Seiten

Dienstag, 23. Juni 2015

Das Trauerjahr beginnt: Die letzte Spielzeit des Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR

Stéphane Denève (l), Manager Felix Fischer, ein Musiker
Heute haben Chefdirigent Stéphane Denève, Orchestermanager Felix Fischer und einer der Musiker Bilanz gezogen und die letzte Spielzeit des RSO vorgestellt. In einem Jahr ist dann Schluss und es wird Zeit sein, das neue, fusionierte SWR Symphonieorchester Stuttgart vorzustellen, für das es noch gar keinen Chef gibt. Denn Denève geht definitiv nächstes Jahr nach Belgien und in die weite Welt. Er ist immer gegen die Fusion der Klangkörper aus Freiburg und Stuttgart gewesen und tritt nicht mehr an.
Trotzdem trennt man sich nicht im Zorn. Eher in Trauer. Und das Programm der letzten gemeinsamen Spielzeit reflektiert etwas von dieser Trauer. Wie ein roter Faden zieht sich die Thematik von Abschied, Tod und Aufererstehung durch das Programm: Bruckner, Schönberg, Alban Berg, Gustav Mahler und vor allem Detlef Glanert setzen Akzente: Am 20./11. Dezember wird eine Auftragskomoposition mit dem durchaus ironischen Titel "Megaris - Seestück mit Klage der toten Sirene für Orchester und wortlosen Chor" im 4. Abonnementkonzert in der Stuttgarter Liederhalle gespielt. Da sind Solisten des SWR Vokalensembles dabei, mit denen der Chefdirigent immer ein enges Verhältnis hatte.
Es gibt Berufenere, die Amtszeit vo Sir Roger Nortingtons Nachfolger angemessen zu würdigen. Er hat musikalisch viel für die deutsch-französische Freundschaft und die Erweiterung des Repertoires getan, die Neue Musik, die Arbeit mit Jugendlichen und neue Konzertformen wie Sinfoniekonzerte in der Mittagspause oder Klassik After-Work gefördert. Aber für wen dieses erweiterte Repertoireerarbeitet wurde, ist noch unklar. Ein neuer Chef und ein neues Orchester werden wohl wieder einiges ändern.
Es blieb jedoch feststellbar: Außer dieser Aura von Melancholie, die auch in der offiziellen Pressekonferenz des SWR nicht zu überspielen war (was auch keiner der Beteiligten wollte), gibt es auch einiges zu genießen - und zwar für Musiker wie Publikum gleichermaßen. Das Programm, ohne jetzt durch Aufzählungen langweilen zu wollen, ist opulent und hervorragend. Und die Musiker selbst freuen sich noch auf letzte Reisen nach Wien, London und eine große Asien-Tournee.
Die letzte Spielzeit wird also eine Art ausgelassene Trauerzeit werden. Und wir einfachen Musikfreunde dürfen in vielem daran teilhaben. Doch das letzte, das wirklich allerletzte Konzert dieses Klangkörpers aus Stuttgart wird es am 28. Juli 2016 bei den BBC Proms in der Londoner Albert Hall geben. Da dirigiert Sir Roger Norrington, falls er gesund bleibt, weil er dort ja zu Hause ist und die alte Liebe ungebrochen. Stéphane Denève ist dann schon nicht mehr dabei.



Samstag, 20. Juni 2015

Der Stuttgarter Wasserwerferprozess: ein Offenbarungseid der Justiz

Jürgen Bartle & Dieter Reicherter: Der Schwarze Donnerstag: Unerhört. Ungeklärt. Ungesühnt. Der Stuttgarter Wasserwerfer-Prozess. Bartle und Reicherter Redaktionsbüro GbR (Bestellung per Mail: bartle_und_reicherter@t-online) und KONTEXT:Wochenzeitung, 239 Seiten, 19,80 €

