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Samstag, 17. Januar 2015

Der Altmeister und das junge Violingenie feiern Beethoven

Sir Roger Nortington und Patricia Kopatchinskaja mit RSO-Musikern beim Schlussapplaus in der Stuttgarter Liederhalle

Es war ein Fest, und die Leute wussten, dass es so kommen würde: Selten ist die Stuttgarter Liederhalle bei einem Abonnementkonzert des Radio-Sinfonieorchesters (RSO) Stuttgart so herrlich brechend voll wie sie es am 15. und 16. Januar war. Was nicht nur mehr, sondern auch deutlich mehr jüngere Menschen als sonst anlockte: Der Altmeister am Pult (und langjährige RSO-Chefdirigent) Sir Roger Norrington (GB), inzwischen 81 Jahre alt, und die Ausnahmegeigerin Patricia Kopatchinskaja aus Moldawien interpretierten gemeinsam Ludwig van Beethovens Violinkonzert DE-Dur op. 61. Ich habe dieses Konzert schon öfter gehört, aber noch niemals so wie an diesem Abend: ein ganz neuer Beethoven, generalüberholt, runderneuert, zum Niederknien - und teilweise ganz unglaublich slawisch.

Die Solistin beim Signieren
Ach, wie gründlich hatten wir vergessen, dass Beethoven lange Jahre in Wien gelebt und die KuK-Musiktraditionen einschließlich der ungarischen Zigeunergeiger so gut gekannt und viel von ihnen in seine Musik aufgenommen hat! Aber diese Kopatchinskaja, die hat uns daran mit einmaligen Charme, Witz und Temperament erinnert. Nach der Original-Klavierfassung des Komponisten hat sie eigene Kadenz-Arrangements gespielt, zum Teil die Rolle der Solistin zugunsten des großartigen Orchesters getreu der Partitur zurückgenommen, und dann aufgedreht, was das Zeug hielt. Nicht nur virtuose Oberstimme war sie als Solistin, sondern auch Inspiratorin der Geigen und Celli im Orchester in kammermusikalischen Einlagen voller Humor: Echo, Zwiesprache in bekannten, aber neu gewichteten Rollen.
Der Dirigent, er darf inzwischen sitzen, kennt Beethoven und seine "Pappenheimer" so gut, dass er nur wenig brauchte, um das Orchester mit wenigen, zumeist kleinen Gesten vom Pianissimo ins furiose Tutti zu geleiten. Sein berühmter "Stuttgart Sound" - die Streicher ganz ohne Vibrato, gerade heraus, historisch nah am Original und ohne Schnickschnack - war wie von selbst wieder da. Wenn dieser Dirigent die Arme hebt und Schwung holt, ist was gefällig! Irgendwie musste ich an einen alten chinesischen Kampfkünstler denken. Nur lächelt Norrington anders - ganz anders.
Standing Ovations, viele, oft laute Bravorufe und lang anhaltender Applaus waren der Lohn für so viel virtuose Spielfreude. Als die Solistin ihren Blumenstrauß an die Konzertmeisterin weitergab,als Zugabe "Ein kleines Irgendwas" von Heinz Holliger anstimmte und sich selbst mit Zirpen, Klopfen und Zupfen auf ihrem Instrument begleitete, tobte der Saal vollends. So viel Humor, so viel Spielwitz und so viel Liebe zur Neuen Musik hatte nach der kräftezehrenden Beethoven-Darbietung niemand mehr erwartet. Norringtion stand beseite und grinste sich eins wie ein großer Junge - von einem Ohr zum anderen.
Bloß ein Wermutstropfen, der aber mit den Musikiern nichts zu tun hat, fiel in den Kelch der Freude: Dass der SWR ein solches voraussehbar historisches Konzert live übertragen möchte, ist verständlich. Nur findet sich dafür im Sendeschema des Programms kaum je ein angemessener Platz. Die Folge: Die Pause ist viel zu kurz, das Publikum (allen voran Aurogrammjäger, die erst zur Signierstunde eingeladen waren und dann noch für ein Getränk und eine Brezel anstehen mussten), kommt sich dann gehetzt vor. Niemand möchte seinen Sekt oder Wein in Eile hinunterstürzen und einen Schluckauf riskieren. Die Gastronomie ist auf solche Pausensnacks angewiesen, der CD-Verkauf nimmt ebenfalls Schaden. Das Konzert findet ja wohl in erster Linie fürs zahlende Publikum und in zweiter fürs SWR2-Programm statt. Und da ist Live keine eigene Qualität. Es wäre wirklich besser, auf solche Live-Hetzjagden zu verzichten und dafür schneller mit dem Mitschnitt auf CD in den Läden zu sein. Dafür hätte das Publikum dann ausreichend Muße, sich zu stärken, seine Idole zu bewundern, mal für kleine Königstiger zu schleichen und eine CD für daheim auszusuchen. Na, wäre das kein Vorschlag?
Wie zum Ausgleich für so viel Freude spielte das RSO nach der Pause die etwas laute, pathetische, manchmal krachende Sinfonie Nr. 2 D-Dur von Jean Sibelius, die 1902 bei der Uraufführung durch die Philharmoniker von Helsinki gleich zur Unabhängigkeitsmusik zur Befreiung vom russischen Bären hochstilisiert wurde, gab dann einen ernsten, fast politischen Abschluss des Abends. Große Klangmalerei, orchestrales Theater mit Niveau, aber nichts im Vergleich zur ersten Hälfte des Konzerts. Die war einfach nicht zu toppen.



