. Diese musikalisch hochwertige Langzeit-Sauna ist nicht bekömmlich und schmälert den Genuss am Musiktheater erheblich, ebenso wie die vollkommen unzureichenden sanitären Anlagen.
Dabei ist dieser musikalische Genuss wirklich enorm: Weltklasse ist der langjährige Dirigent Antonio Fogliani ebenso wie das Orchester Virtuosi Brunenses und der Camerata Bach Chor Posen. Zu den Spitzensolisten des Belcanto gehören auch immer wieder die Sänger der Hauptrollen: diesmal Kenneth Tarver als böser Vater Contareno, der seine Tochter Bianca, hervorragend gesungen und gespielt von Cinzia Forte, in eine Zweckehe mit dem honorigen, aber ungeliebten Senator Capellio zu zwingen sucht (sehr überzeugend: Baurzhan Anderzhanov). Ein trotz aller altmodischen Verstocktheit in patriarchalischen Konventionen vielschichtiger Charakter, der eine große Bandbreite an Gemeinheiten bei Erpressungsversuchen gegenüber der Tochter und einer intriganten, gewalttätigen Vernichtungsstrategie bei deren Liebhaber Falliero an den Tag legt. Erst der Schwiegersohn in Spe wendet das Blatt, weil er das alles nicht mehr erträgt. Respekt vor dem Gesetz und der Liebe haben alle, nur nicht Contareno. Die Partie ist nicht sympathisch, aber Tarver sang sie mit einem Tenor wie aus geschliffenem Stahl, makellos, in Höhen und Tiefen gleichgermaßen sicher und kraftvoll. Entsprechend groß war auch sein Anteil am Schlussbeifall.
Alle Solisten, auch die Senatoren Capellio und Loredano, sangen trotz atemberaubend stickiger Luft auf der Bühne unter den Scheinwerfern hervorragend, virtuos und sicher. Schöne Stimmen durch die Bank, die leider bei (gottlob seltenen) Arien durch die gezierten, nicht enden wollenden Koloaturen nach fast jedem einzelnen Takt leiden; aber das ist nicht die Schuld der Sänger, sondern des Komponisten. Besonders die Hosenrolle des Falliero war mit der Sopranistin Victoria Yarovaya auffallend gut besetzt.
Primo Antonio Petris inszeniert das scheußlich pathetische Libretto des Melodrams nachvollziehbar als höchst aktuelle Zwangsehen-Problematik. Die Liebe Biancas zu dem siegreichen General Falliero (warum sind diesen Librettisten, hier Felice Romani von der Mailänder Scala, immer so entsetzlich dumme Namen eingefallen?) schafft eine Spannung, die auch in Otello, Tancredi und anderen Opern von tragender Bedeutung ist: Leidenschaft gegen Staatsräson, Liebe gegen Vernunft und Gehorsem, das zog damals immer und ist wohl zeitlos. Rossini fand das Textbuch gut, aber das muss man heute nicht mehr durch die Bank so sehen. Viel Schwulst, viel nationales Pathos von der Republik Venedig, viele Ahs und Ohs, Ausrufezeichen in Endlosschleifen. Da täte eine moderne Bearbeitung not.
Von zeitloser, teils umwerfender Schönheit sind vor allem die zahreichen Ensemblenummern: Duette, Terzette, Quartette mit und ohne Chor. Und die kamen auch wunderbar über die Bühne, z.B. im Quartett "Importuno, in quel momento", wenn Falliero zum Beginn des kleinen Finales am Ende des ersten Aktes die geplante Hochzeitsfeier von Bianca mit Falliero unterbricht und alle Beteiligten einem Sturm der Gefühle freien Lauf lassen. Das war Rossini vom Allerfeinsten: einfach großartig, auch die Unterstützung der musikalischen Emotionen durch den Chor und das Bühnenbild mit einem Schwarzweißfilm, der ein Schiff in schwerer See zeigte.
Der begeisterte Schlussbeifall fand erst durch allgemeine Erschöpfung ein Ende. Bravos, Standig Ovations für alle, vor allem aber für den Dirigenten, das Liebespaar und den bösen Papa. Dass dazu ein Feuerwerk für eine echte Hochzeitsgesellschaft beim alten Kurhaus einsetzte, war nicht Teil der Regie, passte aber ganz hervorragend dazu. Da muss jemand rechtzeitig sein  Handy wieder eingeschaltet haben.


