SWR2 Buchkritik
Karin Kiwus: „Das Gesicht der Welt“, Gedichte
Verlag Schöffling & Co,
Frankfurt a.M., 349 Seiten, 22,95 €
Das lyrische Werk von Karin Kiwus ist relativ schmal:
Vier Bände sind die ganze Ernte eines Poetenlebens. Doch die haben
es in sich. Das zeigen nicht nur Teilveröffentlichungen wie 1981
unter dem bescheidenen Titel „39 Gedichte“ als Reclam-Bändchen,
obwohl nur wenige lebende Autoren die Ehre erfahren, hier
veröffentlicht zu werden. Dass es dafür gute Gründe gibt, zeigt
der neue Sammelband „Das Gesicht der Welt“.
70 wurde sie am 9. November 2012, es gibt keinen
offensichtlichen Anlass für dieses Buch. Aber überzeugende Gründe,
das Lebenswerk von Karin Kiwus im Zusammenhang vorzustellen. Für
eine studierte Publizistin, Germanistin und Politikwissenschaftlerin
mischt sie sich wenig in aktuelle Debatten ein. Ihr erster Lyrikband
„Von beiden Seiten der Gegenwart“ erregte 1976 Aufsehen. Der
zweite hieß 1979 „Angenommen später“ und bestätigte ihren
künstlerischen Beobachterstatus. Es ging um kritisches Nachdenken
über die Umwelt, vorsichtige Überprüfung persönlicher
Erfahrungen, Ängste und Zweifel. Das allererste Gedicht, „Übung
in freier Malerei“ beginnt so:
Was wir hier zu Papier bringen können
ist natürlich nur eine Skizze
ein erster Entwurf...
Ich zum Beispiel als eine Möglichkeit
male mir das Abbild einer Wirklichkeit aus
in der ich mich verlieben könnte
in die Narben eines Pfirsichkerns
um ihn einzuspeicheln zu bebrüten
ausbrechen zu lassen
und zu mir zu kommen unter seinen blühenden Zweigen
in einem durchgehend geöffneten Park der Stadt
Karin Kiwus verzichtet auf Satzzeichen, steht zum
lyrischen Ich und greift große Traditionen in einem neuen Tonfall
auf: frech statt feierlich, nachdenklich oder witzig, manchmal
sarkastisch. Sie steht auch zu der Kunst, Wörter schöner als
Wörter klingen zu lassen, um etwas darüber Hinausweisendes
mitzuteilen.
Karin Kiwus ist eine Berliner Pflanze. Bis auf ein paar
Jahre mit Lehraufträgen und als Verlagslektorin leitete sie die
Abteilung Literatur der Berliner Akademie der Künste. Poesie ist bei
ihr immer auf dem Sprung, ein Provisorium. Manchmal auch ein Flirt
mit dem Leser:
...Hallo du
Wanderer warum
bist du weitab und so spät
noch unterwegs warum
starrst du mich so an
ich gefalle dir wohl
Dieser offene, nur scheinbar kokette Blick richtet sich
nicht nur nach Innen, sondern oft auch auf ein Gegenüber, auf
Bildungsbürgertum, Beziehungsfragen, Krankheit und Tod. Da kippt die
Erkundung des Körperlichen von der Erotik ins Medizinische und vom
Medizinischen ins Existenzielle:
...deine kleine verschwindende Stimme nun
komm schon gib einen Klagelaut
gar keine Herztöne heute nur
Schrittmacher wieder der unangleichbaren Zeit
Die zweite Hälfte des Buches kehrt zurück zu
klassischen Zeichensetzung, der Ton wird dunkler. Die Kapitel „Das
chinesische Examen“ und „Nach dem Leben“ entsprechen ihrem
dritten und vierten Gedichtband, erschienen nach langer
Publikationspause 1992 und 2006. Da finden sich Einflüsse von Kafka,
Dalí, Ionesco und Beckett. Meditativ ist diese Poesie, zuweilen
surrealistisch, absurd. Oft geht es ihr um die Umwandlung von
Naturbildern in Erkenntnis, etwa im Titelgedicht „Das Gesicht der
Welt“ für den deutsch-syrischen Maler Marwan:
...In der Dämmerung erst, im aufkommenden
Wind, wenn die Füchse bellen, im schimmernden
Tau über den Hügeln kehren Linien, Farben
und Kraft zurück. Hier auf einmal
aus dem Nichts stürzt höchste Anwesenheit.
Sie verwendet große Begriffe, doch gleichsam „geerdet“,
spricht von einer „frei erfundenen Offenbarung“ oder von einer
Jungfrau Maria, die nichts anfangen kann mit der Botschaft des
Engels. Wenn sie den hohen Ton wieder findet, dann gebrochen und
respektlos. Das ist große Dichtung. Dafür hat sie den
„Orphil“-Lyrikpreis der Stadt Wiesbaden erhalten. Diese mit 10
000 EURO dotierte Auszeichnung wurde ihr am 6. Juni übergeben.
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