Sonntag, 11. Januar 2015

Nachlese von meinem Bücherbrett: Kurz-Tipps

Raoul Schrott / Arthur Jacobs: Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren. Carl Hanser Verlag, München 2011, 544 S., 29,90 €

Das ist eines der Bücher, deren Halbwertzeit deutlich über den im Verlagsrummel inzwischen üblichen 6.8 Monaten liegt. Der Autor hat dafür Jahre gebraucht, sein Ko-Autor und Freund auch, und ich beim Lesen mit dem Bleistift in der Hand und ohne Rezensionsauftrag zwei bis drei Monate Freizeit. Es hat sich aber trotz des finanziellen Verlustes gelohnt!
Warum uns Gedichte so unmittelbar ansprechen, zeigen hier ein Poet und ein Naturwissenschaftler aus ihrer Sicht - wohl begründet, durchaus anspruchsvoll und voller Überraschungen. Selten wurde klarer, wie blödsinnig die künstlliche Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, ja zwischen Poesie und Wissenschaft überhaupt ist! Wer das eine oder das andere recht verstehen will, braucht eben beides.
Ein grandioses Buch, dessen Würdigung erst in Zukunft angemessen stattfinden wird. Ein berührendes, ein tröstliches Buch für alle, die verstehen möchten, wie Wahrnehmung, ja Erkenntnis funktioniert. Unter anderem kann man nach dieser Lektüre nie wieder behaupten, Lyrik sein was für Doofe.

David J. Linden: High. Woher die guten Gefühle kommen. Verlag C.H. Beck, München 2012, 272 S., 19,95 €

Der Autor ist Professor der Neurowissenschaften an der Medizinischen Fakultät der Johns Hopkins Universität, aber einer der seltenen Forscher, die sich normal (allgeneinverständlich) ausdrücken können. Und er macht das Lesen zur Lust bei einem Thema, das von Lust handelt:
Lust ist der Kompass des Lebens, ganz gleich ob auf den Pfad der Tugend oder des Lasters. Denn auch schlechte Gefühle wie Unlust, Abscheu und moralische Urteile basieren auf dem Belohnungszentrum im Gehirn. Das zeigt uns, wo es lang geht. Nur bettet Linden diese Erkenntnis in zahlreiche Beispiele aus der neuesten Forschung ein.
Shoppen bis zu  Abwinken, guter Sex,eine gelungene Prüfung, ein Besuch im Spielcasijno, eine resante Skiabfahrt, Meditation, Tanzen bis zum Umfallen, ein guter Witz oder ein prima Aphorismus: All diese Dinge haben gemeinsam, dass sie über das Gewöhnliche hinaus gehen.Sie lösen im Gehirn Signale aus, die nach mehr rufen oder vor Wiederholung warnen. Künstliche Stimulanzien wie Alkohol, Nikotin oder Drogen fahren ebenfalls auf diesem Ticket. Also: Bitte lernen. Auch hier lohnt sich das.