Penibel genau, beharrlich und sachkundig haben Jürgen Bartle, ehemals Chefreporter der Stuttgarter Nachrichten, und der pensionierte leitende Richter Dieter Reicherter einen Prozess beobachtet, der in mehrfacher Hinsicht ein Skandal war: Erstens, weil er mit vier Jahren Verspätung kam - nach langen Verhinderungsversuchen aus Politik, Polizei und Justiz und zwei Untersuchungsausschüssen im Stuttgarter Landtag. Prozesse gegen Demonstranten, denen man im gleichen Zusammenhang Straftaten vorwarf, folgten dagegen auf dem Fuß: Schnell und hart, ganz nach den Vorstellungen der Staatsanwaltschaft.
Zweitens war der Prozess ein Skandal, weil die vorsitzende Richterin das Prozessrecht ungestraft beugte und nicht nur die Berichterstattung massiv behinderte, sondern auch das Publikum u.a. durch Leibesvisitation extrem schikanös mit Terroristen oder Banditen gleichsetzte, sowie den Prozess letztlich vor der Vernehmung entscheidender Zeugen der Nebenkläger durch einen höchst fragwürdigen Vergleich vorzeitig beendete. Im Grunde erfüllen das voreingenommene Handeln der Staatsanwaltschaft, die gegen sich selbst ermittelte und Polizisten gegen Kollegen der gleichen Einheiten ermitteln ließ, sowie das Vorgehen der Richter den Tatbestand der gemeinschaftlichen Rechtsbeugung.
Drittens war der Prozess ein Skandal, weil er bewies, dass in Stuttgart Polizei und Justiz nicht unabhängig sind, sondern aus politischen Motiven mit zweierlei Maß messen. Hunderten von Vorwürfen gegen Polizei und Einsatzleitung wurde überhaupt nicht nachgegangen, weil Staatsanwaltschaft und Gericht mangels Kennzeichnungspflicht maskierte Polizisten nicht ermitteln konnten, die nachweislich rechtswidrig mit unangemessener Gewalt gegen Demonstranten vogegangen waren. Viele Forderungen der Nebenkläger wurden entweder nicht zugelassen oder verschoben, so dass sie beim plötzlichen Ende des Prozesses einfach unter den Tisch fielen.
Viertens besteht der Skandal darin, dass deswegen viele Opfer der amoklaufenden Staatsgewalt nun weder Entschädigung noch Schmerzensgeld erhalten werden, während die Täter z.T. massenhaft durch mehr als eigenwillige Definitionen geschützt wurden ("Verletungen durch Wasserwerfer sind nur am Kopf relevant" oder "Die Opfer traf eine Mitschuld, weil sie nicht weggegangen sind" - obwohlt sie ein Grundrecht ausübten, die Versammlung zu keinem Zeitpunkt aufgelöst wurde, manche sogar vergeblich versuchten, sich zu entfernen, und von der Polizei daran gehindert wurden).
Fünftens aber wurde durch den faulen Vergleich das Prozessrecht dergestalt missbraucht, dass künftige Prozesse unter einem eklatanten Mangel an Beweismaterial leiden werden: "Es gibt keinerlei gerichtliche Festellung zur Schuld der Angeklagten und zu den Beweismitteln"! Nach den gesetzlichen Vorschriften, so der erfahrene Jurist Reicherter, "enthalten die Hauptverhandlungsprotokolle des Landgerichts (ander als beim Amtsgericht) keinerlei Angaben über den Inhalt der Zeugenaussagen".
Ähnlich wie beim Großprojekt Stuttgart 21, an dem sich der ganze Streit ja entzündet hat, wurde also alles dafür getan, mit juristischen Tricks die fragwürdige Entscheidung für alle Zukunft unumkehrbar zu machen und die dafür Verantwortlichen jeder strafrechtlichen oder zivilrechtlichen Verfolgung zu entziehen. Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler, bis zu seiner vorzeitigen Pensionierung Leiter der politischen Abteilung der Stuttgarter Staatsanwaltschaft (natürlich ging er "aus gesundheitlichen Gründen" - mit diesem Gnadeninstrument nimmt die Politik bis heute treue Beamte aus der Schusslinie, die jede Sauerei mitgemacht haben) hat sich dabei besonders hervorgetan. Ob er am Ende, wie der gleichfalls frühpensionierte Stuttgarter Polizeipräsident Stumpf, schließlich noch selbst zur Verantwortung gezogen wird, ist daher völlig offen.
Die Autoren beschreiben nicht nur den Ablauf der Ereignisse selbst, sondern eben im Spiegel des Prozesses. Sie haben für die KONTEXT Wochenzeitung regelmäßig und ausführlich darüber berichtet und dann ein Buch daraus gemacht, das alle wesentlichen Daten, Fakten und Vernehmungsergebnisse zusammenfasst. Das Gericht hat durch das Verbot von Aufzeichnungsgeräten (anfangs durften Prozessbeobachter sogar weder Notizblock noch Stift mitbringen) zwar alles dafür getan, so etwas zu verhindern. Aber die Erfahrung des Journalisten und des alten Richters wog alle Schikanen auf.
Bartle und Reicherter geben dem Leser weit mehr als eine Gedächtnisstütze: Sie geben im Argumente, ja Beweise für eine aufrecht politische Haltung in einem Konflikt, der bis heute die Stadt spaltet. Und sie warten mit Kenntnissen auf, ohne die eine Bewertung des Prozesses (siehe Fünftens!) gar nicht möglich wäre. Hier ist ein Stück Zeitgeschichte geschrieben worden. Und die Autoren haben bewiesen, dass dieser Prozess der Offenbarungseid einer politisch willfährigen Justiz in Stuttgart war.

