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Samstag, 20. Juni 2015

Der Stuttgarter Wasserwerferprozess: ein Offenbarungseid der Justiz

Jürgen Bartle & Dieter Reicherter: Der Schwarze Donnerstag: Unerhört. Ungeklärt. Ungesühnt. Der Stuttgarter Wasserwerfer-Prozess. Bartle und Reicherter Redaktionsbüro GbR (Bestellung per Mail: bartle_und_reicherter@t-online) und KONTEXT:Wochenzeitung, 239 Seiten, 19,80 €

Penibel genau, beharrlich und sachkundig haben Jürgen Bartle, ehemals Chefreporter der Stuttgarter Nachrichten, und der pensionierte leitende Richter Dieter Reicherter einen Prozess beobachtet, der in mehrfacher Hinsicht ein Skandal war: Erstens, weil er mit vier Jahren Verspätung kam - nach langen Verhinderungsversuchen aus Politik, Polizei und Justiz und zwei Untersuchungsausschüssen im Stuttgarter Landtag. Prozesse gegen Demonstranten, denen man im gleichen Zusammenhang Straftaten vorwarf, folgten dagegen auf dem Fuß: Schnell und hart, ganz nach den Vorstellungen der Staatsanwaltschaft.
Zweitens war der Prozess ein Skandal, weil die vorsitzende Richterin das Prozessrecht ungestraft beugte und nicht nur die Berichterstattung massiv behinderte, sondern auch das Publikum u.a. durch Leibesvisitation extrem schikanös mit Terroristen oder Banditen gleichsetzte, sowie den Prozess letztlich vor der Vernehmung entscheidender Zeugen der Nebenkläger durch einen höchst fragwürdigen Vergleich vorzeitig beendete. Im Grunde erfüllen das voreingenommene Handeln der Staatsanwaltschaft, die gegen sich selbst ermittelte und Polizisten gegen Kollegen der gleichen Einheiten ermitteln ließ, sowie das Vorgehen der Richter den Tatbestand der gemeinschaftlichen Rechtsbeugung.
Drittens war der Prozess ein Skandal, weil er bewies, dass in Stuttgart Polizei und Justiz nicht unabhängig sind, sondern aus politischen Motiven mit zweierlei Maß messen. Hunderten von Vorwürfen gegen Polizei und Einsatzleitung wurde überhaupt nicht nachgegangen, weil Staatsanwaltschaft und Gericht mangels Kennzeichnungspflicht maskierte Polizisten nicht ermitteln konnten, die nachweislich rechtswidrig mit unangemessener Gewalt gegen Demonstranten vogegangen waren. Viele Forderungen der Nebenkläger wurden entweder nicht zugelassen oder verschoben, so dass sie beim plötzlichen Ende des Prozesses einfach unter den Tisch fielen.
Viertens besteht der Skandal darin, dass deswegen viele Opfer der amoklaufenden Staatsgewalt nun weder Entschädigung noch Schmerzensgeld erhalten werden, während die Täter z.T. massenhaft durch mehr als eigenwillige Definitionen geschützt wurden ("Verletungen durch Wasserwerfer sind nur am Kopf relevant" oder "Die Opfer traf eine Mitschuld, weil sie nicht weggegangen sind" - obwohlt sie ein Grundrecht ausübten, die Versammlung zu keinem Zeitpunkt aufgelöst wurde, manche sogar vergeblich versuchten, sich zu entfernen, und von der Polizei daran gehindert wurden).
Fünftens aber wurde durch den faulen Vergleich das Prozessrecht dergestalt missbraucht, dass künftige Prozesse unter einem eklatanten Mangel an Beweismaterial leiden werden: "Es gibt keinerlei gerichtliche Festellung zur Schuld der Angeklagten und zu den Beweismitteln"! Nach den gesetzlichen Vorschriften, so der erfahrene Jurist Reicherter, "enthalten die Hauptverhandlungsprotokolle des Landgerichts (ander als beim Amtsgericht) keinerlei Angaben über den Inhalt der Zeugenaussagen".
Ähnlich wie beim Großprojekt Stuttgart 21, an dem sich der ganze Streit ja entzündet hat, wurde also alles dafür getan, mit juristischen Tricks die fragwürdige Entscheidung für alle Zukunft unumkehrbar zu machen und die dafür Verantwortlichen jeder strafrechtlichen oder zivilrechtlichen Verfolgung zu entziehen. Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler, bis zu seiner vorzeitigen Pensionierung Leiter der politischen Abteilung der Stuttgarter Staatsanwaltschaft (natürlich ging er "aus gesundheitlichen Gründen" - mit diesem Gnadeninstrument nimmt die Politik bis heute treue Beamte aus der Schusslinie, die jede Sauerei mitgemacht haben) hat sich dabei besonders hervorgetan. Ob er am Ende, wie der gleichfalls frühpensionierte Stuttgarter Polizeipräsident Stumpf, schließlich noch selbst zur Verantwortung gezogen wird, ist daher völlig offen.
Die Autoren beschreiben nicht nur den Ablauf der Ereignisse selbst, sondern eben im Spiegel des Prozesses. Sie haben für die KONTEXT Wochenzeitung regelmäßig und ausführlich darüber berichtet und dann ein Buch daraus gemacht, das alle wesentlichen Daten, Fakten und Vernehmungsergebnisse zusammenfasst. Das Gericht hat durch das Verbot von Aufzeichnungsgeräten (anfangs durften Prozessbeobachter sogar weder Notizblock noch Stift mitbringen) zwar alles dafür getan, so etwas zu verhindern. Aber die Erfahrung des Journalisten und des alten Richters wog alle Schikanen auf.
Bartle und Reicherter geben dem Leser weit mehr als eine Gedächtnisstütze: Sie geben im Argumente, ja Beweise für eine aufrecht politische Haltung in einem Konflikt, der bis heute die Stadt spaltet. Und sie warten mit Kenntnissen auf, ohne die eine Bewertung des Prozesses (siehe Fünftens!) gar nicht möglich wäre. Hier ist ein Stück Zeitgeschichte geschrieben worden. Und die Autoren haben bewiesen, dass dieser Prozess der Offenbarungseid einer politisch willfährigen Justiz in Stuttgart war.

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