Ralf Bönt: Das entehrte Geschlecht. Ein notwendiges Manifest für den Mann. Pantheon Verlag (Random House), München 2012, 120 S., 12,99 €

Der Feminismus hat als revolutionäre Bewegung, ja teils als Ersatzreeligion und Ideologie die Gesellschaft verändert. Hier kommt ein längst überfälliges Korrektiv für alle, die Feindbilder für nicht besonders fortschrittlich halten.
Ralf Bönt hat es unternommen, die Rolle des modernen Mannes zu hinterfragen, zu untergraben, teils auch auseinanderzunehmen. Wo ist unser Männerbild nicht bloß altmodisch, sondern auch widersprüchlich - trotz aller "modernität"? Dieses Buch ist ein Prädoyer für echte, nicht lediglich plakative Gleichberechtigung statt neuer Rollenklischees mit umgekehrten Vorzeichen, wie es viele Feministinnen gern hätten. Manche von denen glauben im Ernst, Frauen seien grundsätzlich intelligenter oder weniger aggressiv als Männer. Ha ha!
Schuldzuweisungen sind keine Lösung im Konflikt der Geschlechter. Das gilt für einzelne Beziehungen ebenso wie für ganze Gesellschaften. Frauenquoten haben noch nichts und niemanden nach vorne gebracht. Seilschaften von Männern für Männer übrigens auch nicht. Was wir stattdessen brauchen, beschreibt dieses Buch frech, respektvoll, kenntnisreich und mit viel Humor: eine selbstbestimmte Sexualität und die Befreiung aus alten wie neuen Erwartungsklischees.

Heike Wiese: Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht. Verlag C.H. Beck, München 2012, 280 S., 12,95 €

Heike Wiese ist Professorin für Deutsche Sprache in Potsdam und nimmt sich zu wichtig. Was sie an Slangs auf der Straße beobachtet, ist für sie schon ein neuer Dialekt. Himmel Hilf! Geht´s noch?
"Mjachst du rote Ampel", "Danach ich ruf dich an", "Was geht?": Solche und ähnlihe Kiezdeutsch-Sätze entstehen ständig, teils aus schlechtem Deutsch, teils als Abkünzung beim Simsen, teils als Gang-Slang zur Abrenzung gegen andere. Nur ein Dialekt ist das noch nicht, denn Dialekte haben vor allem einheitliche Merkmale bei Aussprache, Wortschatz und regionalen Sprachgrenzen. Und diese Grenzen sind es nicht zuletzt, die das Kiezdeutsch nicht respektiert. Es lebt als Slang in Berlin-Kreuzberg ebenso wie in Stuttgart, München, Dresden und Frankfurt. Aber es kommt in ganz unterschiedlichen Dialektfärbungen daher: Berlinerisch, Beyerisch, Hessich, Schwäbisch (oft gehört von eingewanderten Türken oder Russlanddeutschen beim Daimler am Fließband).
Dieses Buch also ist ein Flop. Höchstens gut für das Vorurteil des Jahres oder als schlechtes Beispiel. Nicht einmal zum Ofenbefeuern taugt es: Plastik-Umschlag.



Alberto Szpunberg: Die PIATOCK-AKADEMIE. Deutsch von Juana und Tobias Burghardt. Edition Delta, Stuttgart 2011, 188 S., 17,50 €

Viele Jahrhunderte pulsieren poetisch in diesem Buch aus Argentinien. Traum, Aphorismensammlung, Schatz globaler Volksweisheiten. Wer ist Piatock? Es gab ihn wirklich, er war vor gut 100 Jahren Perückenmacher in einem Schtetl Osteuropas. Wie er nach Lateinamerika kam und was da aus ihm wurde, ist eine wunderbare Lektüre.

