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Samstag, 28. Februar 2015

Frischer Wind aus Finnland bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen

Pietari Inkinen

Chefdirigent Pietari Inkinen stellt sich als als vielseitiger Neuerer vor.

Als Intendant Thomas Wördehoff am 27. Februar den neuen Chefdirigenten des Festivals und dessen Programm vorstellte, wehte ein frischen Wind aus Finnland in die schwäbische Barockresidenz hinüber. Pietari Inkinen rückt in seinem ersten Programm als Dirigent Musik aus seiner nordischen Heimat und aus Deutschland in den Mittelpunkt: Im Eröffnungskonzert am 15. Mai wird er zusammen mit Gustavo Surgik, dem Konzertmeister des Festspielorchesters, auch als Geiger auftreten und Johann Sebastian Bachs Doppelkonzert für zwei Violinen spielen. Damit zeigt er eine hierzulande bisher unbekannte Seite. Außerdem wird an diesem Tag Jean Sibelius gespielt. Das passt zum Generalthema "Identität" in diesem Festspieljahr.
Im zweiten Konzert am 11. Juli stehen das "Sacre du printemps" von Strawinsky (das "Frühlingsopfer" ist die Vertonung eines blutigen nordischen Fruchtbarkeitsrituals) und erneut Bach auf dem Programm, zusammen mit der 8. Sinfonie des Finnen Einojuhani Rautavaara. Ein eruptives Konzert in der megalomanischen Orchesterbearbeitung von Leopold Stokowski im Stil der Zeit von 1940 bis 1960. Bei der nordischen Connection bleibt auch das dritte Ludwigsburger Sinfoniekonzert, das der freundliche neue Chef leiten wird:

Am 25. Juli steht Ludwigsburg mit dem Gestspiel des weltberühmten Stars Pinchas Zukerman ein besonderes Ereignis bevor. Der Violinvirtuose gehörte vor 20 Jahren zu den Lehrern des Geigers Pietari Inkinen. Wie der leutselig erzählt, erwies sich der große Musiker auch als Vorreiter des Online-Studiums. Weil er ständig in der Welt unterwegs war und Finnland bei der Einrichtung des Internets früh eine gute Netzqualität bot, gab der Maestro einem kleinen Kreis seiner Meisterschüler, zu denen auch Inkinen gehörte, alle zwei Monate eine Übungsstunde live im Netz. Inkinen: "Das war noch längst nicht so komfortabel wie heute bei Skype, aber immerhin". Daraus entstand eine lebenslange Freundschaft, die immer wieder auch zu gemeinsamen Projekten und Auftritten führte. Diesmal wird Zukermann als Solist mit dem von Inkinen dirigierten Festepielorchester Beethovens Violinkonzert D-Dur spielen. Dazu kommt an diesem 25. Juli die Sinfonie Nr. 5 von Dmitri Schostakowitsch. Also immer schön nordisch, aber (auch "dank" Wladimir Putins Geisterpräsenz) jedes Mal anders.
Als Gastdirigenten, die "gut für die Elastizität des Festepielorchesters" seien, kündigte Inkinen André de Ridder an, der Werke des jungen Mozarts dirigieren soll, und Duncan Ward mit einem großen italienischen Abend der Arien und Ouvertüren von Verdi, Puccini und Donizetti. Hier darf es also südlich werden. Wirklich schade, dass die werktätige Bevölkerung zu großen Teilen nicht alles wird genießen können. Zumal es auch Jazz, Kammermusik, Tanz und Crossover-Projekte vom Feinsten gibt. Aber die Auswahl, so viel zeigt sich schon jetzt, ist wunderbar. Die Qual der Wahl wird entsprechend fürchterlich sein.

Sonntag, 15. Februar 2015

Nachruf auf den Dichter Wolfgang Rappsilber

Wir erfuhren es mit Verspätung und per Todesanzeige von Ursula Jetter, der jetzigen Herausgeberin der Lizteraturzeitschrift EXEMPLA:

Wolfgang Rappsilber, Lyriker und langjähriger Herausgeber der Literaturzeitschrift EXEMPLA (gegründet 1974 in Tübingen), ist am 25. Januar 2015 im Alter von 84 Jahren in einer Reha-Klinik am Chiemsee gestorben. Er hatte schon seit eingen Jahren in München gelebt und den meisten seiner alten Freunde und Bekannten auch keine Adresse hinterlassen, deshalb verlor ich den Kontakt zu ihm. Dabei war der Grund seines Umzugs eine neue Liebe, und das spricht eigentlch gegen Depressionen. Nur starb diese Lebensgefährtin vor einem Jahr, und dieser Schlag zog ihn nur umso tiefer wieder ins schwarze Loch dieser Krankheit. Hinzu kamen ein Aneurysma und Probleme mit Herz, Lunge und Darm.
Wolfgang Rappsilber starb an den Folgen eines Sturzes am 19. Dezember, bei dem er sich das Hüftgelenk brach. Er war bis zuletzt auf seine Unabhängigkeit und Selbständigkeit bedacht und lebte allein in der Münchner Wohnung, doch seine letzten Tage waren von großer Einsamkeit und nachlassender geistiger Präsenz überschattet. Er war vielen von uns älteren Autoren in Baden-Württemberg ein lieber, treuer, ständig rauchender, engagierter, wenn auch nicht immer einfacher Weggefährte. Zuletzt hatte er fast keine Kontakte mehr außer einer Putzhilfe und einer Betreuerin. Er litt unter seiner Armut und dem Fehlen adäquater Gesprächsspartner. Sogar das Geld fürs geliebte Kaffeehaus fehlte ihm zuletzt - und die Fähigkeit, Gedichte zu schreiben.
Fast alle Autoren aus Baden-Württemberg und etliche darüber hinaus brauchen bloß in ihren Bücherschrank zu schauen (ins Fach mit den Belegexemplaren eigener Publikationen), um seine Bedeutung zu ahnen: die Bedeutung eines Mannes, der 1930 in Frankfurt geboren, in Tübingen als "ewiger Student" der Fächer Germanistik und Philosophie hängen geblieben und als Verleger wirtschaftlich gescheitert, aber als Dichter geachtet und als Exempla-Macher geradezu eine Institution. Die einzige dieser Art in Baden-Württemberg, im Land der Dichter und Denker, wo man die Dichter und Denker heute gern der Sozialhilfe überlässt, wenn sie nicht Mainstream sind. Als Poet, als Autor drei Lyrikbände und vieler verstreut publizierter Einzelgedichte, hätte er weitaus mehr Leser verdient und ist zu Unrecht vergessen.

Vor vielen Jahren (zum 25. Bestehen der Exempla, also 1999) habe ich ein Feature über ihn und seine Arbeit bei SWR2 Wissen veröffentlicht. So ähnlich wie eine Würdigung liest sich allerdings in der Jubiläumsausgabe der EXEMPLA Literaturzeitschrift aus dem Jahr 2014 (Seite 20) ein Auszug daraus über die Gründungs-Situation der Zeitschrift, die Wolfgangs Lebenswerk war. Die Zeitschrift entstand in einer unruhigen Zeit extremen Bedarfs für Poesie und Diskurs. Heute wird dieser Diskurs von vielen ablegehnt, aber politisch wie auch sonst bleibt es mehr als zweifelhaft, ob man so eine Zeitschrift durch Facebook oder elitäre geförderte Zirkel wie den "Irseer Pegasus" jemals wird ersetzen können. Eines seiner Gedichte von 1999 möchte ich zitieren, weil es exeplarisch zeigt, wie luzide, aktuell, politisch und durchdacht seine Poesie war:

In den Maschinenzentren
Beschließen Stromstöße Bildungspläne
Kultur wird lieferbar
Dein Schlaf dir zugeteilt
Dein Koitus vorgeplant
Deine Leistung gemessen
Dein Wert bestimmt
Dein Tod vorausberechnet
Nach aufgestellten Kurvendiagrammen
Die Zukunft hat schon begonnen
Und morgen
Werden die Kistenbretter vernagelt sein
Über deinen Hoffnungen

- Was ich für eine offene Frage hate, so lange sich Kollegen an Wolfgang Rappsilber erinnern. Das Drama seiner letzten Jahre war wohl, dass er für eine neue Liebe seinen ganzen Freundes- und Bekanntenkreis im Raum Tübingen-Stuttgart aufgab. Hier hätte es ihm nicht an anregenden Gesprächen gefehlt - und wohl auch nicht an freundlichen Kollegen, die mal die Rechnung im Kaffeehaus übernehmen. Wolfgang war ein Intellektueller der aussterbenden Art - brillant und warmherzig, fernab des Mainstreams, aber konsequent und immer einer jener anregenden Gesprächspartner, die ihm zuletzt so sehr fehlten.