Donnerstag, 9. Juli 2015

Alte Musik für junge Leute: "Händel Goes Wild" in Ludwigsburg

Der Star des Abends: Nuria Rial (Foto: Merce Rial)
Um das Wichtigste gleich zu sagen: Für eine fachliche Kritik dieses Konzerts fühle ich mich nicht kompetent genug. Ich kann aber trotzdem nicht die Klappe halten, weil ich einfach großartig finde, was Christina Pluhar mit ihrem Ensemble "L´Arpeggiata" bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen am 8. Juli im Forum am Schlosspark gemacht hat. Die Grazerin ist jedes Jahr gut für mindestens eine überraschende Interpretation Alter Musik. Diesmal also war die Idee, den Bach-Zeitgenossen Georg Friedrich Händel aus der verstaubten Ecke des Etiketts "Alte Musik" zu holen, die eher etwas für alte Leute ist. Mit den Solisten Valer Sabadus (Countertenor), Nuria Rial (Sopran) und Gianluigi Trovesi (Klarinette und Saxophon) und einer veritablen Jazzband wurde das Ensemble aufgemotzt, aufgemischt und gerockt. Die Musiker an ihren historischen Instrumenten fingen an zu wippen und zu schnippen, dass es eine Freude war. Natürlich wurde Händel gespielt und gesungen; aber das waren eben die üblichen, meist getragenen Wolken melancholischen Wohlklangs in Ouvertüren, Arien und Duetten seiner Opern "Amadigi die Gaula", "Semele", "Il trionfo del Tempo de della Verità", "Alcina" und "Rinaldo", für die sich die Jungen sonst eher gar nicht interessieren. Doch waren sie zahlreich vertreten und reagierten teilweise so euphorisch wie bei einem reinen Jazzkonzert.
Das war´s aber nicht, sondern eben bloß eine Mischung und Aufbereitung des Barocken - aber toll gemacht vom Ensemble "L`Arpeggiata", den famosen Perkussionisten Sergey Saprychev und David Mayoral (die sich wunderbar die Klangbälle zuspielten), Boris Schmidt am zweiten, ganz jazzigen Kontrabass und dem Jazzpianisten Francesco Turrisi.
Für mich aber war der Star des Abends Nuria Rial. Die katalanische Sopranistin hat eine glockenklare, samtweiche Stimme von großem Volumen (Bandbreite war vom Komponisten hier weniger gefordert). Sie klebt nicht ständig im Vibrato wie die römische Diva Cecilia Bártoli, die bisher als Maßstab des barocken Belcanto gilt, sondern bevorzugt klare Melodiebögen und hält sie auch durch ohne zu gickeln. Was man von Valer Sabadus nicht immer sagen kann. Der Rumädiendeutsche hat eine herrliche Stimme, war aber an diesem Abend nur in den Duetten mit der Rial auf der Höhe seiner Möglichkeiten und tuckte oft ziemlich geziert herum. Mein Gott, wie herrlich, stark und frei hat er 2013 das "Stabat mater" von Pergolesi mit seinem französischen Kollegen Philippe Jaroussky gesungen! Das war diesmal aber nur Erinnerung. Nuria Rial und die Instrumentalisten haben´s rausgerissen. Das war, alles in allem, ein toller Konzertabend voller Überraschungen. So bekommt man auch mit Alter Musik die großen Säle nicht nur voll, sondern auch Skeptiker zu echter Begeisterung.