Alberto Spunberg: Der Wind ist manchmal wie alle. Gedichte Spanisch-Deutsch, Übersetzt voin Juana und Tobias Burghardt. Edition Delta, Stuttgart 2008, 162 S, 17,50 €

Der Autor wurde 1940 in Buenos Airews geboren, aber sein Vater stammt aus Galizien und wanderte auf der Flucht vor antisemitischen Pogromen der Zarenzeit aus. Der Sohn Alberto lernet Jorge Luis Borges kennen, musste aber als Kommunist beim Militärputsch von 1966 ins Exil. Sit 19884 lebt er nach Stationen in Paris und Barcelona wieder in Buenos Aires. Seine Dichtung atmet globale Geschichte.


Anna K.: Total Bedient. Ein Zimmermädchen erzählt. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2012, 240 S., 16,99 €

Wer einmal zum Personal eines Hotels gehört hat, weiß mehr als gedruckt wird. Dieser schonungslos offene Bericht erzählt wenigstens einmal teilweise davon: Anmache, Ausbeutung, vorsintflutliche Arbeitsbedingungen, Ekelfunde beim Bettenmachen und Putzen, aber auch eine schöne Solidarität in der Kaffeepause.

Julya Rabinovich: Die Erdfresserin. Erzählung. Deuticke Verlag, Wien 2012, 240 S., 17,90 €

Die Autorin ist als Kind mit ihren Eltern aus Russland eingewandert uns lebt in Wien. Als sie den Rauriser Literaturpreis erhielt, erzählte sie mir: "Ich wurde in der Schule oft ausgelacht, weil ich nocht nicht so gut oder so schnell reden konnte wie die anderen. Da habe ich mir geschworen: Euch zeig ich´s noch!" Anfangs erschienen ihre Bücher nur bei kleinen alternativen Verlagen. Heute ist das alles schon nicht mehr wahr. Das Pummelchen hat´s allen gezeigt und schreibt hinreißend melancholisch-freche Bücher, meist über weibliche Einwanderer, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Autobiographische Bezüge sind rein zufällig und völlig unbeabsichtigt.

Hans Zengeler: Das letzte Geheimnis. Roman. VAT Verlag André Thiele, Mainz 2013, 203 S., 16,90 €

Der Antiheld Josef Bloch ist gezwungen, seine 86 Jahre alte Mutter bei sich aufznehmen, dabei reden die bieden schon lange kaum noch miteinander. Blco muss sein geliebtes Dachstudio mit der Tagtraumcouch an die kranke, bald sterbende abgeben. Ob er will oder nicht, muss er sich nun mit der Vergangenheit und seinem Verhältnis zu Vater und Mutter auseinandersetzen. Ein gut geschriebenes, psychologisch tiefgründiges Buch!

Iris Wolf: Halber Stein. Roman. Otto Müller Verlag, Salzburg 2012, 294 S., 21,- €

Die Autorin arbeitet im wirklichen Leben beim Deutschen Literaturschiv Marbach und erzählt in ihrem Romandebüt mit autobiografischer Färbung vom Ort ihrer Kindheit in der großartigen Landschaft von Siebenbürgen. Die Rückkehr ins Land der Donauschwaben zur Beerdigung der Großmutter wird für eine junge Frau nicht nur zur Begegnung mit einem Freund aus Kindertagen, sondern auch zum Weg dere Erkenntnis: Nostalgie funktioniert nicht. Vorbei ist vorbei, aber es gibt eine offene Zukunft.