Sonntag, 14. Juni 2015

Zwei Ausnahmetänzer in Ludigsburg: Akram Khan und Israel Galván

Akiram Khan und Israel Galván (Foto: Jean-Louis Fernandez)

"TOROBAKA heißt auf Spanisch so viel wie "Stierkuh"; damit spielt das gleichnamige Programm der beiden Ausnahmetänzer Akram Khan und Israel Galván, das gestern bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen zu sehen - und zu hören war. Was auf den ersten Blick ins Programm anmutet wie eine alberne, banale Wortspielerei mit Tiermythen aus Spanien und Indien, entpuppt sich als ein neuer Weg der Tanzkunst. Und ich bin so verwegen, zu vermuten: Die hat mit Spanien und Indien eigentlich gar nicht mehr viel zu tun. Da brechen zwei herausragende Tänzer und Choreographen aus ihrem jeweiligen Kulturkreis erst auf und dann aus. Das Ergebnis ist etwas Neues und hat weder mit dem spanischen Stierkampf noch mit den Heiligen Kühen Indiens viel am Hut, obwohl der Titel TOROBAKA das unterstellt.
Freilich bleiben die Wurzeln erkennbar, das macht diesen Abend und den Prozess, der darin deutlich wird, so faszinierend: Das großartige Foto von Jean-Louis Fernández (oben) bedient diese Erwartung auch, aber es fängt gerade mal eine Sekunde aus 70 Minuten Programm ein. Der Spanier (links) macht dort den Stier und der Brite bengalischer Herkunft den Torero - sie spielen also gern mit ironisch verkehrten Rollen, auch wenn Khan, der grundsätzlich barfuß tanzt, in einer Sequenz Flamenco-Schuhe über die Hände gestreift hat. Mal knallt Galván mit den Flemencoschuhen und macht die klassischen, traditionellen Tanztschritte dazu, mal löst er sie auf in einem Wirbel von etwas anderem. Das ist der nordindische Kathak, einer von sechs klassischen Tänzen Indiens, der stets barfuß getanzt wird und ebenso seinen Mythen erzählenden Ursprung in Hindu-Tempeln hat wie das javanische Schattenspiel. Aber verstehen wird ihn hierzulande niemand. Uns erzählt er nichts.
Umso freier kann sich ein europäisches Augen auf die Bewegungen der beiden Tänzer konzentrieren. Dieser Tanz ist kein Balztanz zwischen Kuh und Stier, kein Konkurrenzkampf der Mythen, kein Stück Martial Art, sondern ein intensives, fließendes Miteinander, das die Klischees und Aggressionen eines "Clash of Zivilsations" ironisierend aufgreift und meditativ auslöst. Als "zwei Mönche im Kloster des Tanzes" hat Israel Galván dieses Duett bezeichnet und gleich bekannt, von Akram Khan unendlich viel gelernt zu haben. Aber die Beziehung der beiden Künstler erscheint als kongenial und gleichberechtigt.