Sonntag, 5. Juli 2015

Spaltung der AfD kommt, rechtsradikales Potenzial wächst

So, jetzt ist Gründervater Bernd Lucke also als Vorsitzender der AfD zurückgetreten und Pegida-Versteherin Frauke Petry hat das Ruder übernommen. Lucke hat die Büchse der Pandora geöffnet, und jetzt frisst ihn das Geziefer, das da herauskriecht. Aber damit ist die rechtsradikale Bedrohung nicht vom Tisch. Sie wächst in Deutschland trotz der absehbaren Spaltung der AfD weiter und lauert wie in Griechenland auch in ganz Europa gleich hinterm Horizont.
Die Republikaner sind von der Bildfläche verschwunden und die NPD schwächelt im Halb-Untergrund; aber mit der AfD und der Pegida-Bewegung zusammen haben wir ein stark gestiegenes Rechts- bis Neonazi-Potenzial. Da muss nur mal jemand kommen, der mehr Charisma hat als dieser Lucke, und dann wird mir richtig übel. 
Problem Nr. 2 ist die Wahlverweigerung: Das ist Systemverweigerung und damit zwar nur indirekt verfassungsfeindlich, aber nicht weniger gefährlich. Im Prinzip verdächtige ich alle Nichtwähler des rechten Mitläufertums. So weit es Linke sind, spielen sie wirklich die Rolle der nützlichen Idioten. Die Ursachen liegen auf der Hand: Korruption und Überheblichkeit bei großen Teilen der Wirtschaft und der politischen Elite beim Umgang mit Recht, Gesetz und Bürgerwillen. Wenn wir diesen steten Zufluss an Gründen für die Unzufriedenheit mit Demokratie und Rechtsstaat nicht gestoppt kriegen, fliegt uns ganz Europa um die Ohren.

Samstag, 4. Juli 2015

Herbert Blomstedt entfesselt das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart

Draußen 36 Grad Celsius, drinnen im Saal zugunsten von Musikern und Instrumenten ein eher gemäßigtes Klima. Trotzdem bewegte sich der Gastdirigent Herbert Blomstedt aus den USA mit präziser Sparsamkeit. Der Mann ist fast 88 Jahre alt, aber man sieht dem jungenhaft wirkenden Sohn schwedischer Eltern nur die Freude am Musizieren an. Mehr als einmal zaubert die Reaktion des Orchesters auf seine Gesten ein feines Lächeln ins Gesicht: Geradezu entrückt und doch ganz und gar gegenwärtig. Blomstedt, so liest man im Programmheft, hat für die Gesamteinspielung von Anton Bruckners Sinfonien mit dem Leipziger Gewandhausorchester 2013 den International Classical Music Award erhalten. Die 9. leitete er an diesem Abend aus dem Kopf, und das Orchester wuchs dabei über sich hinaus.
Sebastian Manz, der junge Solo-Klarinettist des RSO, machte den furiosen Auftakt mit dem farbigen Klarinettenkonzert von Carl Nielson und einer Virtuosität, die das Publikum schon vor der Pause begeisterte. Mit unglaublicher Luft und präziser Technisk beherrscht Manz sein Instrument und kommt gegen ein ganzes Orchester in voller Besetzung scheinbar mühelos an. Verspielt und verschmitzt interpretiert er auch eine kleine, aber feine Zugabe von Strawinsky aus den "Drei Stücken für Klarinette solo", die an "Peter und der Wolf" erinnern.
Doch der Höhepunkt des Abends war Bruckner, dessen unvollendete letzte Sinfonie sich wirklich anhörte wie "für den lieben Gott geschrieben" (so die mündliche Überlieferung): voller Sehnsucht, volkslied-inspiriert, wuchtig und kontrastreich. Die orchestrale Kraft dieser Klangorgie entfaltet sich in Wiederholungen und schnellen Streicher-Rhythmen oder starken Bläsereinsätzen beim Tutti. Und sie läuft aus wie die Lebenskraft des Komponisten in einem sanften Adagio, das den Atem anhält. Nach diesem Abschied herrschte über zehn Sekunden lang absolute Stille im Saal, bevor tosender Beifall losbrach. Bravissimo!