Kathrin Aehnlich: Wenn Wale an Land gehen. Roman. Antje Kunstmann, München 2013, 253 S., 15,99 €

Roswitha Sonntag, frisch geschieden, reist nach New Yoek, um einen alten Jugendfreund zu besuchen. Lakonisch und heiter erzählt die Autorin von den lezten Jahren der DDR, von Träumen, Kunst, Zusammenhalt und dem harten Aufprall in der freien Realität. Aber auch von kleinen Fluchten und der Sehnsucht nach einem anderen Leben, die nicht ausstirbt.

Albert Cohen: Die Schöne des Herrn. Roman. Aus dem Französischen von Helmut Kossodo. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2012, 890 S., 24, 95 €

Kaum zu glauben: Dieses Buch galt einmal als Inbegriff der erotischen Literatur. Heute finde ich es geschwätzig und eitel, wenig aufregend und einfach überholt. Dennoch ist es ein Lehrstück der französischen, sprich der europäischen Literaturgeschichte: Solal, ein reicher Dandy und eitler Nichtsnutz, ist dank seiner Beziehungen Diplomat beim Völkerbund in Genf. Zu Beginn der 30er Jahre verführt er Ariane, die schöne Frau eines Kollegen. Aber was als alles verschlingende Leidenschaft beginnt, endet in Hautgout, Langeweile, Bosheit und Verzweiflung. Solal ist ein widerlicher Kerl, Ariane ein dummes, verwöhntes, naives Gör, beide pflegen einen eitlen Narzissmus der "besseren Gesellschaft" - das Ganze ist eine Schule der Vorurteile und gesellschaftlicher Überkommenheiten.

Dirk Mende: Miranda und die Wunderfeder - Eine unerhörte Reise mit Geschichten und Gedichten samt einem kleinen Stücklein, heißet: "Was denn die Liebe sei". Roman. Meyer Verlag Stuttgart, 386 S., 28 €

Da hat sich ein ehemaliger Germanistikprofessor im Ruhestand einen Lebenstraum erfüllt und einen Roman geschrieben. Aber nicht irgendeinen, sondern einen nach historischen Vorbildern (z.B. Simplizissmus, Don Quijote oder "Alice im Wunderland") und trotzdem ganz neu. Wortzauberei, Sprachspielerei und Lebensweisheiten gehen hier mit bibliographischen Kostbarkeiten eine zeitlose Verbindung ein - zum größten Vergnügen des gebildeten Lesers! Ein junges Mädchen findet eine Feder, die sie fort von den Eltern trägt, hinaus in die Welt der Literatur und der Märchen-Abenteuer, und die sich oft als große Hilfe erweist. Ein Buch über Liebe, Leben und Tod, über Gut uns Böse. Eine rappelvolle Puppenkiste bedeutender Phantasiegestalten öffnet sich, derb und zart, klug und deftig, komisch und traurig - und für alles und jedes gibt´s ein Zitat und eine Quelle: einfach wunderbar!

Isabel Allende: Mayas Tagebuch. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 447 S., 24,95 €

Höchstwahrscheinlich wieder mal autobiobgraphisch inspiriert, aber gut geschrieben und weniger kitschig als andere ihrer Bücher: Die Geschichte einer jungen Frau, die ihrer Großmutter eine Flucht aus einem total verkorksten Leben in Las Vegas verdankt. In Chile kann sie Drogen und andere fatale Abhängigkeiten hinter sich lassen, lernt ihren Vater kennen und macht die Entdeckung, dass Liebe nicht ewig dauern muss. Sie kommt einem Familiengeheimnis auf die Spur, das in die große Politik führt, und findet am Ende zu sich selbst. Berühmt (zu Recht) durch "Das Geisterhaus", aber dann als Vielschreiberin verrufen, hat sich Isabel Allende zu ihrem 70. Geburtstag wieder ein richtig gutes Buch geschenkt.