Nicht vergessen darf man bei TOROBAKA die Rolle der Musik und der Musiker. Der Countertenor David Azurza, die Altistin Christine Leboutte, der Percussionist und Sänger B.C. Manjunath und das Flamenco-Faktotum Bobote sind integrale Bestandteile der Inszenierung. Sie machen eine karge, eindringliche, fast sakral wirkende Musik aus Trommeln, Händeklatschen ("palmas", die man vom Flamenco kennt), einer indischen Leier und Gesängen, die an bulgarische Frauenchöre erinnern. Virtuose Trommelwirbel und harte Schläge geben den wechselnden Takt vor, die sich häufig kreuzenden Stimmen von Mann und Frau sind von einer unglaublichen Präsenz, ernst, melodiös und unverständlich: Albanisch, Bulgarisch, Spanisch, irgendein indischer Dialekt, ein Gemisch aus all dem? Egal.
Diese Musik ist eine Sprache in musikalischen Universalien, so wie Khan und Galván sich in einer Universalsprache der Bewegung ausdrücken. Das Ganze ist ein Fest für die Sinne, pure Freude an der Bewegung, gefühlsintensives Miteinander. Wunderbar. Nur schade, dass im Forum am Schlosspark höchstens zwei Drittel der Plätze besetzt waren. Das Publikum quittierte die Darbietung mit vielen Bravos, lange anhaltendem Applaus und Standing Ovations. Den anderen kann man nur sagen: Leute, da habt ihr was verpasst!


Freitag, 5. Juni 2015

TRIMUM wird erwachsen: Das erste richtig große Konzert ist ein Erfolg

Der Hegelsaal der Liederhalle: Proppevoll am 4. Juni 2015
Da hat sich die Bachakademie etwas entgehen lassen: Kaum ist das dreijährige (daher lat. "Trimum") Projekt für interreligiöse geistliche Musik mit Juden, Christen und Muslimen vorbei, da gibt es beim Kirchentag in Stuttgart am 4. Juni 2015 einen Riesen-Erfolg. Bernhard König hatte seine Musiker auf das Thema "David" eingeschworen, wohl weil der biblische Musiker gut für ein Historiendrama und sehr vielseitige musikalische Anregungen ist. Allen drei monotheistischen Religionen hat er als Gegenstand intensiver Betrachtungen und als musikalische Inspirationsquelle gedient. Was dann zu hören war, ergab in fast zweieinhalb Stunden ohne Pause (ETWAS lang) folgerichtig auch kein reines Konzertprogramm. Der Abend begann mit einem Erzähler und bot dann in lockerer Folge alle Formen religiöser Musik entlang eines biographischen roten Fadens zu König David.
In bester Musical-Manier, teils an Carl Orff und Kurt Weill geschult, teils mit klassischen Melodien bewegten sich Instrumentalisten, der TRIMUM-Chor, der Oratorienchor Esslingen sowie etliche hoch virtuose Solisten in einem Trialog, dessen bestimmendes Merkmal Vielstimmigkeit ist. Ich wähle das Präsens, weil der TRIMUM-Chor, die treibende Kraft, im Stuttgarter Lehrhaus eine Institution geworden ist, nachdem er drei Jahre lang von der Bachakademie gefördert wurde. Projektleiter Bernhard König konnte dazu von Anfang an auf phantastische Netzwerker aus Musikern muslimischer, christlicher und jüdischer Vereine und Hochschulen zurückgreifen, vor allem der pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.