Hermann Kurz: Das freye Wort. Eine demokratische Streitschrift. Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen, 2013, 180 S., 18 €

Ein großer Essay über die Pressefreiheit, ein Ur-Grundrecht, kenntnisreich und engagiert eingeleitet vvon Heribert Prantl, dem Politik-Chef der Süddeutschden Zeitung und mit einem Nachwort des Grünen-Politikers Werher Ströbele. Kurz, eine Institution in Südwestdeutschland, Autor des bekannten Romans "Der Sonnenwirt" über den Verbrecher aus verlorener Ehre, war ein Aufklärer, ein Journalist, ein politischer Aktivist, der für seine Überzeugungen auch im Gefängnis saß. Nicht deswegen, sondern weil es ein prima Buch ist, möchte ich es nachdrücklich empfehlen. Wer vergessen hat, was wir gegen Fundamentalisten, Analphabeten und "Lügenpresse"-Schreihälse zu verteidigen haben, kann es hier nachlesen.

Manuela Reichart: Zehn Minuten und ein ganzes Leben. Erzählung. S. Fischer Verlag, Frankfurt / Main, 110 S., 14,99 €

Eiune Frau kiegt im Sterben, und ihr ganzes Leben zieht in kurzen Episoden und Momentaufnahmen noch einmal vor ihr auf. Der Leser kann treilnehmen, aber er muss sich auch einiges zumuten: Die Rivalin im Kindergarten, die ihr den ersten Freund ausspannt, der geliebte Hund, den die Eltern einfach einschläfern ließen, weil es eben nur ein Hund war. Oder die Schwester, mit der sie den Anfang teilte und mit der sie jetzt - nach Jahren der Distanz, eine tiefe Zuneigung verbindet. Die Autorin schärft den Blick aufs Wesentliche, wenn auch nicht im herkömmlichen Sinn für die "letzten Dinge" und einen geordneten Abgang. Was bleibt?

José Saramago: Das Memorial. Roman. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2012, 414 S, 17,99 €

José Saramago (1922 - 2010) stammt aus mehr als ärmlichen Verhältnissen und ist der Gegenbeweis für die These, Bildung habe in "bildungsfernen Schichten" keine Chance. Er stammt aus einer Landarbeuterfamilie, machte aber Abitur und arbeutete als Maschinenschlosser, technischer Zeichner und späüter Journalust bei diversen zeitungen. Als Romancier, Lyriker, Dramatikr und Essayist wurde er zur "grauen Eminenz seines Landes Portugal und erhielt 1980 den Nobelpreis für Literatur. Sein historischer Roman "Das Memorial schildert eindrücklich die Leiden der einfachen Leute für den Bau des riesigen Klosters in Mafra, das König Joáo V. aus Dankbarkeit für einen Thronfolger bauen ließ. Der verkrüppelte Arbeiter Baltasar und die übersinnlich begabte Blimunda finden ihre Liebe und werden am Ende Opfer der Inquisition, weil sie "anders" sind.

Jabbour Douaihy: Morgen des Zorns. Roman. Hanser Verlag, München 2012, 350 S., 24,90 €

Zwanzig Jahre, nachdem ihn seiner Mutter in die amerikanische Emigration geschickt hatte, kehrt Elia in sein Heimatdorf in den Bergen des Libanoin zurück. Hier war sein Vater noch vor Elias Geburt bei einem Massaker ums Leben gekommen, dem der Sohn nun nachgeht. Bei seinen Recherchen befragt er Nachbarn, Freunde und ehemalige Feinde seines Vaters. Doch jeder erzählt eine andere Geschichte von jenem "Morgen des Zorns". Eigentlich, zu diesem Schluss kommt der Leser, war es nur der vorhersehbare Gewaltausbruch einer Gesaellschaft aus Macho-Clans war, die im Wahlkampf "Demokratie" spielen und keine Ahnung davon haben. Ein sehr orientalisches ein sehr deprimierendes Buch, weil es tief in seelische Abgründe und mafiösen Strukturen so genannter "Traditionen" blicken lässt. Fazit: Gewalt und Fremdenfeindlchkeit sind nicht islamisch, sie sind orientalisch.