Zum Schussapplaus gab es großen Jubel
Und was da zusammengewachsen ist, war eindrucksvoll zu hören und zu sehen: Keine Uniformität auf der Bühne, sondern bunte Vielfalt und internationales Zusammenspiel. Wer weiß, wie heilig die Koranrezitation den Muslimen ist, wird den Auftritt eines Vorbeters mit besonders schöner Stimme zu würdigen wissen: Gänsehaut pur, und nicht nur aus Furcht vor möglichen Reaktionen intoleranter Fanatiker. Zwar war "nur" die "Bismillah", die Anrufung des Barmherzigen, zu hören, die dem Koran und auch jedem Gebet voransteht, aber schon das war für viele sicher ein Erlebnis. 1000 Menschen füllten den Saal und spendeten  begeisterten Beifall, der nur nach dieser Darbietrung von großer Intimität unangebracht war. Von christlichen Chorälen (Bach, Mendelssohn) über arabische und türkiische Pilgerlieder oder Sufi-Melodien bis hin zu Synagogalgesängen und jiddischer Folklore reichte das stilistische Spektrum bekannter Melodien. Dazu kamen dramatische Eigenkompositionen von Bernhard König und Assaf Levitin sowie "Klangwolken" mit Elementen aller drei Stränge der Sakralmusik, die sich in großartigen Improvisationen trafen und wieder auflösten.
Es war sicher ein Glücksfall, dass dieses Konzert im Programm des evangelischen Kirchentags einen prominenten Platz fand. Aber die Leute hätten ja auch wegbleiben können. Stattdessen strömten sie in Scharen und reagierten durchweg überschwänglich. Da ist ein Konzept aufgegangen: Solche Musik berührt die Herzen, ganz gleich welcher Religion sie anhängen. Sie ist Gebet. Und das haben die Besucher gespürt - und noch etwas. Es war eine Weltpremiere: Noch nie gab es so ein religionsübergreifendes Projekt von solchen Ausmaßen und auf derart hohem professionellem Niveau - theologisch, philosophisch, musikalisch und poetisch.
Nach drei Jahren der Workshops, unermüdlicher Proben und unsicherer Zukunft kann man sagen: Das Projekt TRIMUM ist erwachsen geworden. Es hat nach etlichen kleineren Konzerten die erste große Feuerprobe bestanden und Ansätze eines ganz eigenständigen Repertoires entwickelt. Das wird vielleicht niemals fertig sein und immer in Bewegung bleiben, Aber das ist gut so. Dieser Zustand entspricht der Kunst, der Religion, den Menschen, die sich hier begegnen, und dem Leben überhaupt.



Abgeklärte Alterslyrik

SWR2 Buchkritik
Michael Krüger: „Ins Reine“. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin. 110 Seiten, 16 €

Wenn ich mich nicht verzählt habe, ist „Ins Reine“ der 16. Gedichtband von Michael Krüger. Der gelernte Verlagsbuchhändler aus Berlin arbeitete seit 1968 als Verleger bei Hanser in München und hatte am 9. Dezember 2010 seinen 67. Geburtstag. Da darf man ein Alterswerk vorlegen. Das fällt allerdings ziemlich frisch und frech aus, wie in „Tagesschau“:

Deutschland hat sein Geld verloren,
und wir sollen es, sagt der Sprecher,
wieder herbeischaffen, wenn auch
in drei Generationen. Außerdem
geht die Sonne unter um 19 Uhr 7.
Mord und Totschlag auf allen
fünf Erdteilen, die älteste Japanerin
hat sich vom Acker gemacht
und die ganze Welt mitgenommen.
Um 19 Uhr 10 ist es stockdunkel.
Der Autor beobachtet scharf, aktuell und genau. Und dann zieht er seine Schlüsse. Wie hier moralische, jahreszeitliche und ökonomische Finsternis in einem einzigen Bild beschrieben sind, das ist seit Jahrzehnten für Krüger-Gedichte typisch. Krüger war immer Zeuge, Weltbeobachter, auch in Naturgedichten. Da schwimmt die Zeit achtlos, da gibt es schludrige Wolken, und vor Gewittern ist das Wasser erregt und streitsüchtig. Die entlaubten Weinberge bei Tübingen sind eine „Takelage der Reben“, heißt es in einem Text für Georg Braungart. Michael Krüger lässt nicht einfach die Natur dichten, er kennt ihre Sprache und kann die dann übersetzen ins Menschenmaß. Da arbeitet etwas weiter beim Lesen oder Hören.

Lebensmüd arbeitet vor mir
das Holz vom vergangenen Jahr.
Wie totgeschlagen die Zeit,
wie geschwollen die Sprache.
Es mag Ihnen seltsam vorkommen,
aber auch Krähen haben ein Herz.
Das ist, in wenigen Worten,
die wahre Geschichte meines Lebens.
Da präsentiert sich eine schlichte, aber kraftvolle, weil genaue Sprache in natürlichen Rhythmen freier Verse, aber ohne Fisimatenten wie radikale Kleinschreibung oder den ach so modernen Verzicht auf Satzzeichen. Krüger hat es nicht nötig, durch die Verletzung von Spielregeln Aufmerksamkeit zu erschleichen. Er beherrscht sein Handwerk und macht kein Gewese darum.
Mit seinen Gedanken, seinen Wahrnehmungen und seiner Metaphernwelt ist es ähnlich. In diesen Gedichten begegnet dem Leser eine kleine Welt, eine äußerlich überschaubare und innerlich sehr weite Welt. Diese Welt scheint darauf zu bestehen, in ihrer Besonderheit wahrgenommen zu werden. Der Dichter bringt sie zur Sprache, wie sie ist. Vielleicht ist dies das Magische an der Poesie, eine Art drittes Auge, mit dem man hinter die Dinge blicken kann. So im Titelgedicht „Ins Reine“.

Ich sehe das, was ich nicht mehr bin,
aber ich sehe nicht mich.
Ein Apfel rollt vom Tisch
und bricht, wie Wörter brechen,
wenn man sie lang nicht benutzt.
Überlaß es den Vögeln, das Gekrakel
ins Reine zu schreiben, auf sie ist
Verlaß.
Ganz gelegentlich kommen ein paar dieser Verse ein bisschen breitbeinig oder dicke daher. Das haben auch Sprüche von Altpolitikern wie Helmut Schmidt oder Heiner Geißler so an sich. Es ist ziemlich oft vom Tod die Rede, und der ist eben ab einem bestimmten Alter ziemlich nah, zumindest im Bewusstsein. Krähen, Friedhöfe, der Westfälische Friede, der Spätsommer gehören zu diesem Vokabular bzw. Bildrepertoire. Da wird die eigene Poetik noch einmal bescheiden zusammengefasst als „Antworten der Dinge“. Gelegentlich hört man „aus den Klöstern der Nacht unklare Stimmen“, da geht es um Stilleben, unser finsteres Zeitalter, eine kleine Kirche oder Gnade.

Das Wort Gnade ging
von Satz zu Satz und bat
vergeblich um Einlaß.
Gröbere und härtere Wörter
hatten die Stühle besetzt
und führten ein Stück auf,
das Wirklichkeit hieß,
eine Tragödie, ohne Pause
und mit großem Erfolg.
Ein Stück über einsame Wörter.

Das ist ein Alterswerk ohne jede Larmoyanz: ein bisschen pessimistisch, ein bisschen schalkhaft, auf unaufdringliche Art weise und durchweht von melancholischen, doch keineswegs depressiven Todes- und Abschiedsgedanken. So abgeklärt möchte man abtreten dürfen. Aber vielleicht schreibt er ja weiter.