Vladimir Vertlib: Schimons Schweigen. Roman, im Deuticke Verlag bei Paul Zolnay, Wien 2012, 269 S., 17,90 €

Nach 30 Jahren kommt ein Jude zurück nach Israel, nachdem sein Vater und dessen Freund Schimon 30 Jahre lang nicht mehr miteinander geredet haben. Einst kämpften sie gemeinsam im Untergrund, nun ist der Vater tot und Schimon, der viele Jahre in einem sowjetischen Straflager saß, lebt in Jerusalem. Doch er redet immer noch nicht. Was ist damals passiert? Mit viel Selbstironie und Humor lässt Vertlib sein Alter Ego von einer Lesereise berichten, die den erfolgreichen Autor quer durch Israel führt und auf der Suche nach seinen Wurzeln berührende, aber auch dramatische Begegnungen hat. Vladimie Vertlib wurde 1966 in Leningrad geboren, emigrierte 1971 mit einer Familie nach Israel, übersiedelte 1981 nach Österreich und lebt als freier Schriftsteller in Salzburg und Wien. Wenn einer überzeugend und himorvoll von der Sehnsucht vieler Juden nach Normalität und von ihren kollektiven Traumata erzählen kann, dann ist es dieser kluge, sanfte Mann mit dem abgründigen Humor: sozusagen ein Profi-Migrant.



Freitag, 2. Januar 2015

Tolles Silvesterkonzert mit dem RSO Stuttgart und Karen Gomyo

Das Radiosinfonieorchester Stuttgart des SWR spielte am 31. Dezember ein furioses Silvesterkonzert mit der kanadischen Violonvirtuosin Karen Gomyo. Auf dem Programm im Hegelsaal der Stuttgarter Liederhalle (ja, hier wurde der Philosoph Hegel geboren und wird auch von Musikfreunden geehrt) stand auf Anhieb recht Unterschiedliches: die Ouvertüre zu Mozarts "Hochzeit des Figaro", die Romeo-und Julia-Fantasie von Tschaikowski, die Carmen-Fantasie von Sarasate nach Bizet, "Die Lerche steigt auf" von Ralph Vaughan Williams, Tänze von Leonard Bernstein und die Ouvertüre zur "Fledermaus" von Johann Strauß. Phantastische Musik in einem schön angelegten Spannungsbogen von Alt und Neu. Das Orchester war ebenso gut aufgelegt wie der junge, temperamentvolle Gastdirigent Gustavo Gimeno. Die Figaro-Ouvertüre beschleunigte er allerdings rockig bis an die Grenzen des Zulässigen.

Zum Ausgleich kam Peter Tschaikowskis Ballettsuite aus "Romeo und Julia" romantisch und gefühlvoll daher. Die kanadische Violinvirtuosin mit den indianisch wirkenden Gesichtszügen kann temperamentvoll ebenso gut wie verträumt-elegisch. Sie spielte souverän und stilsicher die Carmen-Fantasie des Spaniers Sarasate, die spanischer ist als die Oper des Franzosen Bizet, mit deren Melodien sie spielt.
Nach der Pause kam das poetische "The Lark Ascending" (Die Lerche steigt auf" von Ralph Vaughan Williams (1872 bis 1958). Aus den dämmrig-nebligen Niederungen der englischen Provinz schwang sich dieses superbe Stück spätromantischer musikalischer Naturdichtung in höchste tonale Höhen. Fast nur von Streichern und wenigen Bläsern begleitet (eindrucksvoll im Dialog: Klarinette und Querflöte), kann sich die ganze Kraft und Vielfalt der Geige darin entfalten.
Ein bisschen Rumtata zum Schluss muss einfach sein. Die Leute hatten auch ihren Spaß an Leonard Bernsteins Tanzstücken, bei denen sich das Sinfonieorchester als Big Band produzieren durfte, und natürlich dem Wiener Silvesterknaller "Die Fledermaus". Denn da steckt ja schon die Ouvertüre voller Ohrwürmer. Das Publikum war begeistert und applaudierte mehrere Zugaben herbei. So kamen wir noch vor dem großen Ansturm aus der Garage. Super!